SoZ Sozialistische Zeitung |
Es ist August Ferienzeit in Bayern und schon wieder passierts! Gerade eine Woche nach Bekanntgabe guter
Quartalszahlen für die Siemens AG, die im letzten Geschäftsjahr ihr zweitbestes Ergebnis in der 150-jährigen Firmengeschichte erzielte, und
nach der Ankündigung, das laufende Geschäftsjahr mit einem Nettogewinn von 2,2 Milliarden Euro + x abzuschließen, verschärft
Siemens nochmals das Klima bei der Restrukturierung und beim Personalabbau: Im Bereich IC Mobile (Quartalsergebnis 36 Mio. Euro) sollen bis zum Herbst
2004 weitere 2300 Arbeitsplätze wegfallen, davon 500 in Deutschland.
Das war vor einem Jahr fast auf den Tag genauso. Mitte August 2002 gibt die Betriebsleitung
im Betrieb München/Hofmannstraße (MchH) bekannt, dass innerhalb von sechs Wochen von 6600 Arbeitsplätzen 2300 abgebaut werden
sollten. Die Siemens AG ging davon aus, dass sich die Belegschaft aufgrund fehlender Erfahrungen und des niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrads
(2%) nicht wehren kann. Es entwickelte sich jedoch ein beispielloser Widerstand, der in der Bildung des Beschäftigtennetzes NCI (Network, Cooperation,
Initiative) gipfelte.
Der Betriebsrat (BR) schweigt nicht. Er führt keinen Schmusekurs mit der Geschäftsleitung, sondern bezieht von Anfang an klar Position
für die Beschäftigten. Er informiert die Belegschaft offen, diskutiert mit ihr, geht an die Öffentlichkeit. Die IG Metall ruft zu Demos auf. Die
beiden Betriebsratsvorsitzenden Heribert Fieber und Leo Mayer, beide IG Metall, haben daran großen Anteil. Die Art und Weise, wie sie die Geschehnisse
vermitteln, erzeugen Vertrauen in der Belegschaft und schaffen die Basis für das Beschäftigtennetz NCI.
Die Positionen von BR und Geschäftleitung sind konträr: Die
Geschäftsleitung fordert Aufhebungsverträge und eine externe Beschäftigungsgesellschaft (beE) für viele eine Rutschbahn in
die Arbeitslosigkeit. Wer sich beidem verweigert, dem soll betriebsbedingt gekündigt werden. Wer bereit ist, in die externe
Beschäftigungsgesellschaft zu gehen, soll auf dem Leiharbeitermarkt verliehen werden. Neben der beE betreibt Siemens zusammen mit anderen
Unternehmen eine Leiharbeiterfirma; in die sollen die Mitarbeiter aus der beE eingebracht und an Siemens zurückverliehen werden. Das Modell
heißt in der Belegschaft »Mitarbeiter-Recycling-Verfahren«.
Das Gegenmodell des Betriebsrats lautet Arbeitszeitverkürzung nach dem VW-Modell
basierend auf dem Bayrischen Manteltarifvertrag. Es ist rechnerisch in Ordnung, und seine Wirkung wird vom Arbeitgeber nie widerlegt. Es steht lediglich
seinem Ziel entgegen, den Leiharbeitermarkt zu etablieren. Die Verhandlungen stocken. Die IG Metall ruft zu einer Demonstration vor der Konzernzentrale auf.
Etwa 3000 Teilnehmer kommen. Das bringt den Durchbruch.
Nach zähem Ringen kann der Betriebsrat mit Hilfe verschiedener Maßnahmen,
von denen Arbeitszeitverkürzung eine ist, die Zahl der abzubauenden Mitarbeiter von 2600 auf 1850 reduzieren. Er schließt einen
Interessenausgleich und einen Sozialplan ab, der das Finanzielle regelt; dabei handelt es sich um ein Optionenmodell. Zur Wahl stehen: eine interne, max. 24
Monate dauernde beE, ein Aufhebungsvertrag oder die betriebsbedingte Kündigung. Egal wie die Beschäftigten sich entscheiden, sie erhalten auf
jeden Fall eine Abfindung.
