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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2003, Seite 12

Venezuela

Neue soziale Initiativen und direkte Demokratie

Die politische Krise in Venezuela geht weiter. Die Chávez-Gegner hoffen darauf, die Macht wieder übernehmen zu können, auf die sie trotz ihrer Niederlage im Rahmen der Demokratie Anspruch erheben.
Der Klassenkampf hat seit der aufeinanderfolgenden Angriffe, die Hugo Chávez‘ »bolivarianische Revolution« einstecken musste, nicht an Intensität verloren. Zu diesen Schlägen gehörten der versuchte Staatsstreich im April 2002, der Aufruf zur militärischen Erhebung im Oktober, der Ausstand mit Aufstandscharakter im Dezember und Januar.
Trotz ihres Scheiterns genießt die Opposition immer noch die Sympathien eines bedeutenden Teils der höheren Schichten Venezuelas und der Massenmedien. Die Regierung ist dennoch in die Offensive gegangen und zeigt auf der Straße, dass sie immer noch über eine bedeutende Unterstützung bei den Massen verfügt.
Am 23.8. demonstrierten 600000 Menschen in Caracas für die Politik der Regierung. Drei Tage zuvor waren 200000 für die Opposition auf die Straße gegangen.

Neue Gewerkschaftszentrale

Trotz der Verluste, hervorgerufen durch die Lähmung der Ölindustrie infolge des Ausstands im Dezember und Januar, hat die Regierung beschlossen, im Jahr 2003 in die Offensive zu gehen. Der erste Jahrestag des Staatsstreichs vom 11.April bot Gelegenheit für eine internationale Solidaritätsversammlung unter Beteiligung eines Gutteils der lateinamerikanischen (MST/Brasilien, CUT/Brasilien, MAS/Bolivien, FMLN/ El Salvador u.a.) und europäischen (u.a. LCR/Frankreich) radikalen Linken.
Unmittelbar danach wurden zwei Initiativen im sozialen Bereich ergriffen: die Alphabetisierung von einer Million registrierter Analphabeten sowie der Plan Barrio adentro, der die Entsendung Hunderter freiwilliger Ärzte (zum größten Teil Kubaner) in die Armenviertel von Caracas und anderer Städte vorsieht.
Im August fand der erste Kongress der neuen Gewerkschaftszentrale UNT statt. Diese konkurriert mit dem korrupten Gewerkschaftsdachverband CTV, der an allen Versuchen zur Destabilisierung der aktuellen Regierung beteiligt war. Die UNT wurde von neuen Gewerkschaften und Verbänden gegründet, die sich mit dem mit den Unternehmern verbundenen putschistischen Verband überworfen hatten. Zur neuen Zentrale gehört der Verband der Ölarbeiter, dessen Mitglieder einen entscheidenden Anteil an der Wiederingangsetzung der Industrie im Februar und März hatten, und die Verbände, die die Arbeiterkontrolle in den Betrieben verteidigen. Schon kurz nach ihrer Gründung traten der UNT über 1500 Einzelgewerkschaften bei.
Die Leitung der UNT fühlt sich bei ihrer demokratischen Funktionsweise dem Prinzip der horizontalen Entscheidungsfindung verpflichtet und umfasst etwa eine Million Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, also bereits mehr als der alte Verband CTV.
Währenddessen scheint Chávez langsam sein Misstrauen gegenüber den politischen Parteien zu verlieren, da er gegen die Bildung einer Einheitsfront der politischen Kräfte, die den »revolutionären Prozess« unterstützen, keinen Einspruch hat. Diese Einheitsfront muss bestrebt sein, die Gesamtheit der an der Bewegung Beteiligten in dieser vorrevolutionären Situation politisch zu vereinigen.

