SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2003, Seite 8

Mogelpackung II

Bürgerversicherung als Instrument weiterer Umverteilung

Die zunehmende Diskussion um eine »Bürgerversicherung«, wie sie von ihren Protagonisten aus der Politik vorangetrieben wird, stellt eher eine Bedrohung als eine Hoffnung dar. In dieser Bürgerversicherung sehen sie nämlich ein Instrument, mit dem sich ein weitergehender Ausstieg der Arbeitgeber aus der paritätischen Finanzierung und damit eine weitere Umverteilung zugunsten der Wirtschaft organisieren lässt.
Die Ausweitung des Kreises der Pflichtversicherten auf alle Erwerbstätigen bei Einbeziehung von Vermögenseinkommen in die Beitragspflicht soll aus dieser Perspektive Mehreinnahmen auf Seiten der Versicherten ermöglichen, mit denen eine weitere Absenkung des paritätisch zu finanzierenden Aufwands (Senkung der Lohnnebenkosten) finanziert werden soll. Genau dies war die Zielsetzung, mit der Prof. Lauterbach (Berater des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziales) seinen Vorstoß für eine Bürgerversicherung im Rahmen des sog. »Y-Modells« der Rürup-Kommission unternahm.
In diesem »Y-Modell« stand der Vorschlag eines »Kopfpauschalen«- Systems von Bert Rürup gleichsam für die radikale (fundamentalistische) Variante des neoliberalen Systemwechsels. Ob strategisches Kalkül oder nicht — die Wirkung der beiden »Alternativen« ist die, dass man sich vor Rürup erschrecken und sich in die Arme von Lauterbachs Bürgerversicherung flüchten soll.
Nun sind sowohl die Weiterentwicklung der Sozialversicherung von einer Arbeitnehmer- zu einer Erwerbstätigenversicherung und die Einbeziehung anderer Einkommensarten außer dem Erwerbseinkommen in die Beitragspflicht aus guten Gründen auch Forderungen des »sozialoppositionellen« Lagers. Ob aber eine Reform der Finanzierungsgrundlagen der Sozialversicherung, die diese Elemente einschließt, sozialpolitischen Fortschritt oder Rückschritt bringt, hängt maßgeblich von den damit verbundenen Verteilungswirkungen ab.
Um die oben angedeutete Wirkung einer weiterreichenden Umverteilung der Finanzierungslasten zu Gunsten des Kapitals zu vermeiden und den Grundsatz der Finanzierungsparität zu verteidigen, ist es unerlässlich, zumindest im gleichen Umfang, wie Mehreinnahmen bei den Versicherten erzielt werden, die Kapitalseite verstärkt im Wege eines ergänzenden Wertschöpfungsbeitrags (Wertschöpfungsabgabe) heranzuziehen. Dass das Mehraufkommen vorrangig für Leistungsverbesserungen statt zur Senkung der Lohnnebenkosten einzusetzen ist, bedarf hier wohl keiner weiteren Begründung.
Weit verbreitet — auch unter uns — ist der Glaube, eine Beitragsfinanzierung, die im Kern an sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (an den »Faktor Arbeit«) geknüpft ist, sei angesichts dauerhaft hoher und eher wachsender Massenerwerbslosigkeit nicht zukunftsfähig. Dem ist zu entgegnen: Nicht zukunftsfähig ist die Massenerwerbslosigkeit. Ein weiter entwickelter Sozialstaat (oder Solidarstaat) kann keine Veranstaltung sein, die ihre Finanzierungssysteme auf die »Vereinbarkeit« mit dauerhafter Gesellschaftsspaltung durch Erwerbslosigkeit (und Niedriglohnbeschäftigung) ausrichtet.
Der »rheinische« Sozialstaat war u.a. deshalb als »Vollbeschäftigungsstaat« konzipiert, weil es zu den zentralen Lehren der Katastrophe von Weimar gehörte, dass sich eine Gesellschaftsspaltung durch massenhafte Erwerbslosigkeit (samt ihrer sozialen Perspektivlosigkeit), die den Boden für die Machtübernahme des deutschen Faschismus bereitet hatte, nie mehr wiederholen dürfe.
Wenn mit der Bürgerversicherung eine stärkere Entkoppelung der sozialen Sicherung vom »Faktor Arbeit« angestrebt wird, dann geht es den neoliberalen Protagonisten eher um eine Neuordnung der Finanzierung, die auch unter Bedingungen dauerhafter Massenerwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung funktionsfähig bleibt und zugleich den Solidarbeitrag des Kapitals reduziert.
Aus der Perspektive der arbeitenden Bevölkerung sollte es dagegen eher darum gehen, die Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung in der Phase, wo sie durch Massenerwerbslosigkeit und rückläufige Entgeltquote zerstört zu werden droht, mit geeigneten Maßnahmen im Sinne des Solidarprinzips zu stützen.
Es ist also notwendig, in der Debatte um die Bürgerversicherung die Frage der Verteilungswirkungen und des hälftigen Solidarbeitrages der Wirtschaft (Wertschöpfungsabgabe) in den Mittelpunkt zu rücken und im Übrigen auf praktikable Alternativen zum wirksamen Abbau der Massenerwerbslosigkeit (Aufbau regulärer, sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze) verweisen. Dabei kommt Arbeitszeitverkürzungen eine Schlüsselrolle zu.
Im Übrigen: die aktuellen Vorstöße zur Arbeitszeitverlängerung auf über 40 Wochenstunden, wie sie gegenwärtig etwa vom Land NRW aus sparpolitischen Motiven in die Diskussion gebracht werden, haben immerhin ein Gutes: Auch dort ist man offenbar davon überzeugt, dass über die Dauer der Regelarbeitszeit die gesamtwirtschaftliche Verteilung von Erwerbsarbeit gesteuert werden kann.
Die NRW-Landesregierung geht bei der 41-Stunden-Woche von einem rechnerischen Effekt des Wegfalls von 11300 Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst des Landes aus. Wenn das so herum funktioniert — dann auch anders herum: Ausweitung des Arbeitsplatzangebots durch Verkürzung der Wochenarbeitszeit.

Daniel Kreutz

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