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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2003, Seite 15

Brasilien

Die Widersprüche der Regierung Lula

Eine politische Einschätzung der brasilianischen Regierung unter Führung der PT (Arbeiterpartei) fällt nicht leicht. Hoffnungen und Enttäuschungen sind auch über ein halbes Jahr nach ihrem Amtsantritt immer noch eng verwoben. Die Kritik in der brasilianischen, aber auch in der internationalen Linken wird immer stärker, und nicht von ungefähr: Das Handeln der Regierung entspricht bisher nicht dem Programm der PT im Wahlkampf und erst recht nicht dem traditionellen programmatischen Profil einer der bedeutendsten Linksparteien Lateinamerikas.
In der Zusammensetzung des Kabinetts steht der sog. wirtschaftliche Bereich konzeptionell und personell im Widerspruch zu den anderen Regierungsbereichen. Wie kann man solche Widersprüche erklären und welche Alternativen gibt es, um sie zu überwinden?
Die PT verdankt ihren Wahlsieg mehr dem Misserfolg der Vorgängerregierung Cardoso und der Zersplitterung des bürgerlichen Lagers als einer Linksentwicklung der Bevölkerung. Bereits im Wahlkampf ging die PT Bündnisse ein, die eine »Mitte-Links-Regierung« zu Ergebnis haben mussten. Nach den Wahlen waren die Spielräume für die Regierung nicht gerade groß. Die neoliberale Politik Cardosos hatte die Wirtschaft immer stärker der Herrschaft des internationalen Kapitals unterworfen und hinterließ als »verfluchtes Erbe« neben der Abhängigkeit eine sehr hohe innere und äußere Verschuldung. Damit wurde die Verschärfung der wirtschaftlichen Krise immer wahrscheinlicher; kurzfirstige, einfache Lösungen zeichneten sich überhaupt nicht ab.
Deshalb war klar: Nach dem Wahlsieg würden:
♦  die Finanzmärkte die neue Regierung unter Druck setzen, um einschneidende Veränderungen zu verhindern, und auf die weitere Anpassung der Regierungspolitik an die zentralen Dogmen und Instrumente des internationalen Kapitals (IWF, Weltbank, vor allem auch ALCA) drängen;
♦  die Eliten und die konservativen Medien die Bekämpfung der sog. Radikalen in der PT fordern;
♦  die Regierung mit vielen Spannungen zu rechnen haben, z.B. indem sie das Arbeitsrecht beschneidet oder auf wichtige Reformvorhaben verzichtet;
♦  die Linke und die sozialen Bewegungen weiter zersplittert bleiben;
♦  das Fehlen einer entschlossenen Mobilisierung zur politischen Isolierung der Regierung führen.
Im Wahlkampf hatte sich die PT klar für ein anderes Wirtschaftsmodell als das von Cardoso ausgesprochen. Das Motto ihres Programms »Ein Brasilien für alle« hatte drei zentrale Bestandteile: wirtschaftliches Wachstum; Schaffung von Arbeitsplätzen; Verringerung der Ungleichheit.
Wahltaktisch ging die PT ein Bündnis mit der liberalen PL ein und stellte den Textilgroßunternehmer José Alencar als Vizepräsidenten vor, um die Unternehmer vom gemäßigten Charakter von Lulas Projekt zu überzeugen. Versöhnung und Dialog waren die wichtigsten Schlagworte im Wahlkampf. Politische und soziale Brüche waren erst nach einer Übergangsperiode vorgesehen. Alles war auf die »Beruhigung des Marktes« und die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen mit dem IWF orientiert.
Mit dieser Strategie hat die PT eine politische Ausdehnung ihrer gesellschaftlichen und parlamentarischen Basis nach rechts erreicht, ohne auf der Linken größere Einbußen zu erleiden.
Bei seinem Amtsantritt schlug Lula alle Hoffnung entgegen. Deren Breite stellt aber zugleich auch das Problem dar: Die Regierung muss sehr unterschiedliche Erwartungen erfüllen. Das würde selbst unter guten Bedingungen schon genügend Probleme schaffen. Die Bedingungen sind aber nicht gut.

