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Auf der Arbeitstagung, die die Hans-Böckler-Stiftung am 8. und 9.Juli 2003 in Berlin veranstaltete, ging es um flexible
Arbeitszeit, Arbeitszeitkonten und neue Modelle der Vertrauensarbeitszeit, die das starre »Normalarbeitsverhältnis« abgelöst haben und
es den Beschäftigten erlauben, die Erwerbsarbeitszeit variabel zu verteilen.
Eine Reihe namhafter Referentinnen und Referenten aus Wissenschaft und Gewerkschaften
äußerten sich zu den Themen. Deutlich wurde die Janusköpfigkeit der Modelle, die einerseits mehr Spielraum bieten sollen, betriebliche
Zeitanforderungen und außerbetriebliche Belange besser auszubalancieren (Work-Life-Balance), also mehr Zeitsouveränität zu gewinnen,
andererseits aber auch neue Risiken des ungebremsten betrieblichen Zugriffs auf die Ware Arbeitskraft bergen, indem der zeitliche Rhythmus des Alltagslebens
immer abhängiger von den betrieblichen Zeitvorgaben wird. Vorteile für die Arbeitenden seien die Abschwächung der Dominanz der Arbeit
über das Leben und die bessere Balance beider Bereiche.
Spannungsverhältnisse zwischen Flexibilisierung einerseits und Selbstorganisierung
andererseits finden sich vor allem im frauendominierten Niedriglohnbereich. Ganz offensichtlich »wollen« viele Frauen ihre »Freizeit«
auf Kosten der materiellen Vergütung ausdehnen. Deutlich wurde einerseits, dass die Arbeitszeitlandschaft immer bunter wird, Arbeitszeiten immer
kürzer, flexibler und heterogener, immer atypischer; andererseits die flexiblere Gestaltung der Arbeitszeit nicht selten kollidiert mit den auf die
»Normalarbeitszeit« und die »Normalerwerbsbiografie« zugeschnittenen Systemen sozialer Sicherung.
Auch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Exekutive orientieren sich nach wie vor weitgehend
an diesem Leitbild. Eingeführt werden die Modelle oft top-down, das minimiert die Optionalität für die Beschäftigten und führt
zu subjektiver Beschäftigungsunsicherheit, auch oder gerade dann, wenn die Verfahrensregeln und Abstimmungsprozesse an teilautonome Arbeitsgruppen
und damit an die Arbeitenden delegiert werden.
Leider wurde meist mit einem engen Arbeitsbegriff operiert, zum Beispiel wenn die Hoffnung
geäußert wurde, dass durch solche Modelle die Dominanz der Arbeit über das Leben abgeschwächt würde, oder eine Integration
von Arbeit und Leben auf dem Hintergrund ständig wachsender Erwerbsbeteiligung der Frauen, die Familie und Beruf vereinbaren müssen
befürwortet wurde. Was ist hier »Arbeit« und was ist »Leben«? Entgrenzte und flexibilisierte Arbeitsverhältnisse
sind für viele Frauen längst »normal«. Über ein Drittel der abhängig beschäftigen Frauen arbeitet bereits weniger als
die »Normalarbeitszeit«. Zeiten der Unterbrechung, verbunden mit der Übernahme unbezahlter Arbeit in Haus- und
Sorgeabeitsverhältnisse, sog. ehrenamtlicher Arbeit, und der Wiedereingliederung in die Erwerbsarbeit, oft in Form von Teilzeitarbeit oder
geringfügiger Beschäftigung, neuerdings auch Teleheimarbeit und arbeitnehmerähnliche »neue Selbstständigkeit« (Ich-
AGs) stellen in ihrer Erwerbsbiografie schon lange das »Normalarbeitsverhältnis« dar. Frauen sind die Pionierinnen dieser neuen
Arbeitsorganisation. Allzu oft auf Kosten der eigenständigen Existenzsicherung, auch im Alter. Freilich sind mit zunehmender Entgrenzung auch
männliche Arbeitnehmer mehr und mehr betroffen.
Die unterschiedliche Nutzung der »neuen Freiheiten« durch Frauen und
Männer ist noch wenig beschrieben. Ganz offensichtlich wurde der »Gestaltungsbedarf« für Gewerkschafter. Denkbare Szenarien
für die Zukunft sind: Der Bedeutungsverlust des »Normalarbeitsverhältnisses« nimmt durch noch mehr Vielfalt bei den
Beschäftigungsformen zu. Oder das »Normalarbeitsverhältnis« wird durch Abbau von Regulierungen »reformiert«, mit
der Folge, dass Auflösungserscheinungen und damit verbundene Unsicherheiten gebremst werden.
Fazit: Vieles ist anders, aber deshalb nicht alles besser. Die in der Einladung gestellte Frage,
»welche Zeitmuster und Regelungsvoraussetzungen« gegeben sein müssen, »damit sich die zeitlichen Anforderungen von Arbeit und
Leben, von Flexibilität und sozialer Sicherheit vereinbaren lassen«, und welche Handlungsanforderungen sich daraus für die Tarifpolitik,
für die betriebliche Interessenvertretung und für die Gestaltung sozialer Sicherungssysteme ergeben, wurde nicht annähernd beantwortet. Wie
weiter? Noch mehr Vielfalt oder lieber doch die 30-Stunden-Woche für alle? Das bleibt die Frage der inner- und außerbetrieblichen Akteure.
Gisela Notz
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