Strategien der Opposition
Die Opposition hat jedoch ihr einziges Ziel — Chávez mit allen Mitteln zu stürzen und selbst an die Macht zurückzukehren — nicht aufgegeben. Nachdem sie den Militärputsch vom April 2002 mit dem Argument gerechtfertigt hatte, dass das Land in zwei Wochen zusammenbrechen würde, rief sie Monate später dazu auf, die Ölindustrie lahmzulegen, was für das Land Verluste von 90 Millionen Dollar pro Tag zur Folge hatte.
Das Oberkommando der Streitkräfte beantwortete diese Politik mit seiner ersten offiziellen Loyalitätserklärung gegenüber der Verfassung, was Ausdruck der erfolgreichen Säuberung der Armeespitze nach dem Staatsstreich war.
Angesichts des wiederholten Scheiterns ihrer Aufstandsstrategien und des Widerstands der lebendigen Kräfte des »revolutionären Prozesses« sah sich die Opposition gezwungen, zu einer von der — ihr verhassten, aber in einer Volksabstimmung 1999 gebilligten — »bolivarianischen« Verfassung vorgesehenen Lösung Zuflucht zu nehmen: die Absetzung gewählter Repräsentanten (in diesem Falle des Präsidenten) nach Verstreichen der ersten Hälfte ihrer Amtszeit durch eine Volksabstimmung, eine Weltpremiere für ein Land mit repräsentativer Demokratie.
Damit Artikel 72 der Verfassung, der eine solche Volksabstimmung ermöglicht, in Kraft treten kann, muss die Opposition dem jüngst vom Obersten Gerichtshof nominierten Nationalen Wahlrat mindestens 2 Millionen Unterschriften vorlegen. Mittlerweile hat die Opposition 2,7 Millionen Unterschriften abgegeben, die jedoch bereits seit Ende 2002 — vor der von der Verfassung vorgesehenen Zeitspanne und weit vor dem Ablauf der ersten Hälfte der Amtszeit des Präsidenten — gesammelt worden waren. Aus diesem Grund — und wegen weiterer Ungereimtheiten (so hatten sich zahlreiche Bürger darüber beschwert, dass ihre Unterschrift ohne ihre Zustimmung verwendet wurde) — hat der Nationale Wahlrat die von der Opposition präsentierten Unterschriften für ungültig erklärt. Die Opposition kündigte nun eine erneute massive Unterschriftensammlung für den 5.Oktober an.
Im Übrigen weiß die Opposition, dass auch Referenden gegen ihre gewählten Vertreter stattfinden können. Die Anhänger der »Revolution« werden mit Freuden die Mitglieder der Opposition abwählen, die seinerzeit auf Chávez‘ Wahlliste gewählt wurden, aber mittlerweile zur Opposition übergetreten sind. Da die Hälfte ihrer Amtszeit schon vor einem Jahr verstrichen ist, könnten sie noch vor dem Präsidenten »Opfer« eines Referendums werden. Ganz oben auf der Liste befindet sich der Bürgermeister von Caracas, Alfredo Pena, der kürzlich seine Treue zur Meinungsfreiheit Ausdruck verlieh, als er seine Polizei gegen einen Stadtteilfernsehsender, Catia TV, aufmarschieren ließ.
Referendum oder nicht — für 2004 sind Wahlen vorgesehen. Dieses Wahljahr wird für den laufenden Prozess entscheidend sein, der so verkannt wie innovativ ist und für den die lebendigen Kräfte ihr Leben in die Waagschale werfen. Sie haben der »bolivarianischen Revolution« bereits einen hohen Tribut gezahlt. Die Venezolaner, die nach Chávez‘ Wahl in die von ihm geschlagene offene Bresche geströmt sind, müssen diese Erfahrung der »partizipativen Demokratie« fortsetzen und die »Rolle des Volkes als Protagonisten« fest verankern.
Um dies zu erreichen, ist es nötig die von den Eigentümern der großen Kommunikationsmittel errichtete Zwangsjacke der Medien zu zerreißen. Dazu ist auch unsere internationalistische Solidarität erforderlich.

Edouard Diago/d.Red.

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