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Im ersten Moment fühlt man sich in den Wilden Westen zur Zeit des Goldrauschs versetzt. Quasi über Nacht wuchs
eine Zeltstadt für über 200000 Menschen aus dem Boden. Es gibt kein fließendes Wasser, und die Versorgung mit dem bei
Temperaturen von über 40 Grad im Schatten lebenswichtigen Nass erfolgt aus Tankwagen, vor denen sich beeindruckende Warteschlangen bilden.
Oder aus Mineralwasserflaschen, die mancherorts überteuert verkauft, an anderer Stelle aber auch von der Feuerwehr kostenlos verteilt werden.
Tagsüber herrscht sengende Hitze auf dem Larzac, dem Kalkplateau im südlichen
Zentralmassiv, während es nachts ziemlich kühl werden kann vor allem für die zahlreichen Menschen, die kein Zelt haben und unter
freiem Himmel schlafen. In einem eigens errichteten Krankenhauszelt werden Sonnenstiche und -brände behandelt, insgesamt 1200 Personen nehmen die
Dienste des 500-köpfigen Teams freiwilliger Ärztinnen und Helfer in Anspruch. Überall erinnern Schilder daran, dass es streng verboten ist,
wegen der extrem erhöhten Waldbrandgefahr Feuer zu machen. »Seid Feuer und Flamme ihr, aber nicht das Hochplateau« steht da
mahnend.
Die Motive, hierher zu kommen, sind vielfältig und variieren zwischen
Atomkraftgegnerinnen, kämpferischen Bauern, Lehrerinnen, Gewerkschaftern, Hippies, aber auch politischen Theatergruppen, ein paar jungen Punks und
zahllosen Familien mit Kindern. Die große Mehrzahl dürfte sich politisch links oder linksradikal verorten, manche sind auch aus Neugier
gekommen. Anziehungskraft hat sicher auch das gute Kulturprogramm mit riesigen Freiluftkonzerten in der näheren Region ausgeübt. Die
Teilnehmenden kommen aus ganz Frankreich, vereinzelt auch aus Belgien und der Schweiz. 50 Kilometer lang waren Staus am Freitagnachmittag auf den zwei
oder drei Zufahrten zum Gelände. Streckenweise harrten Teilnehmer bis zu sieben Stunden in ihren Wagen aus.
Trotzdem geht es ernsthaft und unerwartet unchaotisch zu: Es liegt so gut wie kein Müll
herum. Nach der Abschlusskundgebung am Sonntag lesen Zehntausende fein säuberlich die Glasscherben auf dem riesigen Platz vor der Bühne auf,
während sie dem letzten Konzert zuhören. Kurz zuvor hatte die Feuerwehr, die das ganze Wochenende über präsent war, die dankbare
Menge aus Wasserschläuchen bespritzt. An so vieles war gedacht worden in den drei Tagen: an den Freiwilligen Zivilschutz, der von der Côte
dAzur heraufgekommen ist, an die kostenlose Kondomverteilung und nicht zuletzt an eine hervorragende Nahrungsmittelversorgung, oft von Bauern aus
den Reihen der linken Gewerkschaft Confédération Paysanne (CP).
Wer erst zum zwölfstündigen großen Abschlusskonzert am Samstagabend
mit Manu Chao und der Asia Dub Foundation anreisen wollte, hatte Pech. Um 16 Uhr hatten die Veranstalter die Gendarmerie aufgefordert, die
Autobahnzufahrt zu dem Gelände zu sperren und Neuankömmlinge abzuweisen. Die Versorgung der Teilnehmenden am Widerstandsfestival
»Larzac 2003« drohe sonst zusammenzubrechen die Telekommunikation war schon zusammengebrochen, seit Freitagmittag war kein
Handy auf dem Gelände mehr empfangstüchtig.
Zu dem Zeitpunkt befanden sich annähernd 300000 Menschen auf dem Gelände, rund 20 km südlich der Kreisstadt Millau, auf das man
hangaufwärts auf gewundenen Straßen gelangte, die rechts und links von politischen Schriftzügen eingerahmt waren: »Nein zu
OGM« (gentechnisch veränderten Organismen) steht da und »Libertà per José«. Der prominente Schafzüchter und
Sprecher der CP war am 22.Juni von einem spektakulären Gendarmenaufgebot mitsamt Hubschrauber aus dem Bett geholt und in ein Gefängnis
nahe Montpellier transportiert worden.
Zuvor hatte ihn das Berufungsgericht von Montpellier zu zehn Monaten Haft ohne
Bewährung verdonnert, weil er als »Wiederholungstäter« daran teilgenommen hatte, genmanipulierte Reissetzlinge auszurupfen. Das
war im Juni 1999, zusammen mit indischen Bauern, die sich auf einer Solidaritätstournee durch Europa befanden, um über die Praktiken des
Agromultis Monsanto in ihrem Land zu informieren. Doch Ende Juli entschied der Haftrichter, Bové unter Auflagen auf freien Fuss zu setzen, damit er
einer Erwerbsarbeit nachgehen könne. Die absolvierte er…
Das Fest sollte an den 30.Jahrestag der ersten großen Protestversammlung (60000
Teilnehmende) auf dem Plateau Larzac im August 1973 erinnern und zugleich die nächste Mobilisierungsetappe gegen die WTO vorbereiten, deren
nächster Gipfel Mitte September im mexikanischen Cancún stattfindet.