Der BR hat darauf verzichtet, sich an der Sozialauswahl zu beteiligen und eine Namensliste
vorzulegen. Damit ermöglicht er den Beschäftigten die Rechtmäßigkeit der Kündigung voll und ganz vom Arbeitsgericht
überprüfen zu lassen. Würde er einer Namensliste zustimmen, könnte das Gericht diese nur noch auf grobe Fehlerhaftigkeit
prüfen, ihr aber nicht widersprechen; er kann schwerlich einer Kündigung widersprechen, der er selber per Namensliste zugestimmt hat. Die
Chancen auf eine erfolgreiche Kündigungsschutzklage sinken damit stark, ganz abgesehen davon, dass die Betroffenen in dem Fall keine
Weiterbeschäftigung und somit keine Gehaltsfortzahlung bis zum Ende des Kündigungsschutzprozesses verlangen können.
Am 11.11.02 kommt der Tag der Blauen Briefe. Aus einer E-Mail: »Die Schockwelle läuft wie nach einer Explosion unsichtbar, aber von jedem
spürbar durch unsere und uns bekannte Nachbarabteilungen. Der Betrieb ist heute paralysiert; viele wissen es, dass sie betroffen sind, viele haben noch
keine Nachricht. Die, die damit gerechnet haben, sind in der Lage Erste Hilfe zu leisten, reden, reden, reden … Die, die nicht damit gerechnet haben,
laufen in einer Art Trance- und Schockzustand herum, bei denen, die halb damit gerechnet haben, arbeitet das Gehirn auf Hochtouren, ›es denkt‹,
sozusagen von selbst, und kann nicht aufhören zu denken. Eine ganze betroffene Abteilung (darunter viele zwischen 48 und 54 Jahre) hat die Arbeit fallen
lassen. Teilweise wurden ganze Gruppen fast vollständig aufgelöst. Unsere existiert praktisch auch nicht mehr. Es ist als ob ein Leonidensturm
über uns hinwegfegt ist oder ein Meteor eingeschlagen hat.«
Dann kommt wie aus dem Nichts das Beschäftigtennetz NCI, die organisierte
Betroffenheit der Beschäftigten. Am Anfang steht eine schlichte E-Mail kein wohldurchdachtes Programm: »Ich möchte euch daher
einladen, uns zu treffen, um miteinander zu reden, Fragen zu stellen, Fragen zu sammeln, und Antworten zu geben.« Die erste Gruppe des NCI-Netzes ist
gegründet. Das Besondere ist: Sie kommen, sprechen über Gefühle. Das Bedürfnis, aus der Anonymität herauszutreten, ist sehr
groß.
NCI, organisiert von den Beschäftigten selbst, schafft die Möglichkeit für
gemeinsame Diskussionen. Durch NCI sind die Beschäftigten überhaupt erst in der Lage, sich gegenseitig über ihre Rechte zu informieren.
Die Handlungsoptionen der Betriebsvereinbarung können diskutiert und schnell unter vielen Menschen verbreitet werden. Eine Gruppenberatung des BR
hingegen hätte nur ein paar Menschen erfasst, die bald wieder auseinander gelaufen wären. Entscheidend ist der Einsatz des Internet, die E-Mail,
später die Homepage (www.nci.migm.de), worüber Informationen schnell verbreitet werden können. Viele Menschen kommen so auf den
gleichen Wissensstand. Insbesondere der Vortrag einer Kollegin über die Chancen einer Kündigungsschutzklage ermuntert viele, den Weg der
Kündigung zu gehen.
NCI steht plötzlich dem Plan des Arbeitgebers entgegen, den geplanten Stellenabbau
leise durchzuführen. Soziale Auswahl wird thematisiert. NCI ist nicht leise, sondern laut und geht auf die Straße. Ohne NCI und ohne einen BR, der
sich konsequent hinter die Belegschaft stellt, wären viele wie von Siemens vorgesehen in die beE gegangen, nur wenige hätten
geklagt. Entscheidend war und ist das Vertrauensverhältnis zwischen Betriebsrat und Belegschaft.
