SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2003, Seite

Zwischen Euphorie und Kater

Über linke Schwierigkeiten mit der Mobilisierung

Der Rückzug der Gewerkschaften aus der Mobilisierung gegen die Agenda 2010 schafft für die politische und soziale Linke in Deutschland eine neue, schwierige Situation.

In letzter Minute hat sich Attac doch noch aufgerafft, die bundesweite Demonstration gegen die Agenda 2010 am 1.November in Berlin aktiv zu unterstützen. Das ist höchst begrüßenswert; dennoch zeigt die gemeinsame Erklärung zweier führender Attac-Mitglieder, aber auch die Debatte auf und nach der Aktionskonferenz Ende August, dass die Linke in Deutschland vor einer Neuorientierung steht.
Die Agenda 2010 ist ein Systembruch, das haben viele gesagt. Sie stellt die materielle Grundlage des sozialen Konsens in Frage, wie er nach dem Krieg formuliert wurde. Damals sicherten die Besatzungsmächte die Fortexistenz der bürgerlichen Herrschaft; der Preis dafür war die Herstellung weitgehender materieller Sicherheit für die abhängig Beschäftigten und weitgehende Rechte für Gewerkschaften und Betriebsräte — soweit sie willig waren, sich in das Korsett von Antikommunismus und Sozialpartnerschaft zu fügen.
Heute sind einige Grundvoraussetzungen für den Konsens gefallen. Dafür tobt der Konkurrenzkampf um Weltmarktanteile in einer globalisierten Wirtschaft, und die Unternehmer sehen kein Hindernis mehr, diese Lasten voll auf die abhängig Beschäftigten abzuwälzen. Wenn die Gewerkschaften dem nicht zustimmen, wird ihnen umstandslos bedeutet, man brauche sie nicht mehr. Ein Fundament bricht zusammen, aber das Massenbewusstsein hat Schwierigkeiten, diesen Vorgang in seiner ganzen Tragweite zu verstehen und darauf zu reagieren.
Viele Menschen, die auch weiterhin unbefristete Arbeitsverträge haben, wähnen sich noch in Sicherheit, während andere, die schon in prekärer Beschäftigung, erwerbslos oder in Rente sind, sich bedrohter fühlen und vereinzelt, verlassen und ohnmächtig. Immer noch gibt es Umfragemehrheiten, die die Streichung der Arbeitslosenhilfe für richtig halten, während die Streichung des Krankengelds auf überwältigende Ablehnung stößt.
Dass die neuen Vorschläge für den Kündigungsschutz geeignet sind, auch Stammbelegschaften schneller in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, und dass Arbeitslose sich nach Hartz nicht mehr jahrelang irgendwie durchmogeln können, sondern nach kürzester Zeit schutzlos auf dem Zahnfleisch laufen, ist noch gar nicht richtig ins Bewusstsein gedrungen. Der Chor der Medien verkündet geschlossen, »wir« könnten uns den Sozialstaat nicht mehr leisten, und meinen damit, dass es zur Bereicherung der Reichen keine Alternative gibt. Über den Inhalt, jedenfalls aber über die Folgen der Agenda für die Einzelnen schweigen sie sich zumeist aus.
Das sind einige der Gründe, warum der grobe Klotz derzeit nicht mit einem groben Keil beantwortet wird. Jeden Tag wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben, aber die Protestaktionen sind klein. Widerstand formiert sich an vielen Orten, aber er ist gering und es gibt keinen Grund anzunehmen, wie durch ein Wunder würden am 1.November auf der zentralen Demonstration in Berlin auf einmal Zehn- oder gar Hunderttausende zusammenströmen. Wer das meint, wie einige Gruppen der radikalen politischen Linken, der hat die neuen Herausforderungen noch nicht begriffen.
Ob der Kreis derer, die sich betroffen oder bedroht fühlen, groß oder klein ist, hängt immer noch davon ab, ob große Organisationen wie die Gewerkschaften oder die Wohlfahrtsverbände oder die Kirchen ihre Anhängerschaft aufklären und mobilisieren. Wie aber ist das mit Hartz und Rürup gelaufen? Da saßen/sitzen die Gewerkschaften mit in der Regierungskommission; sie wie auch die Wohlfahrtsverbände haben vor der letzten Bundestagswahl Hartz abgenickt, mit dem windigen Versprechen, an der Arbeitslosenhilfe würde nicht gerüttelt; nach den Wahlen wurde es sofort wieder fallen gelassen. Die Kirchen haben sich auf die Seite derer geschlagen, die eine »Reform« des Sozialstaats für unabwendbar halten; die Regierungslinke zeichnet verantwortlich für die Politik und die PDS fällt als Oppositionspartei aus. Da bleiben nur noch soziale und politische Kleinstkräfte übrig, und die sind zu allem Überfluss zersplittert. Das deutsche Sozialforum, das in der Lage gewesen wäre, den zersplitterten Protest zu bündeln, gibt es noch nicht.
Auch Attac zeichnet die Situation zu rosig. Im Februar auf dem Göttinger Ratschlag wurde die kontroverse Unterschrift unter das »DGB-Venro-Papier« damit begründet, »die Gewerkschaften« würden sich damit in Distanz zur SPD und auf Attac zubewegen. Große Hoffnungen schimmerten durch, einen neuen Bündnispartner gefunden zu haben. Diese Hoffnungen haben im Sommer einen mehrfachen Dämpfer erhalten: Die Gewerkschaften haben im Mai halbherzig mobilisiert, sind nach dem »Trotz allem weiter so« Schröders auf dem SPD-Parteitag eingeknickt und geben jetzt zum besten, an eine bundesweite Mobilisierung im Herbst würden sie nicht denken. Hinzu kommt die gewaltige Niederlage der IG Metall im Tarifkampf, die jede Vorstellung von einer Durchsetzung weiterer Arbeitszeitverkürzung erst einmal auf den St.Nimmerleinstag verschiebt. Der Richtungskampf in der IGM ist alles andere als ausgestanden, die u.a. auch von Attac prognostizierte »historische Ablösung der Gewerkschaften von der SPD« längst nicht vollzogen.
Die Schlussfolgerung, die die genannte Attac-Erklärung zieht, ist paradox: Zum einen betont sie, eine bundesweite Demonstration, an der sich »nur ein paar Zehntausend Leute« beteiligen, wäre ein Flop. Zum anderen überbetont sie die Tendenzen des Protests und diskutiert nicht die Schwierigkeiten, die das Massenbewusstsein notwendigerweise damit hat, nachzuvollziehen, dass der gesellschaftlichen Konsens zusammenbricht, dass es sich von diesem Trümmerhaufen aber nicht begraben lassen darf, sondern Ansatzpunkte für eigenes Handeln daraus gewinnen muss. Die Abnabelung von der Schröderpolitik ist auch eine Abnabelung von den traditionellen Großorganisationen, SPD wie Gewerkschaften, für die es noch keinen Ersatz gibt, nicht einmal ansatzweise. Man darf sich nicht wundern, dass dies ein langwieriger, komplizierter Prozess wird, und er erfordert mehr als schwungvolle Aufrufe und die »richtige politische Linie«.
Eine Alternative wird man nicht aufbauen können, wenn man darauf verzichtet, als Subjekt zu agieren. Eine bundesweite Demonstration ist schon die richtige Antwort; wir müssen nur die geeigneten Formen finden, die »normale Menschen« auch ansprechen.

Angela Klein

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang