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Eine politische Einschätzung der brasilianischen Regierung unter Führung der PT (Arbeiterpartei) fällt nicht
leicht. Hoffnungen und Enttäuschungen sind auch über ein halbes Jahr nach ihrem Amtsantritt immer noch eng verwoben. Die Kritik in der
brasilianischen, aber auch in der internationalen Linken wird immer stärker, und nicht von ungefähr: Das Handeln der Regierung entspricht bisher
nicht dem Programm der PT im Wahlkampf und erst recht nicht dem traditionellen programmatischen Profil einer der bedeutendsten Linksparteien
Lateinamerikas.
In der Zusammensetzung des Kabinetts steht der sog. wirtschaftliche Bereich konzeptionell und
personell im Widerspruch zu den anderen Regierungsbereichen. Wie kann man solche Widersprüche erklären und welche Alternativen gibt es, um
sie zu überwinden?
Die PT verdankt ihren Wahlsieg mehr dem Misserfolg der Vorgängerregierung Cardoso
und der Zersplitterung des bürgerlichen Lagers als einer Linksentwicklung der Bevölkerung. Bereits im Wahlkampf ging die PT Bündnisse
ein, die eine »Mitte-Links-Regierung« zu Ergebnis haben mussten. Nach den Wahlen waren die Spielräume für die Regierung nicht
gerade groß. Die neoliberale Politik Cardosos hatte die Wirtschaft immer stärker der Herrschaft des internationalen Kapitals unterworfen und
hinterließ als »verfluchtes Erbe« neben der Abhängigkeit eine sehr hohe innere und äußere Verschuldung. Damit wurde
die Verschärfung der wirtschaftlichen Krise immer wahrscheinlicher; kurzfirstige, einfache Lösungen zeichneten sich überhaupt nicht ab.
Deshalb war klar: Nach dem Wahlsieg würden:
♦ die Finanzmärkte die neue Regierung unter Druck setzen, um
einschneidende Veränderungen zu verhindern, und auf die weitere Anpassung der Regierungspolitik an die zentralen Dogmen und Instrumente des
internationalen Kapitals (IWF, Weltbank, vor allem auch ALCA) drängen;
♦ die Eliten und die konservativen Medien die Bekämpfung der sog.
Radikalen in der PT fordern;
♦ die Regierung mit vielen Spannungen zu rechnen haben, z.B. indem sie
das Arbeitsrecht beschneidet oder auf wichtige Reformvorhaben verzichtet;
♦ die Linke und die sozialen Bewegungen weiter zersplittert bleiben;
♦ das Fehlen einer entschlossenen Mobilisierung zur politischen Isolierung
der Regierung führen.
Im Wahlkampf hatte sich die PT klar für ein anderes Wirtschaftsmodell als das von
Cardoso ausgesprochen. Das Motto ihres Programms »Ein Brasilien für alle« hatte drei zentrale Bestandteile: wirtschaftliches Wachstum;
Schaffung von Arbeitsplätzen; Verringerung der Ungleichheit.
Wahltaktisch ging die PT ein Bündnis mit der liberalen PL ein und stellte den
Textilgroßunternehmer José Alencar als Vizepräsidenten vor, um die Unternehmer vom gemäßigten Charakter von Lulas Projekt
zu überzeugen. Versöhnung und Dialog waren die wichtigsten Schlagworte im Wahlkampf. Politische und soziale Brüche waren erst nach
einer Übergangsperiode vorgesehen. Alles war auf die »Beruhigung des Marktes« und die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen mit
dem IWF orientiert.
Mit dieser Strategie hat die PT eine politische Ausdehnung ihrer gesellschaftlichen und
parlamentarischen Basis nach rechts erreicht, ohne auf der Linken größere Einbußen zu erleiden.
Bei seinem Amtsantritt schlug Lula alle Hoffnung entgegen. Deren Breite stellt aber zugleich
auch das Problem dar: Die Regierung muss sehr unterschiedliche Erwartungen erfüllen. Das würde selbst unter guten Bedingungen schon
genügend Probleme schaffen. Die Bedingungen sind aber nicht gut.
Das Potenzial der Regierung Lula ist groß. Die PT hat sehr erfolgreiche Erfahrungen in Kommunen und Bundesländern sammeln können
und Konzepte entwickelt wie den weltweit anerkannten Beteiligungshaushalt, ein Konzept für die Landreform, die Umkehr der Prioritäten
zugunsten der Klein- und Mittelbetriebe, das Programm »Primeiro Emprego« (erster Arbeitsplatz für Jugendliche), die Programme
»Fome Zero« (Null Hunger) und »Renda Minima« (Mindesteinkommen) zur Armutsbekämpfung, das Programm
»Economia Popular e Solidária« (Solidarwirtschaft) zur wirtschaftlichen Organisation von Krisenbetrieben und sozial Ausgegrenzten, das
Programm »Saúde da Familia« (ein präventives Gesundheitsprogramm für die Familien) und viele andere, die jetzt auf die
Bundesebene übertragen werden.
In fast allen Bereichen stehen der PT die qualifiziertesten Intellektuellen und Wissenschaftler
zur Seite ein Ergebnis der 20-jährigen innovativen und programmatischen Entwicklung der Partei in der brasilianischen Gesellschaft. Es muss
auch betont werden, dass diese Regierung in einem zuvor nicht erreichten Grad legitimiert ist, soziale und politische Veränderungen durchzusetzen.
Das größte Problem besteht darin, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik den
übrigen Bereichen der Regierung diametral entgegengesetzt ist. Man spricht von einer linken Regierung mit einem liberalen Wirtschaftsprogramm, das die
Politik der Regierung Cardoso fortsetzt. Seine Kennzeichen sind: Einhaltung der Verträge mit dem IWF; Anerkennung der Außenschuld; hohe
Zinsen; strenge Haushaltspolitik (mit Einsparungen und Kürzungen im Sozialbereich); fortgesetzte Privatisierung der noch verbleibenden staatlichen
Banken; Förderung der Unabhängigkeit der Zentralbank sowie die Fortsetzung der »Reformen« der Rentenversicherung und des
Arbeitsrechts. Die Erklärung dafür findet man in der Zusammensetzung der wirtschaftspolitischen Gremien und im Konzept der
Übergangsperiode der Regierung.
Der wirtschaftliche Bereich in der Regierung wird stark von der PSDB, der Partei des
früheren Präsidenten Cardoso, beeinflusst: Finanzen, Zentralbank; Entwicklung, Industrie und Außenhandel; Landwirtschaft, Viehzucht und
Versorgung. Die meisten Politiker in diesen Bereichen gehörten bereits der Regierung Cardoso an oder unterstützten sie.
Das wirtschaftspolitische Konzept basiert auf Export, Einsparung und Anlockung von Kapital
als Rahmenbedingungen für die Überwindung der wirtschaftlichen Krise. Danach ist eine Phase der Haushaltskonsolidierung vorgesehen und erst
danach soll sich eine Periode des Wachstums und der Umverteilung von oben nach unten anschließen. Bisher hat die Politik Erfolg gehabt: Die Exporte
sind stark gestiegen, der Real nahm an Wert gegenüber dem US-Dollar deutlich zu, die Inflation bleibt unter Kontrolle und internationales Kapital
fließt weiter ins Land. Das im Wahlkampf von den bürgerlichen Parteien prognostizierte Chaos fand nicht statt, und die Gegner wurden von dieser
Politik völlig überrascht.
Der Kernpunkt der Politik ist, das »Vertrauen der Märkte« zu gewinnen, wobei das Problem der Abhängigkeit der Wirtschaft
allmählich vernachlässigt wird; man hofft, sie werde sich durch die Exporte und Regulierungen von selbst reduzieren. Das ist eigentlich die
Achillesferse des Konzepts, denn »die Märkte« haben überhaupt kein Vertrauen, sie suchen nur die besten Bedingungen, um von der
Krise zu profitieren. Ändern sich die Bedingungen, fließen auch keine Spekulationsgelder mehr ins Land.
Die Folgen der sog. Übergangsperiode sind bereits deutlich spürbar: rezessive
Tendenzen, geringes oder gar kein wirtschaftliches Wachstum, Zunahme der Verschuldung, der Arbeitslosigkeit, der Armut. Um die Verschuldung zu
überwinden, will die Regierung einen Überschuss am Bruttoinlandsprodukt von 4,5% erwirtschaften. Dafür werden Investitionen für
Infrastruktur und soziale Programme stark zusammengestrichen, was dem Konzept der Regierung von der aktiven Funktion des Staates in der Wirtschaft
widerspricht.
Schließlich stimmt es deshalb auch nicht, dass diese Wirtschaftspolitik einen
Übergang darstellt. Denn sie eröffnet keine neuen Spielräume in eine andere Richtung. Im Gegenteil, die Situation bleibt prekär, eine
Finanzkrise kann jederzeit wieder ausbrechen, weil sich die Wirtschaftspolitik auf spekulative Gelder stützt, die derzeit von hohen Zinsen angezogen
werden. Wie Finanzminister Antonio Paloccci Filho in seiner Antrittrede erklärte, hat dieses Wirtschaftskonzept bereits unter Cardoso begonnen; von der
Regierung Lula sind Änderungen daran nicht zu erwarten, lediglich langfristige Regulierungsmaßnahmen. Im Finanzministerium projiziert man
schon Wachstumsüberschüsse bis ins Jahr 2011, was ganz klar eine strukturelle Abkehr vom ursprünglichen Programm darstellt.