Etwa 400 Kolleginnen und Kollegen entscheiden sich für die beE, nur wenige stimmen
einem Aufhebungsvertrag zu. Am 7.1.03 flattern dem Betriebsrat dann auf einen Schlag 366 Kündigungen auf den Tisch. Nach dem Gesetz hat er eine
Woche Zeit, ihnen einzeln zu widersprechen. Eine Fristverlängerung lehnt die Geschäftsleitung ab. Mit unglaublichen Einsatz und wohl
durchdachter Vorbereitung schafft der Betriebsrat das Unmögliche. Er widerspricht 359 Kündigungen qualifiziert und termingerecht. Seine
Hände sind nicht durch eine Namensliste gebunden.
Die Siemens AG aber hat die gesetzlichen Bestimmungen der Sozialauswahl grotesk verletzt:
Zwei Drittel der Gekündigten sind älter als 45 Jahre; die Hälfte genießt gesetzlichen oder tariflichen Kündigungsschutz. Ein
Drittel sind Frauen. Nach einer Demonstration vor der Hauptversammlung rudert Siemens zurück; es werden nur 200 Kündigungen ausgesprochen.
Von Anfang an steht bei NCI der Mensch mit seinen Gefühlen im Mittelpunkt.
»Die Würde des Menschen ist unantastbar« (Art.1 GG) das ist ein zentrales Anliegen von NCI, das immer mehr an Bedeutung
gewinnt, denn die Geschäftsleitung beginnt Druck auf die Beschäftigten auszuüben, nimmt den PC weg, organisiert um, versucht die
Betroffenen zu isolieren, zermürben, demoralisieren. NCI und BR haben alle Hände voll zu tun, die Mobbingmaßnahmen abzuwehren, die
Kolleginnen und Kollegen seelisch zu unterstützen.
NCI fragt im Netz ab, ob bekannt gewordene Fälle von Mobbing oder Gesetzesverstöße an mehreren Stellen auftreten, so lässt sich
schnell herausfinden, ob diese systematisch oder nur punktuell sind. Das sind Informationen aus der Belegschaft, die nie zum BR gedrungen wären, aber
wichtig für dessen Arbeit sind. Die schnelle Verbreitung von Informationen an alle betroffenen Beschäftigten ermöglicht es, gezielt und
gemeinsam zu handeln. Strategien können schnellstens umgesetzt werden.
Ein anschauliches Beispiel ist die Begleitung zu den Prozessen und die Berichterstattung
darüber. Bezeichnend ist die Aussage eines Richter des Arbeitsgerichts München: »Das ganze Haus ist wieder voll. Die
›Prozessreisenden‹ von Siemens sind wieder da. Der ›Reisetrupp‹ verstopft alle Gänge. Es ist immer wieder das gleiche:
wenn die Firma Siemens verhandelt wird, tun sich ›Menschenmauern‹ auf, die sich auf dem ›Kriegspfad‹ bzw. auf dem
›Rechtspfad‹ befinden.«
Der Betriebsrat wird von vielen Seiten angegriffen, vor allem dafür, dass er keine
Auswahlkriterien vereinbart und nicht auf hohe Abfindungssummen gedrängt, sondern die Verteidigung der Arbeitsplätze in den Mittelpunkt
gerückt hat.
Die Beschäftigten aber unterstützen ihren Betriebsrat mit einer Resolution, in der
es u.a. heißt: »Wir empfinden es mutig und solidarisch mit der Belegschaft, dass der BR sich nicht vor den Karren der Geschäftsleitung
spannen lässt und durch einen Schmusekurs deren unlautere Ziele unterstützt. Er hat nicht aus Bequemlichkeit oder Unfähigkeit, Konflikte
auszuhalten, Meinungsverschiedenheiten mit der Geschäftsleitung auszutragen, die Mitarbeiter um des lieben Friedens willen verkauft. Aus Berichten von
Mitarbeitern aus anderen Betrieben wissen wir, dass dies keineswegs selbstverständlich ist … [Ein Betriebsrat] entscheidet mit, ob und wie das
Gleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern erhalten bleibt, oder ob es sich durch einen Schmusekurs zuungunsten des Arbeitnehmers und damit
auch der Gesellschaft neigt. Der BR MchH ist dieser Verantwortung bisher gerecht geworden.«
NCI ist heute ein Netz mit einer funktionierenden hochdemokratischen Struktur und minimaler
Organisation, in dem etwa 600 Beschäftigte organisiert sind. Eine stetig wachsenden Anzahl von Verbindungen nach außen zu anderen Netzwerken,
Firmen und ihren verschiedenen Organisationen, Gewerkschaften, Kirchen, Medien setzen den Vernetzungsgedanken konsequent fort.
