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In letzter Minute hat sich Attac doch noch aufgerafft, die bundesweite Demonstration gegen die Agenda 2010 am 1.November in
Berlin aktiv zu unterstützen. Das ist höchst begrüßenswert; dennoch zeigt die gemeinsame Erklärung zweier führender
Attac-Mitglieder, aber auch die Debatte auf und nach der Aktionskonferenz Ende August, dass die Linke in Deutschland vor einer Neuorientierung steht.
Die Agenda 2010 ist ein Systembruch, das haben viele gesagt. Sie stellt die materielle
Grundlage des sozialen Konsens in Frage, wie er nach dem Krieg formuliert wurde. Damals sicherten die Besatzungsmächte die Fortexistenz der
bürgerlichen Herrschaft; der Preis dafür war die Herstellung weitgehender materieller Sicherheit für die abhängig Beschäftigten
und weitgehende Rechte für Gewerkschaften und Betriebsräte soweit sie willig waren, sich in das Korsett von Antikommunismus und
Sozialpartnerschaft zu fügen.
Heute sind einige Grundvoraussetzungen für den Konsens gefallen. Dafür tobt der
Konkurrenzkampf um Weltmarktanteile in einer globalisierten Wirtschaft, und die Unternehmer sehen kein Hindernis mehr, diese Lasten voll auf die
abhängig Beschäftigten abzuwälzen. Wenn die Gewerkschaften dem nicht zustimmen, wird ihnen umstandslos bedeutet, man brauche sie
nicht mehr. Ein Fundament bricht zusammen, aber das Massenbewusstsein hat Schwierigkeiten, diesen Vorgang in seiner ganzen Tragweite zu verstehen und
darauf zu reagieren.
Viele Menschen, die auch weiterhin unbefristete Arbeitsverträge haben, wähnen
sich noch in Sicherheit, während andere, die schon in prekärer Beschäftigung, erwerbslos oder in Rente sind, sich bedrohter fühlen und
vereinzelt, verlassen und ohnmächtig. Immer noch gibt es Umfragemehrheiten, die die Streichung der Arbeitslosenhilfe für richtig halten,
während die Streichung des Krankengelds auf überwältigende Ablehnung stößt.
Dass die neuen Vorschläge für den Kündigungsschutz geeignet sind, auch
Stammbelegschaften schneller in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, und dass Arbeitslose sich nach Hartz nicht mehr jahrelang irgendwie durchmogeln
können, sondern nach kürzester Zeit schutzlos auf dem Zahnfleisch laufen, ist noch gar nicht richtig ins Bewusstsein gedrungen. Der Chor der
Medien verkündet geschlossen, »wir« könnten uns den Sozialstaat nicht mehr leisten, und meinen damit, dass es zur Bereicherung der
Reichen keine Alternative gibt. Über den Inhalt, jedenfalls aber über die Folgen der Agenda für die Einzelnen schweigen sie sich zumeist aus.
Das sind einige der Gründe, warum der grobe Klotz derzeit nicht mit einem groben Keil
beantwortet wird. Jeden Tag wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben, aber die Protestaktionen sind klein. Widerstand formiert sich an vielen Orten, aber er ist
gering und es gibt keinen Grund anzunehmen, wie durch ein Wunder würden am 1.November auf der zentralen Demonstration in Berlin auf einmal Zehn-
oder gar Hunderttausende zusammenströmen. Wer das meint, wie einige Gruppen der radikalen politischen Linken, der hat die neuen Herausforderungen
noch nicht begriffen.
Ob der Kreis derer, die sich betroffen oder bedroht fühlen, groß oder klein ist,
hängt immer noch davon ab, ob große Organisationen wie die Gewerkschaften oder die Wohlfahrtsverbände oder die Kirchen ihre
Anhängerschaft aufklären und mobilisieren. Wie aber ist das mit Hartz und Rürup gelaufen? Da saßen/sitzen die Gewerkschaften mit in
der Regierungskommission; sie wie auch die Wohlfahrtsverbände haben vor der letzten Bundestagswahl Hartz abgenickt, mit dem windigen Versprechen,
an der Arbeitslosenhilfe würde nicht gerüttelt; nach den Wahlen wurde es sofort wieder fallen gelassen. Die Kirchen haben sich auf die Seite derer
geschlagen, die eine »Reform« des Sozialstaats für unabwendbar halten; die Regierungslinke zeichnet verantwortlich für die Politik und
die PDS fällt als Oppositionspartei aus. Da bleiben nur noch soziale und politische Kleinstkräfte übrig, und die sind zu allem Überfluss
zersplittert. Das deutsche Sozialforum, das in der Lage gewesen wäre, den zersplitterten Protest zu bündeln, gibt es noch nicht.
Auch Attac zeichnet die Situation zu rosig. Im Februar auf dem Göttinger Ratschlag
wurde die kontroverse Unterschrift unter das »DGB-Venro-Papier« damit begründet, »die Gewerkschaften« würden sich
damit in Distanz zur SPD und auf Attac zubewegen. Große Hoffnungen schimmerten durch, einen neuen Bündnispartner gefunden zu haben. Diese
Hoffnungen haben im Sommer einen mehrfachen Dämpfer erhalten: Die Gewerkschaften haben im Mai halbherzig mobilisiert, sind nach dem
»Trotz allem weiter so« Schröders auf dem SPD-Parteitag eingeknickt und geben jetzt zum besten, an eine bundesweite Mobilisierung im
Herbst würden sie nicht denken. Hinzu kommt die gewaltige Niederlage der IG Metall im Tarifkampf, die jede Vorstellung von einer Durchsetzung
weiterer Arbeitszeitverkürzung erst einmal auf den St.Nimmerleinstag verschiebt. Der Richtungskampf in der IGM ist alles andere als ausgestanden, die
u.a. auch von Attac prognostizierte »historische Ablösung der Gewerkschaften von der SPD« längst nicht vollzogen.
Die Schlussfolgerung, die die genannte Attac-Erklärung zieht, ist paradox: Zum einen
betont sie, eine bundesweite Demonstration, an der sich »nur ein paar Zehntausend Leute« beteiligen, wäre ein Flop. Zum anderen
überbetont sie die Tendenzen des Protests und diskutiert nicht die Schwierigkeiten, die das Massenbewusstsein notwendigerweise damit hat,
nachzuvollziehen, dass der gesellschaftlichen Konsens zusammenbricht, dass es sich von diesem Trümmerhaufen aber nicht begraben lassen darf, sondern
Ansatzpunkte für eigenes Handeln daraus gewinnen muss. Die Abnabelung von der Schröderpolitik ist auch eine Abnabelung von den traditionellen
Großorganisationen, SPD wie Gewerkschaften, für die es noch keinen Ersatz gibt, nicht einmal ansatzweise. Man darf sich nicht wundern, dass dies
ein langwieriger, komplizierter Prozess wird, und er erfordert mehr als schwungvolle Aufrufe und die »richtige politische Linie«.
Eine Alternative wird man nicht aufbauen können, wenn man darauf verzichtet, als
Subjekt zu agieren. Eine bundesweite Demonstration ist schon die richtige Antwort; wir müssen nur die geeigneten Formen finden, die »normale
Menschen« auch ansprechen.
Angela Klein
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