Wenn die Wirtschaftspolitik nicht dazu taugt, aus der schwierigen Situation herauszukommen, welche Alternativen hätte die Regierung noch an der
Hand, um in die angekündigte zweite Entwicklungsphase zu treten? Wie könnte die Abhängigkeit der Wirtschaft reduziert werden und wie
könnte das Programm der PT in Übereinstimmung mit den Erwartungen der Mehrheit der Bevölkerung umgesetzt werden?
Ausgangspunkt für eine Alternative wäre die Schaffung neuer politischer
Rahmenbedingungen. Die Wirtschaftspolitik Cardosos ist gescheitert und stellt überhaupt kein Vorbild dar; sie basierte auf der Entstaatlichung von
Entscheidungsbereichen und der Unterwerfung der Wirtschaft unter die Herrschaft der Finanzmärkte. Die PT hat stets, im Gegensatz zu Cardoso, die
Souveränität des Staates gegenüber dem Markt und die Kohärenz des Parteiprogramms mit den internationalen Initiativen gegen die
Unterwerfung der Entwicklungsländer unter die Herrschaft der Finanzmärkte betont.
Folgt man dem Programm der PT kann man eine Alternative in drei Punkten formulieren,
indem man den Dokumenten »Konzept und Richtlinien des Regierungsprogramms der PT für Brasilien« (Dezember 2001) sowie
»Regierungsprogramm 2002 Ein Brasilien für alle« (Juli 2002) folgt. Sie lauten:
♦ Wiedererlangung der nationalen Souveränität bei den
Entscheidungen über die Wirtschaftspolitik durch: a) Kapitalverkehrskontrollen, wobei Fristen bestimmt werden müssen, um kurzfristige Verluste
durch spekulatives Kapital zu verhindern; außerdem sollen Investitionen in strategische Bereiche vorgezogen werden zur Entwicklung von noch
nicht verfügbaren Technologien, zur Unterstützung der nationalen Industrie usw.; b)Reorganisation des Finanzsektors und der Zentralbank durch
Verfassungsänderungen, Durchführung einer Steuerreform zur Besteuerung der privaten Banken und Stärkung der nationalen Banken mit
Prioritäten für Entwicklungskredite; c)schrittweise Schaffung von Bedingungen zur Beendigung der Verträge mit dem IWF und
Mobilisierung gegen die Freihandelszone ALCA zusammen mit anderen betroffenen Ländern; d) Senkung der Zinsen und Priorität für soziale
Programme.
♦ Stärkung des demokratischen Charakters des Staates.
♦ Ausbau der strategischen Funktion der staatlichen Unternehmen, die
durch verstärkte Infrastruktur einen wichtigen Beitrag zur nationalen Entwicklung leisten können. Dazu gehört auch die Rettung der
Investitionsfähigkeit dieser Unternehmen, die in den letzten Jahren vom IWF ideologisch angegriffen wurden.
Die Perspektiven der Regierung Lula bleiben nach wie vor offen. Man kann aber mit zwei
Szenarien rechnen:
♦ Eine Kombination konservativer Wirtschaftspolitik mit
Veränderungen zugunsten der Bevölkerung eine Art »Sozialliberalismus«, der im Widerspruch zur Geschichte der PT stehen
würde;
♦ die Umsetzung des Programms »Brasilien für alle«
nach der Übergangsphase; darauf setzt die Leitung der PT.
Wird das zweite Szenario Wirklichkeit, bleibt das bisherige Handeln der Regierung trotzdem
zusammenhanglos, denn die aktuelle Wirtschaftspolitik hat keinen Übergnagscharakter. Sie wird für die gesamte Amtsperiode geplant.
Die aktuelle Politik wird mit Sicherheit zu Spannungen führen. Trotz des Sozialpakts
wird es große Klassenkonflikte geben, die Einfluss auf den Kurs der Regierung haben werden. Zu rechnen ist auch mit enormen Konflikten in der PT. Die
bisherige Einheit beruht auf Lulas Führungs- und Integrationskraft, auf der Tradition der Partei, dem Pflichtgefühl gegenüber der Regierung
und dem Glauben an die Idee der Übergangsperiode. Es kann weitere linke Abgeordnete geben, die sich auf das derzeit gültige Parteiprogramm
beziehen. Die Risiken der Entwicklung sind sehr groß, denn schlechte wirtschaftliche Ergebnisse infolge einer internationalen Wirtschaftskrise
(Kapitalflucht, Abwertung der Währung, Inflation) können ebenfalls zum Misserfolg dieser Regierung führen, die wie keine andere zuvor mit
so vielen Hoffnungen begonnen hat.
Antônio Inácio Andrioli
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