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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2003, Seite 18

Brasilien - Sozialliberale Rutschbahn

Sozialliberale Rutschbahn

Nach den hundert ersten Regierungstagen kehrt Lula seinem bisherigen Engagement den Rücken und lanciert eine erste Serie liberaler Reformen.

Ein halbes Jahr nach der Amtsübernahme Lulas als Präsident der Republik fragen sich manche, ob im Gegensatz zu den Wahlparolen, die einen Sieg der Hoffnung über die Angst versprachen, die Angst nicht bereits die Hoffnung besiegt hat.
Die Mehrheit der Kommentatoren ist sich einig: Die Momente des Bruchs überwiegen ganz augenscheinlich die Kontinuität der Politik Lulas bezüglich der gestern noch so kritisierten Politik Fernando Henrique Cardosos. Heftige Ablehnung seitens der Parlamentarier der Arbeiterpartei (PT) zwang ihn dazu, die formelle Entlassung der Zentralbank in die Unabhängigkeit aufzuschieben, doch das Finanzkapital hat mit der Nominierung von Meireles an die Spitze der Zentralbank das Wesentliche ihrer Forderungen erreicht. Zusammen mit Wirtschaftsminister Palocci, der in Fragen der Finanzpolitik als »Orthodoxer« gilt und, koste es was es wolle, vom Ziel einer Inflationsrate nicht über 8% besessen ist, ist er ein Mann ihres Vertrauens.
Die Regierung hat somit die Lobeshymnen der Weltbank und des IWF redlich verdient; IWF- Direktor Horst Köhler ließ es sich nicht nehmen, Lula sogar als »den Staatsmann des 21.Jahrhunderts« zu bezeichnen. Tatsächlich wird die Regierung von einer Art Koalition der nationalen Einheit unterstützt, die nach rechts noch weiter offen ist als während des Präsidentschaftswahlkampfs.
Auf sozialer Ebene sind die Reformen weitaus zurückhaltender. Das Programm »Fome Zero« (Null Hunger), das während des Wahlkampfs das Aushängeschild der PT war, läuft mangels Finanzierungsmitteln auf Sparflamme. Gleiches gilt für die Lohnpolitik und die Agrarreform. Man kann halt nicht einerseits die Finanz- und Handelsüberschüsse dazu einsetzen, den Schuldendienst auf Heller und Pfennig zu bezahlen, und andererseits die sozialen Erwartungen eines Landes befriedigen, das zu denen mit der größten sozialen Ungleichheit in der Welt gehört.
Der Entwurf für eine Rentenreform ist ein Beispiel für diesen explosiven Widerspruch; die ihr zugrunde liegende allgemeine Logik ähnelt den »Reformen« in anderen Ländern wie bspw. in Frankreich der von Raffarin aufs Haar. Hier wie da geht es um die Verlängerung der Dauer der Beitragszahlungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst um sieben Jahre. Die Reform hat die Unterstützung aller Gouverneure der Bundesstaaten erhalten — der rechten wie der linken; sie gehört zu dem Typ von Reformen, die durchzusetzen Cardoso sich in seiner achtjährigen Amtszeit vergeblich bemüht hat.
Es ist das klassische Szenario: Mitte-Links setzt die Maßnahmen des sozialen Rückschritts durch, die eine soziale Explosion hervorrufen würden, wenn die Rechten sie durchsetzten.
Der sozialliberale Kurs der Regierung hat unter den sozialen Bewegungen wie auch in den Reihen der PT Enttäuschung und Widerstand hervorgerufen. Die Gewerkschaftszentrale CUT steht der Rentenreform ablehnend gegenüber. Die Bewegung der Landlosen (MST) mobilisiert, und in einigen Bundesstaaten gab es bewaffnete Zusammenstöße mit Bütteln der Großgrundbesitzer. Kritik wird auch unter Intellektuellen laut, bei linken Ökonomen und unter den Parlamentsabgeordneten der PT.
Um eine solche politische Wende und die daraus resultierenden volksfeindlichen Maßnahmen durchzusetzen, muss Ordnung in den Reihen der Partei herrschen und diese in einen Transmissionsriemen der Regierungspolitik verwandelt werden. Das ist der Sinn der Disziplinarmaßnahmen, die die PT-Leitung angekündigt hat. Ende Mai hatte sie mit 13 gegen 7 Stimmen beschlossen, drei Abgeordnete (Heloisa Helena von der Strömung Democracia Socialista, Luciana Genro und João Batista Araujo Baba vor eine Disziplinarkommission zu zitieren (die dem Zeitgeist entsprechend Ethikkommission getauft wurde) und sie mit sofortiger Wirkung aus der Parlamentsfraktion auszuschließen, weil sie einen Text aus dem Jahre 1987 verteilt hatten, in welchem Lula Punkt für Punkt die Maßnahmen angriff, die er heute anwendet.