Zahlreiche Gäste und Exponenten aus Brasilien, Argentinien, Palästina, den USA oder aus den französischen
»Überseegebieten« waren eingeladen. Unter einem halben Dutzend riesiger Zirkuszelte, die jeweils mindestens 2000 Menschen fassen und
symbolische Namen wie »Seattle«, »Porto Alegre«, »Cancún« oder »Genmanipulix« tragen,
drängen sich dicht an dicht Menschen im verzweifelten Bestreben, noch in den Schattenbereich zu kommen.
Hier geht es um atomare Abrüstung, Ausstieg aus der Atomenergie und um die Rolle der
französischen Nuklearindustrie bei der Proliferation von A-Waffen. Dort geht es um die Kriege der Neuen Weltordnung, um die Privatisierung bisheriger
öffentlicher Dienstleistungen oder um Repression gegen soziale Bewegungen. Der bekannte unorthodoxe Filmemacher Pierre Carles stellt seinen neuen
Film Danger travail vor, in dem zwölf Erwerbslose erzählen, warum sie (nach ihrer vorherigen Erwerbsbiografie) nie wieder die Zwänge
einer »geregelten Erwerbsarbeit« akzeptieren können und ihren jetzigen Status vorziehen. Im Anschluss können Publikum und
Regisseur mit Arbeitern der Reifenfabrik Michelin aus Clermont-Ferrand diskutieren, über deren Arbeitsbedingungen ebenfalls ein kritischer Film (Paroles
de Bib, 2001) gezeigt wird. Es wird heftig, ernsthaft und sachlich gestritten.
Die derzeit massenhaft streikenden, prekär beschäftigten Kulturschaffenden
führen ihre neuen Protestformen vor der letzte Schrei ist genau das, nämlich ein allabendlich vor Unternehmerverbänden oder der
Stadtverwaltung auszustoßender, lang anhaltender Schrei , aber auch einige ihrer besten Stücke. So die märchenhaften
Clownakrobaten der Compagnie Tango Sumo aus der Bretagne, die wegen des Streiks im Juli eine aussichtsreiche Frankreichtournee annuliert haben, aber auf
dem Larzac kostenlos spiele.
Zum Auftakt und zum Abschluss der dreitägigen Großveranstaltung steht
José Bové auf der großen Bühne zusammen mit Lori Wallach, der US-Verbraucheranwältin von der Vereinigung Public Citizen,
die die Funktionsweise der WTO und die Auswirkungen ihrer Entscheidungen namentlich auf die Dritte Welt schildert (bspw. das Verbot der Preisbindung
für Grundnahrungsmittel wie die Tortilla in Mexiko, weil »wettbewerbshinderlich«), oder dem Vertreter der militanten
Immigrantenorganisation Mib.
Er schlägt einen Bogen vom hyperproduktivistischen, auf Export ausgerichteten
Agrarmodell der EU über den Ruin der Produzenten in der Dritten Welt bis zur (polizeilichen oder gar militärischen) Verwaltung des
»Risikopotenzials Einwanderung« an den Außengrenzen der Europäischen Union oder auch in ihrem Inneren. »Vor einem Jahr
waren wir als Selbstorganisation der Migranten in Nîmes, nachdem Polizeibeamte den 17-jährigen Mourad erschossen hatten. Vertreter der CP, darunter
José Bové, waren an unserer Seite. Welche Überraschung mussten wir erleben, als das Gespräch mit Mourads Eltern in ein
Fachgespräch mit den Gewerkschaftern aus der Landwirtschaft ausartete! Es stellte sich heraus, dass die Familie von Mourad eine Familie von
marokkanischen Bauern war, die in ihrem Land nicht mehr überleben konnte, weil sie gegen die modernisierten Bereiche und die Importe nicht mehr
konkurrieren konnten und deswegen auswanderten. Hunderttausende, Millionen teilen ihr Schicksal. Aber heute ist für viele von ihnen das Mittelmeer zum
Friedhof ihrer Hoffnungen geworden.« Die Solidarität mit den Immigranten, auch den »illegalen«, gehört zum
gewerkschaftlichen Grundverständnis der CP.
»Das Besondere 1973 war die Präsenz der Lip-Beschäftigten«,
erklärt Bové, der Arbeiter der Uhrenfabrik in Besançon, deren Betrieb geschlossen werden sollte. Die Arbeiter »entließen«
daraufhin ihre Besitzer und übernahmen die Fabrik ein Jahr lang in Eigenregie. »Damit verdeutlichten wir das Bündnis zwischen
kämpfenden Bauern und Arbeitern. In diesem Jahr ist das Besondere die zeitliche Nähe unserer Versammlung auf dem Larzac zu der fantastischen
sozialen Bewegung, die das ganze Frühjahr und den Sommer geprägt hat: die Streiks gegen die Rentenreform, der Lehrer, der Kulturschaffenden.
Als wir das Festival planten, konnten wir das nicht vorhersehen. Aber diese Konvergenz verleiht uns Energie für einen neuen Anlauf.«
Bernhard Schmid, Paris
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