SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2003, Seite 24

Kontinuität und Bruch

Zur Genealogie der nazistischen Gewalt

Auschwitz als Synonym für die nationalsozialistische Gewalt- und Terrorherrschaft steht im Zentrum nicht nur, aber vor allem von Deutschlands kollektivem Gedächtnis. Mehr denn je erforschen Hunderte und Tausende junger und alter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die tatsächlichen Vorgänge und Zusammenhänge des deutschen Faschismus. Und mehr denn je ist öffentlich umstritten, welche Lehren aus der Geschichte zu ziehen sind und wie es sich zu erinnern gelte. Eine der grundlegenden Fragen ist dabei die nach dem historischen Ort des Hitlerfaschismus: Ist Auschwitz ein Synonym für Einzigartigkeit in der Geschichte oder ein typisches Beispiel für die Verbrechen der Zivilisation? Haben damalige Gegner den Faschismus zumeist als einen Rückfall in die vormoderne Barbarei interpretiert, so dominiert heute eher die Betonung der historischen Einzigartigkeit.
In seinem soeben im Neuen ISP Verlag erschienenen jüngsten Werk versucht der bekannte französische Politikwissenschaftler Enzo Traverso, der Genealogie des Naziterrors mit einer originellen Mischung beider Ansätze näher zu kommen. Traverso wendet sich sowohl gegen eine ausschließlich auf die »Shoah« zentrierte Geschichtsinterpretation, wie auch gegen eine Auflösung der historischen Einzigartigkeit in den Kontext einer größeren europäischen Geschichte und reflektiert vor allem die in der europäischen Moderne herangewachsenen materiellen und mentalen Rahmenbedingungen des Judenmords. In fünf Kapiteln untersucht er die Modernisierung und Serialisierung des industrialisierten Tötens (in der SoZ 25/2000 veröffentlichten wir hier zu einen ausführlichen Essay Traversos), des imperialistischen Kolonialismus und der fordistischen Kriegsführung, sowie den faschistischen Klassenrassismus und die spezifische Rolle des Antisemitismus. »Die Singularität des Nationalsozialismus liegt also nicht in seinem Gegensatz zum Westen, sondern in seiner Fähigkeit, eine Synthese aus den verschiedenen Formen der Gewalt zu finden.«
Im Folgenden veröffentlichen wir einen zusammenfassenden Auszug aus dem Werk, das Saul Friedländer »höchst originell, provokativ und durchweg brillant« nannte.