Hexenjagd gegen radikale Linke

Heloisa Helena hatte sich schon vorher geweigert, Meireles zum Chef der Zentralbank und den mit der Mafia Nordostbrasiliens verbundenen Oligarchen Sarney zum Vorsitzenden des Senats zu wählen. Die drei getadelten Abgeordneten haben erklärt, dass die geplante Rentenreform im Gegensatz zur Orientierung des letzten Parteitags der PT im Dezember 2001 und im Gegensatz zur bisherigen, gegen die Pläne Cardosos gerichteten Politik steht; sie könnten deshalb in ihrer gegenwärtigen Form nicht dafür stimmen.
Die Ausschlussdrohung, die derzeit über ihnen schwebt, trägt die Züge einer Hexenjagd. Ihre Bedeutung ist klar und grundsätzlicher Art: Es handelt sich darum, ob die PT als Partei ihre Aktions- und Redefreiheit gegenüber der Regierung bewahren kann oder ob sie — um den Preis ihrer sozialen Glaubwürdigkeit — zu einer bloßen Vermittlerin von Regierungsentscheidungen in die Zivilgesellschaft wird.
Es haben sich bereits zahlreiche bedeutende Stimmen gegen den Prozess gewandt, der den »drei Radikalen« gemacht wird, darunter der Senator Eduardo Supplicy, Plínio Sampaio (ein Vertreter des mit der Kirche verbundenen Teils der Partei), der Journalist Emir Sader, der Soziologe Chico de Oliveira und der Philosoph Paolo Arantes. Nach einer Umfrage, die von der großen Zeitung Folha de São Paulo Ende Mai durchgeführt wurde, betrachteten 57% der Befragten die Position der »Radikalen« als legitim und treu gegenüber jener, die Lula 1987 verteidigt hatte. Nur 8% waren der Meinung, dass sie ihre Grenzen überschritten hätten.
Gleichzeitig wandte sich die prominente Ökonomin Maria da Conceição Tavares gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung, und verschiedene Persönlichkeiten stellten die Regierungspolitik hinsichtlich der geplanten amerikanischen Freihandelszone ALCA in Frage.
In diesem Zusammenhang ist das gegen die »drei Radikalen« angestrengte Ausschlussverfahren ein Test. Heloisa Helena hat vor kurzem erklärt, dass sie nicht vorhat, ihrer Position zur Rentenreform abzuschwören, weil sie, nach ihren Worten, »lieber zur Tendenz Jeanne d‘Arc als zur Tendenz Galileo« gehöre.
Alle, die in Brasilien eine Klassenpartei haben entstehen sehen und diese unterstützt haben, werden über die Geschwindigkeit, mit der deren Führung ihren Prinzipien und ihrem Engagement den Rücken kehrt, bestürzt sein. Sie sind geradezu moralisch und politisch empört über die Säuberungsdrohungen gegen radikale Aktivisten und sie werden es nicht versäumen, ihnen ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen.

Daniel Bensaïd/François Sabado

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