Ein großes Potenzial

Das Potenzial der Regierung Lula ist groß. Die PT hat sehr erfolgreiche Erfahrungen in Kommunen und Bundesländern sammeln können und Konzepte entwickelt wie den weltweit anerkannten Beteiligungshaushalt, ein Konzept für die Landreform, die Umkehr der Prioritäten zugunsten der Klein- und Mittelbetriebe, das Programm »Primeiro Emprego« (erster Arbeitsplatz für Jugendliche), die Programme »Fome Zero« (Null Hunger) und »Renda Minima« (Mindesteinkommen) zur Armutsbekämpfung, das Programm »Economia Popular e Solidária« (Solidarwirtschaft) zur wirtschaftlichen Organisation von Krisenbetrieben und sozial Ausgegrenzten, das Programm »Saúde da Familia« (ein präventives Gesundheitsprogramm für die Familien) und viele andere, die jetzt auf die Bundesebene übertragen werden.
In fast allen Bereichen stehen der PT die qualifiziertesten Intellektuellen und Wissenschaftler zur Seite — ein Ergebnis der 20-jährigen innovativen und programmatischen Entwicklung der Partei in der brasilianischen Gesellschaft. Es muss auch betont werden, dass diese Regierung in einem zuvor nicht erreichten Grad legitimiert ist, soziale und politische Veränderungen durchzusetzen.
Das größte Problem besteht darin, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik den übrigen Bereichen der Regierung diametral entgegengesetzt ist. Man spricht von einer linken Regierung mit einem liberalen Wirtschaftsprogramm, das die Politik der Regierung Cardoso fortsetzt. Seine Kennzeichen sind: Einhaltung der Verträge mit dem IWF; Anerkennung der Außenschuld; hohe Zinsen; strenge Haushaltspolitik (mit Einsparungen und Kürzungen im Sozialbereich); fortgesetzte Privatisierung der noch verbleibenden staatlichen Banken; Förderung der Unabhängigkeit der Zentralbank sowie die Fortsetzung der »Reformen« der Rentenversicherung und des Arbeitsrechts. Die Erklärung dafür findet man in der Zusammensetzung der wirtschaftspolitischen Gremien und im Konzept der Übergangsperiode der Regierung.
Der wirtschaftliche Bereich in der Regierung wird stark von der PSDB, der Partei des früheren Präsidenten Cardoso, beeinflusst: Finanzen, Zentralbank; Entwicklung, Industrie und Außenhandel; Landwirtschaft, Viehzucht und Versorgung. Die meisten Politiker in diesen Bereichen gehörten bereits der Regierung Cardoso an oder unterstützten sie.
Das wirtschaftspolitische Konzept basiert auf Export, Einsparung und Anlockung von Kapital als Rahmenbedingungen für die Überwindung der wirtschaftlichen Krise. Danach ist eine Phase der Haushaltskonsolidierung vorgesehen und erst danach soll sich eine Periode des Wachstums und der Umverteilung von oben nach unten anschließen. Bisher hat die Politik Erfolg gehabt: Die Exporte sind stark gestiegen, der Real nahm an Wert gegenüber dem US-Dollar deutlich zu, die Inflation bleibt unter Kontrolle und internationales Kapital fließt weiter ins Land. Das im Wahlkampf von den bürgerlichen Parteien prognostizierte Chaos fand nicht statt, und die Gegner wurden von dieser Politik völlig überrascht.

Falsche Voraussetzungen

Der Kernpunkt der Politik ist, das »Vertrauen der Märkte« zu gewinnen, wobei das Problem der Abhängigkeit der Wirtschaft allmählich vernachlässigt wird; man hofft, sie werde sich durch die Exporte und Regulierungen von selbst reduzieren. Das ist eigentlich die Achillesferse des Konzepts, denn »die Märkte« haben überhaupt kein Vertrauen, sie suchen nur die besten Bedingungen, um von der Krise zu profitieren. Ändern sich die Bedingungen, fließen auch keine Spekulationsgelder mehr ins Land.
Die Folgen der sog. Übergangsperiode sind bereits deutlich spürbar: rezessive Tendenzen, geringes oder gar kein wirtschaftliches Wachstum, Zunahme der Verschuldung, der Arbeitslosigkeit, der Armut. Um die Verschuldung zu überwinden, will die Regierung einen Überschuss am Bruttoinlandsprodukt von 4,5% erwirtschaften. Dafür werden Investitionen für Infrastruktur und soziale Programme stark zusammengestrichen, was dem Konzept der Regierung von der aktiven Funktion des Staates in der Wirtschaft widerspricht.
Schließlich stimmt es deshalb auch nicht, dass diese Wirtschaftspolitik einen Übergang darstellt. Denn sie eröffnet keine neuen Spielräume in eine andere Richtung. Im Gegenteil, die Situation bleibt prekär, eine Finanzkrise kann jederzeit wieder ausbrechen, weil sich die Wirtschaftspolitik auf spekulative Gelder stützt, die derzeit von hohen Zinsen angezogen werden. Wie Finanzminister Antonio Paloccci Filho in seiner Antrittrede erklärte, hat dieses Wirtschaftskonzept bereits unter Cardoso begonnen; von der Regierung Lula sind Änderungen daran nicht zu erwarten, lediglich langfristige Regulierungsmaßnahmen. Im Finanzministerium projiziert man schon Wachstumsüberschüsse bis ins Jahr 2011, was ganz klar eine strukturelle Abkehr vom ursprünglichen Programm darstellt.