Diese genealogische Studie sieht die Gewalt des Nationalsozialismus im Rahmen einer longue durée (langfristige Entwicklung, Braudel) in der europäischen Geschichte, aber sie leitet sie nicht als eine Art unausweichlicher Automatismus aus jener Geschichte ab, als gäbe es eine unerbittliche und fatale Kausalität. Wenn Auschwitz auch ein Produkt der westlichen Zivilisation war, so wäre es doch extrem vereinfachend, darin ihr natürliches Ergebnis sehen zu wollen. (Schon eher wäre Auschwitz als ihr pathologischer Ausdruck zu interpretieren.)
Es geht mir vielmehr darum, die Verkettung von Elementen, die die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten möglich gemacht haben, herauszuarbeiten. Das Verbrechen hat stattgefunden und erhellt nun die mentale Landschaft, in der es geschehen, indem es uns wertvolle Elemente an die Hand gibt, um — gleich einem Detektiv bei seinen Nachforschungen — die Opfer, den Mörder und seine Komplizen, die Beweggründe und die zum Verbrechen verwandten Waffen zu sichten. Dieses »Paradigma der Indizien« wurde hier bei der Untersuchung der »Spuren« (die von einer blind machenden Sichtbarkeit sind) verwandt, die der Nationalsozialismus zurückgelassen hat.
Obgleich die Arbeit der Identifizierung der Opfer (vor allem Juden, sodann Sinti und Roma, Slawen und Antifaschisten), des Mörders (Nazideutschland) und seiner Komplizen (Europa) umfangreich war, wurde sie seit langem bewerkstelligt. Weit umstrittener war hingegen die Bestimmung der Motive (Rassismus, Antisemitismus, Eugenik, Antikommunismus) und der zum Verbrechen verwandten Waffen (Krieg, Eroberung, industrielle Vernichtung): Obwohl sie vom Nationalsozialismus auf originäre Weise neu interpretiert wurden, gehören diese Beweggründe und Waffen zum Kontext der westlichen Zivilisation im weitesten Sinn des Begriffs.
Einige »Spuren«, die sich aus Hitlers Diskurs ergeben (die Rassenbiologie), sind von der Historiografie einer vertieften Analyse unterzogen worden. Andere, die eher zu seiner »mentalen Ausstattung« gehören, haben bislang nicht die nötige Aufmerksamkeit gefunden. Die Vorstellung, dass die Zivilisation die Eroberung und Vernichtung der »minderwertigen« oder »schädlichen Rassen« erforderlich mache oder die instrumentelle Konzeption der Technik als Mittel zur organisierten Vernichtung des Feindes sind von den Nazis nicht erfunden worden, sie stellen einen »mentalen Habitus« Europas seit dem 19.Jahrhundert und der Entstehung der Industriegesellschaft dar.
Die in dieser Studie skizzierte Genealogie betont die Zugehörigkeit der Gewalt und der Verbrechen des Nationalsozialismus zum gemeinsamen Fundus der westlichen Kultur. Sie macht aus Auschwitz nicht das endlich entschleierte tiefere Wesen des Westens, sie zeigt aber, dass es eines ihrer möglichen Produkte und in diesem Sinn einer ihrer legitimen Söhne ist.
Die Singularität des Nationalsozialismus liegt also nicht in seinem Gegensatz zum Westen, sondern in seiner Fähigkeit, eine Synthese aus den verschiedenen Formen der Gewalt zu finden. Der Zweite Weltkrieg war der Zeitpunkt des Zusammenfließens aller aufgefundenen Elemente dieser genealogischen Suche. Er wurde als Kampf der Ideologien, Zivilisationen, »Rassen«, kurz als »Weltanschauungskrieg« konzipiert. Eugenische Obsessionen, rassistische Umtriebe, geopolitische Ziele und ein ideologischer Kreuzzug konvergierten in einer einzigen Welle der Zerstörung.
Die Juden, die als Verkörperung der Zivilisation, als die Sowjetunion führende Gruppe, als Anstifter des Kommunismus, als lebende Antithese zum »Lebensraum«, als die arische Rasse zerstörender Bazillus, als Hirn der internationalen kommunistischen Bewegung angesehen wurden, fanden sich im Zentrum eines titanenhaften Eroberungs- und Vernichtungskriegs und zogen so alle Gewalt des Nationalsozialismus auf sich.
Die Guillotine, das Schlachthaus, die fordistische Fabrik, die rationelle Verwaltung ebenso wie der Rassismus, die Eugenik, die Kolonialmassaker und das Massensterben des Ersten Weltkriegs hatten zuvor das gesellschaftliche Universum und die mentale Landschaft, in denen die »Endlösung« erdacht und ins Werk gesetzt wurde, geschaffen. Sie haben für die technischen, ideologischen und kulturellen Vorbedingungen gesorgt, indem sie den anthropologischen Kontext entwickelt haben, in dem Auschwitz möglich geworden ist. Alle diese Elemente standen im Zentrum der westlichen Zivilisation und hatten sich im Europa des industriellen Kapitalismus im Zeitalter des klassischen Liberalismus entfaltet.
Hitler verfügte bis 1941 wahrscheinlich nicht über einen genau bestimmten Plan der Vernichtung der Juden, und die »Endlösung« war das Ergebnis einer permanenten Interaktion zwischen seinem radikalen Antisemitismus und den Umständen des Krieges. Diese Interaktion bestimmte die Etappen, die Formen und die Mittel der Deportation und der Tötung der Juden.
Aber auch wenn es keinen zentralen Plan gab, verfügte der Nationalsozialismus über zahlreiche Modelle, denen er auch folgte. Dabei handelte es sich sowohl um ideologische (Rassismus, Eugenik) wie politische (italienischer Faschismus) und historische (Imperialismus und Kolonialismus) Modelle, aber auch um technische und soziale (die Rationalisierung der Formen der Herrschaft, der totale Krieg, die serialisierte Vernichtung usw.), die dem Kontext der europäischen Zivilisation entsprangen.
