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Die zunehmende Diskussion um eine »Bürgerversicherung«, wie sie von ihren Protagonisten aus der Politik
vorangetrieben wird, stellt eher eine Bedrohung als eine Hoffnung dar. In dieser Bürgerversicherung sehen sie nämlich ein Instrument, mit dem sich ein
weitergehender Ausstieg der Arbeitgeber aus der paritätischen Finanzierung und damit eine weitere Umverteilung zugunsten der Wirtschaft organisieren
lässt.
Die Ausweitung des Kreises der Pflichtversicherten auf alle Erwerbstätigen bei Einbeziehung
von Vermögenseinkommen in die Beitragspflicht soll aus dieser Perspektive Mehreinnahmen auf Seiten der Versicherten ermöglichen, mit denen eine
weitere Absenkung des paritätisch zu finanzierenden Aufwands (Senkung der Lohnnebenkosten) finanziert werden soll. Genau dies war die Zielsetzung, mit der
Prof. Lauterbach (Berater des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziales) seinen Vorstoß für eine Bürgerversicherung im Rahmen des
sog. »Y-Modells« der Rürup-Kommission unternahm.
In diesem »Y-Modell« stand der Vorschlag eines »Kopfpauschalen«-
Systems von Bert Rürup gleichsam für die radikale (fundamentalistische) Variante des neoliberalen Systemwechsels. Ob strategisches Kalkül oder
nicht die Wirkung der beiden »Alternativen« ist die, dass man sich vor Rürup erschrecken und sich in die Arme von Lauterbachs
Bürgerversicherung flüchten soll.
Nun sind sowohl die Weiterentwicklung der Sozialversicherung von einer Arbeitnehmer- zu einer
Erwerbstätigenversicherung und die Einbeziehung anderer Einkommensarten außer dem Erwerbseinkommen in die Beitragspflicht aus guten
Gründen auch Forderungen des »sozialoppositionellen« Lagers. Ob aber eine Reform der Finanzierungsgrundlagen der Sozialversicherung, die
diese Elemente einschließt, sozialpolitischen Fortschritt oder Rückschritt bringt, hängt maßgeblich von den damit verbundenen
Verteilungswirkungen ab.
Um die oben angedeutete Wirkung einer weiterreichenden Umverteilung der Finanzierungslasten zu
Gunsten des Kapitals zu vermeiden und den Grundsatz der Finanzierungsparität zu verteidigen, ist es unerlässlich, zumindest im gleichen Umfang, wie
Mehreinnahmen bei den Versicherten erzielt werden, die Kapitalseite verstärkt im Wege eines ergänzenden Wertschöpfungsbeitrags
(Wertschöpfungsabgabe) heranzuziehen. Dass das Mehraufkommen vorrangig für Leistungsverbesserungen statt zur Senkung der Lohnnebenkosten
einzusetzen ist, bedarf hier wohl keiner weiteren Begründung.
Weit verbreitet auch unter uns ist der Glaube, eine Beitragsfinanzierung, die im Kern
an sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (an den »Faktor Arbeit«) geknüpft ist, sei angesichts dauerhaft hoher und eher wachsender
Massenerwerbslosigkeit nicht zukunftsfähig. Dem ist zu entgegnen: Nicht zukunftsfähig ist die Massenerwerbslosigkeit. Ein weiter entwickelter
Sozialstaat (oder Solidarstaat) kann keine Veranstaltung sein, die ihre Finanzierungssysteme auf die »Vereinbarkeit« mit dauerhafter
Gesellschaftsspaltung durch Erwerbslosigkeit (und Niedriglohnbeschäftigung) ausrichtet.
Der »rheinische« Sozialstaat war u.a. deshalb als
»Vollbeschäftigungsstaat« konzipiert, weil es zu den zentralen Lehren der Katastrophe von Weimar gehörte, dass sich eine
Gesellschaftsspaltung durch massenhafte Erwerbslosigkeit (samt ihrer sozialen Perspektivlosigkeit), die den Boden für die Machtübernahme des
deutschen Faschismus bereitet hatte, nie mehr wiederholen dürfe.
Wenn mit der Bürgerversicherung eine stärkere Entkoppelung der sozialen Sicherung
vom »Faktor Arbeit« angestrebt wird, dann geht es den neoliberalen Protagonisten eher um eine Neuordnung der Finanzierung, die auch unter
Bedingungen dauerhafter Massenerwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung funktionsfähig bleibt und zugleich den Solidarbeitrag des Kapitals reduziert.
Aus der Perspektive der arbeitenden Bevölkerung sollte es dagegen eher darum gehen, die
Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung in der Phase, wo sie durch Massenerwerbslosigkeit und rückläufige Entgeltquote zerstört zu
werden droht, mit geeigneten Maßnahmen im Sinne des Solidarprinzips zu stützen.
Es ist also notwendig, in der Debatte um die Bürgerversicherung die Frage der
Verteilungswirkungen und des hälftigen Solidarbeitrages der Wirtschaft (Wertschöpfungsabgabe) in den Mittelpunkt zu rücken und im
Übrigen auf praktikable Alternativen zum wirksamen Abbau der Massenerwerbslosigkeit (Aufbau regulärer, sozialversicherungspflichtiger
Arbeitsplätze) verweisen. Dabei kommt Arbeitszeitverkürzungen eine Schlüsselrolle zu.
Im Übrigen: die aktuellen Vorstöße zur Arbeitszeitverlängerung auf
über 40 Wochenstunden, wie sie gegenwärtig etwa vom Land NRW aus sparpolitischen Motiven in die Diskussion gebracht werden, haben immerhin ein
Gutes: Auch dort ist man offenbar davon überzeugt, dass über die Dauer der Regelarbeitszeit die gesamtwirtschaftliche Verteilung von Erwerbsarbeit
gesteuert werden kann.
Die NRW-Landesregierung geht bei der 41-Stunden-Woche von einem rechnerischen Effekt des
Wegfalls von 11300 Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst des Landes aus. Wenn das so herum funktioniert dann auch anders herum: Ausweitung
des Arbeitsplatzangebots durch Verkürzung der Wochenarbeitszeit.
Daniel Kreutz
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