Das Geheimnis von NCI ist, dass die Kolleginnen und Kollegen selbst definieren, was gut und
schlecht für sie ist, was und wie sie handeln wollen. Es gibt niemanden, der bestimmt, wo es lang geht, die Kolleginnen und Kollegen bestimmen das
selbst. Aktionen werden angeboten, manche umgesetzt, manche verpuffen, manche Vorschläge und Hilfsangebote werden von ein paar Kollegen
angenommen, manche von vielen. Aber genau diese Freiheit des Handelns und der Entscheidung ist die Basis der Solidarität. Man handelt, weil man
überzeugt ist, und vor allem kann man sehr schnell auf veränderte Situationen reagieren.
NCI versorgt die Mitglieder mit für sie interessanten Informationen,
ermöglicht Kommunikation, schafft Raum für Begegnung und bietet Hilfe zur Selbsthilfe.
NCI will Einfluss auf die für Arbeitnehmer relevante Gesetzgebung (z.B.
KSchG) ausüben.
NCI prangert »Unternehmerwillkür« an und kommuniziert diese
über die Medien und die eigene Homepage in der Öffentlichkeit.
Die Erfolge vor dem Arbeitsgericht geben der Belegschaft recht. Fast alle
Weiterbeschäftigungsprozesse, die den Kollegen Arbeit und Gehalt bis zum endgültigen Urteil sichern, werden gewonnen. Die
Kündigungsschutzverfahren, die bisher verhandelt wurden, wurden glatt gewonnen.
Von 2600 zu entlassenen Arbeitnehmern sind heute 400 in der beE, 260 haben den Betrieb
verlassen durch Aufhebungsvertrag, normalen Weggang oder Versetzung, 200 sind gekündigt mit den besten Aussichten den
Kündigungsschutzprozess zu gewinnen. Etwa 740 Arbeitsplätze konnten bisher erhalten werden. Können die 200 Gekündigten wieder
in den Betrieb zurückkehren, dann hat der nunmehr ein Jahr dauernde Widerstand 940 Arbeitsplätze gerettet.
Die im NCI organisierten Beschäftigten haben in dem einen Jahr einen enormen
Bewusstseinswandel vollzogen. Vor dem Stellenabbau identifizierten sie sich durchweg mit den Zielen der Geschäftsleitung. Ihre Motivation war hoch.
Für viele war es persönlich wichtig, ein Projektziel zu erreichen. Dazu waren sie bereit, »ohne Ende« zu arbeiten. Arbeitnehmerrechte
waren weitgehend unbekannt.
Heute sind sich die NCIler bewusst, dass es Sozialabbau gibt, dass Arbeitnehmerrechte
verteidigt werden müssen, dass die Globalisierung zulasten der abhängig Beschäftigten in aller Welt gehen. Und NCI kämpft dagegen,
sucht Politiker auf, diskutiert mit ihnen, organisiert Podiumsdiskussionen und sucht die Verbindung mit anderen großen und kleinen gleichgesinnten
Netzwerken, um mit dazu beizutragen, den Widerstand gegen eine unmenschliche Gesellschaft auf eine breite Basis zu stellen, mit dem Ziel ein weitreichendes
Netzwerk entstehen zu lassen.
Die Hofmannstraße sollte das Vorzeigemodell für einen neuen Arbeitsmarkt
werden. Doch plötzlich gab es mit NCI einen neuen Prototypen für Widerstand von unten. Der Geschäftleitung ist NCI und seine Allianz mit
dem BR und der IG Metall ein Dorn im Auge ein ernst zu nehmender Gegner, den man bisher nicht einschüchtern konnte.
Jack-Peter Trent
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04