Alternativen

Wenn die Wirtschaftspolitik nicht dazu taugt, aus der schwierigen Situation herauszukommen, welche Alternativen hätte die Regierung noch an der Hand, um in die angekündigte zweite Entwicklungsphase zu treten? Wie könnte die Abhängigkeit der Wirtschaft reduziert werden und wie könnte das Programm der PT in Übereinstimmung mit den Erwartungen der Mehrheit der Bevölkerung umgesetzt werden?
Ausgangspunkt für eine Alternative wäre die Schaffung neuer politischer Rahmenbedingungen. Die Wirtschaftspolitik Cardosos ist gescheitert und stellt überhaupt kein Vorbild dar; sie basierte auf der Entstaatlichung von Entscheidungsbereichen und der Unterwerfung der Wirtschaft unter die Herrschaft der Finanzmärkte. Die PT hat stets, im Gegensatz zu Cardoso, die Souveränität des Staates gegenüber dem Markt und die Kohärenz des Parteiprogramms mit den internationalen Initiativen gegen die Unterwerfung der Entwicklungsländer unter die Herrschaft der Finanzmärkte betont.
Folgt man dem Programm der PT kann man eine Alternative in drei Punkten formulieren, indem man den Dokumenten »Konzept und Richtlinien des Regierungsprogramms der PT für Brasilien« (Dezember 2001) sowie »Regierungsprogramm 2002 — Ein Brasilien für alle« (Juli 2002) folgt. Sie lauten:
♦  Wiedererlangung der nationalen Souveränität bei den Entscheidungen über die Wirtschaftspolitik durch: a) Kapitalverkehrskontrollen, wobei Fristen bestimmt werden müssen, um kurzfristige Verluste durch spekulatives Kapital zu verhindern; außerdem sollen Investitionen in strategische Bereiche vorgezogen werden — zur Entwicklung von noch nicht verfügbaren Technologien, zur Unterstützung der nationalen Industrie usw.; b)Reorganisation des Finanzsektors und der Zentralbank durch Verfassungsänderungen, Durchführung einer Steuerreform zur Besteuerung der privaten Banken und Stärkung der nationalen Banken mit Prioritäten für Entwicklungskredite; c)schrittweise Schaffung von Bedingungen zur Beendigung der Verträge mit dem IWF und Mobilisierung gegen die Freihandelszone ALCA zusammen mit anderen betroffenen Ländern; d) Senkung der Zinsen und Priorität für soziale Programme.
♦  Stärkung des demokratischen Charakters des Staates.
♦  Ausbau der strategischen Funktion der staatlichen Unternehmen, die durch verstärkte Infrastruktur einen wichtigen Beitrag zur nationalen Entwicklung leisten können. Dazu gehört auch die Rettung der Investitionsfähigkeit dieser Unternehmen, die in den letzten Jahren vom IWF ideologisch angegriffen wurden.
Die Perspektiven der Regierung Lula bleiben nach wie vor offen. Man kann aber mit zwei Szenarien rechnen:
♦  Eine Kombination konservativer Wirtschaftspolitik mit Veränderungen zugunsten der Bevölkerung — eine Art »Sozialliberalismus«, der im Widerspruch zur Geschichte der PT stehen würde;
♦  die Umsetzung des Programms »Brasilien für alle« nach der Übergangsphase; darauf setzt die Leitung der PT.
Wird das zweite Szenario Wirklichkeit, bleibt das bisherige Handeln der Regierung trotzdem zusammenhanglos, denn die aktuelle Wirtschaftspolitik hat keinen Übergnagscharakter. Sie wird für die gesamte Amtsperiode geplant.
Die aktuelle Politik wird mit Sicherheit zu Spannungen führen. Trotz des Sozialpakts wird es große Klassenkonflikte geben, die Einfluss auf den Kurs der Regierung haben werden. Zu rechnen ist auch mit enormen Konflikten in der PT. Die bisherige Einheit beruht auf Lulas Führungs- und Integrationskraft, auf der Tradition der Partei, dem Pflichtgefühl gegenüber der Regierung und dem Glauben an die Idee der Übergangsperiode. Es kann weitere linke Abgeordnete geben, die sich auf das derzeit gültige Parteiprogramm beziehen. Die Risiken der Entwicklung sind sehr groß, denn schlechte wirtschaftliche Ergebnisse infolge einer internationalen Wirtschaftskrise (Kapitalflucht, Abwertung der Währung, Inflation) können ebenfalls zum Misserfolg dieser Regierung führen, die wie keine andere zuvor mit so vielen Hoffnungen begonnen hat.

Antônio Inácio Andrioli

Der Autor ist Mitglied der PT im Bundesstaat Rio Grande do Sul und zurzeit Doktorand an der Universität Osnabrück.


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