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Singularität des Völkermords an den Juden weniger als ein »beispielloses« Ereignis, also, wie Raul Hilberg schrieb, ein Ereignis ohne historisches Vorbild: »Es hatte in Ausmaß und Gestalt nie zuvor etwas Vergleichbares gegeben«, sondern eher als einzigartige Synthese einer breiten Palette von Herrschafts- und Vernichtungsweisen, die im Verlauf der modernen Geschichte des Westens bereits ausprobiert worden waren. Eine einzigartige Synthese, und deswegen radikal und so schrecklich neu, dass sie für die Zeitgenossen unvorstellbar und häufig unverständlich gewesen ist.
Diese Verschmelzung von historischen Erfahrungen und Bezugsmodellen, auf die man sich manchmal offen bezog, oder die nur untergründig, ja unbewusst vorlagen, verweist in unserem retrospektiven Blick auf die historische Genealogie des Nationalsozialismus. Man könnte ohne weiteres behaupten, dass es einen deutschen »Sonderweg« gegeben habe, doch sollte er dann nicht im nationalen Einigungsprozess unter Führung der preußischen Krone, sondern im Naziregime ab 1933 gesucht werden; er betrifft nicht die Ursprünge, sondern den Endpunkt des Nationalsozialismus.
Die etwas schneidige Behauptung von Hilberg ruft daher eine Beobachtung hervor, die wir in den Worten von Marc Bloch formulieren wollen. Der Begründer der Zeitschrift Annales erkannte im europäischen Feudalismus eine Gesellschaftsstruktur, die »sicher das ursprüngliche Gepräge von Zeit und Umgebung« in sich trug, aber auch in Erinnerung rief, dass man bei »einem Schnitt durch die vergleichende Geschichtsbetrachtung« erkennen konnte, dass mehrere ihrer Züge auch im traditionellen Japan aufgetreten waren. Er gelangte so zur Schlussfolgerung, dass der Feudalismus kein »Ereignis [war], das sich in der Welt nur einmal ereignet hat«.
In der Nachfolge von Bloch ließe sich sagen, dass, auch wenn die »Endlösung« sicherlich die »Ausprägung einer Zeit und eines Milieus« in sich barg, einige ihrer Charakteristiken schon in anderen Eroberungskriegen, anderen Ausrottungsfeldzügen, anderen konterrevolutionären Wellen vorgekommen waren. Jene Genealogie, müssen wir hinzufügen, darf keinesfalls in einem teleologischen Sinn verstanden werden. Roger Chartiers Bemerkung über die Französische Revolution, dass sie natürlich (geistige, kulturelle und andere) Ursprünge gehabt habe, dass aber »ihre eigentliche Geschichte sich darin nicht eingeschlossen findet«, gilt ganz und gar auch für den Nationalsozialismus.
Wenn die industrielle Vernichtung auch die Fabrik und die rationelle Verwaltung voraussetzt, so heißt das nicht, dass sie sich unvermeidlich daraus ergibt, noch dass das kapitalistische Unternehmen ein mächtiges Todeslager ist oder dass in jedem Beamten ein Eichmann schlummert. Wenn der Staat bei der »Endlösung« auch die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, besonders in der Chemie, auswertete und sich auf Beiträge zahlreicher Mediziner, Anthropologen und Eugeniker berufen konnte, zeigt dies nur die zerstörerischen Möglichkeiten der Wissenschaft, reduziert aber die Medizin noch lange nicht auf die Funktion einer Wissenschaft des Todes. Wenn bei den kolonialen Massakern auch Vernichtungspraktiken Anwendung fanden, die im Nationalsozialismus ebenfalls praktiziert und weitergeführt wurden, dann besteht deswegen noch lange keine Kausalbeziehung zwischen den beiden.
Doch ist diese Feststellung nicht sonderlich beruhigend. Denn nichts schließt aus, dass andere Synthesen, die genauso oder vielleicht noch zerstörerischer sind, sich in der Zukunft noch herauskristallisieren können. Die Abwürfe von Atombomben auf die Städte Hiroshima und Nagasaki zeigen, dass die Gegenaufklärung keine notwendige Prämisse für technologische Massaker sein muss. Sowohl die Atombombe wie die Vernichtungslager der Nazis gehören zum »Prozess der Zivilisation«, in dem sie keine Gegentendenz oder Verirrung darstellen (wie das Norbert Elias zu glauben schien, für den der Völkermord an den Juden eine Tendenz zur »Entzivilisierung« und zur »Wildheit der primitiven Zeitalter« bezeichnete), sondern Ausdruck einer ihrer Möglichkeiten, eines ihrer Gesichter, ein in ihr mögliches Abgleiten sind.
Dass es keine Kausalität gibt, bedeutet auch nicht, dass man alles auf zufällige und rein formale Affinitäten reduzieren könnte. Die Architekten der Nazilager wussten ganz genau, dass sie Todesfabriken bauten, und Hitler verbarg nicht, dass die Eroberung von »Lebensraum« die Kolonialkriege des 19.Jahrhunderts weiterführen sollte (was sie in seinen Augen rechtfertigte). Zwischen den Massakern der imperialistischen Eroberungen und der »Endlösung« gibt es nicht nur »phänomenologische Affinitäten« oder entfernte Analogien. Dazwischen besteht eine historische Kontinuität, die aus dem liberalen Europa des 19.Jahrhunderts ein Laboratorium der Gewalttaten des 20.Jahrhunderts und aus Auschwitz ein authentisches Produkt der westlichen Zivilisation machte.

Enzo Traverso

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