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Die israelische Journalistin Amira Hass, Reporterin der linksliberalen Tageszeitung Haaretz lebte in den 90er Jahren im palästinensischen
Gazastreifen und hat ihre Berichte und Erfahrungen zu einem dicken Buch vereinigt, das nicht nur den Lebens- und Arbeitsalltag in Gaza unter den
Bedingungen der sog. »inneren Abriegelung« und »stillen Zerstörung« beschreibt. Ihre spannenden Reportagen bieten
auch einen guten Einblick in das politische Leben und Funktionieren des palästinensischen Rumpfstaates, wie er sich seit der Teilautonomie
herausgebildet hat. Kritisch gegen beide Seiten des Konflikts, betont Hass jedoch die Verantwortung der israelischen Politik und zeigt auf, wie das
»Gefängnisleben« in Gaza zum Modell auch der gegenwärtigen Zerstückelung des Westjordanlands wird, wie sich
jahrzehntelange Kontrolle und Unterdrückung bei den Palästinensern in Desillusionierung, Ohnmacht, Schwäche und das tiefsitzende
Gefühl, betrogen worden zu sein, verwandelt haben. Das macht ihr Buch zu einem wichtigen Aufklärungswerk in einer Zeit, die von
reaktionären Mythen über »die« Palästinenser strotzt.
Im Nachwort zur deutschen Ausgabe betont sie, dass es falsch wäre, ihre schonungslose
Beschreibung Gazas als eines »Gefängnisses« mit dem »Ghetto« zu vergleichen, denn eine solche Parallele sei nicht neutral und
würde einen unzulässigen Vergleich zum Schicksal des jüdischen Volkes unter dem Faschismus ziehen.
Diese Sensibilität fehlt dem Jerusalemer Soziologen Baruch Kimmerling, dessen
jüngstes Buch allzu großspurig eine »speziell israelische Form des Faschismus« konstatiert.
In der Einführung seines emphatisch geschriebenen Werkes über den Krieg Israels gegen die Palästinenser spricht Kimmerling von
»faschistischen Tendenzen« und zeigt sogleich, dass ihm die eigene moralische Betroffenheit einen intellektuellen Streich gespielt hat. Er versteht
nämlich unter solcherart Tendenzen 1. die drastische Beschneidung der Meinungsfreiheit und die Tendenzen, innerisraelische Opposition als
»Landesverrat« zu denunzieren, 2. den verstärkten Einfluss der Militärs auf Politik und Medien, 3. das den Parlamentarismus
aushöhlende informell-autoritäre Regime des Ariel Sharon, sowie 4. der »entscheidende Faktor für Israels Orientierung hin
zum Faschismus« die in Israel zunehmende Ansicht, alle »Andersartigen« »grundsätzlich als existenzielle Bedrohung
ganz Israels und jedes einzelnen Israeli anzusehen«. Was hat dies alles mit dem Faschismus zu tun? Was Kimmerling mit Verve beschreibt, ist die im
Kapitalismus »natürliche« Tendenz zu einer autoritären Involution der bürgerlichen Demokratie unter den spezifischen
Bedingungen neoliberaler Ethnisierung und im noch spezifischeren Kontext Israels/Palästinas.
Man erfährt bei Kimmerling viel Erhellendes über Geschichte und Gegenwart der
israelischen Gesellschaft und Politik. Doch immer wieder wird diese offensichtlich allzu hastig niedergeschriebene Darstellung von seiner Unfähigkeit
gestört, das, was er in seinem Buch umfassend und treffend beschreibt, auf den sog. Begriff zu bringen. Welchen intellektuellen Nährwert hat es,
von Gaza als einem »Konzentrationslager« zu sprechen und von der ethnischen Säuberung als einem »Politizid«? Der
Nährwert dürfte geringer sein als die Gefahr des Missverständnisses.
Wie man dasselbe Thema mit einem anderen, passenderen Vergleichsmaßstab behandeln
kann, zeigt die israelische Linguistin und Friedensaktivistin Tanya Reinhart.
Ihr Buch untersucht detailliert die einzelnen Friedensabkommen des Oslo-Friedensprozesses und zeigt auf, dass die israelische Verhandlungsseite zu
keinem Zeitpunkt zu ernsthaften Zugeständnissen in den zentralen Streitfragen einer Friedenslösung (v.a. die Auflösung der israelischen
Siedlungen auf palästinensischem Gebiet und die Jerusalemfrage) bereit gewesen ist. Sie beleuchtet die Methoden der Verhandlungsführung ebenso
wie sie aufzeigt, dass diese Mittel der jahrzehntelang erfolgreichen Verfolgung der expansionistischen Ziele des israelischen Establishments dienen.
Reinhart sieht zwei Pole der israelischen Politik. Zum einen den Versuch, die
Palästinenserfrage im Sinne der südafrikanischen Apartheidpolitik zu lösen. Und zum anderen den Versuch, sie mittels einer gezielten
ethnischen Säuberung zu lösen. War der Oslo-Friedensprozess mehr ein Versuch der Durchsetzung der Apartheid, haben wir es nun vorwiegend mit
dem Versuch einer ethnischen Säuberung zu tun, die in wesentlich drei Stufen ablaufe. Zuerst sei die ökonomische Basis der
palästinensischen Gesellschaft systematisch zerstört worden, um dann im Feldzug des Jahres 2002 die politische, zivile und
administrative Infrastruktur des embryonalen Palästinenserstaats systematisch zu zerstören. Die dritte Stufe, deren Zeugen wir aktuell gerade
werden, ist dabei die gezielte Ermordung und Vertreibung der politischen und zivilen Elite der palästinensischen Bevölkerung.
In einem überzeugenden Plädoyer für den sofortigen und
vollständigen Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten sieht Reinhart die einzige Friedensperspektive im Nahen Osten. Und es sei dabei
»nicht die israelische Bevölkerung, die Fortschritte verhindert, sondern das politische System Israels, das in Wirklichkeit den Willen der Mehrheit
blockiert«.
Genau dies bestreitet jedoch der Tel-Aviver Historiker und Politologe Moshe Zuckermann in
seinem ausgesprochen gehaltvollen, aber sehr kurz geratenen (und unverschämt teuren) Essay.
Auch Zuckermann betont, dass man »getrost von einer spezifisch israelischen Form der ethnischen Säuberung reden [darf]«, dass
der Schlüssel zum Konflikt in Israel liegt (»Sharon und seine Partner haben die Gewalt bestellt und nun feiert die Gewalt«) und dass
keine Lösung denkbar ist ohne das Ende der israelischen Okkupation. Die massive Unterstützung von Sharons Kriegskurs durch die Mehrheit der
israelischen Bevölkerung liest er jedoch als Hinweis darauf, dass es eine so berechtigte wie paralysierende Angst vor einem innerjüdischen
Bürgerkrieg gebe. Israel stehe an einer historischen Weggabelung zwischen Skylla und Charybdis: Ziehe es sich aus den besetzten Gebieten zurück,
provoziere es einen bewaffneten Kampf mit Teilen der religiös aufgeladenen Siedlerbewegung. Ziehe es sich nicht zurück, laufe die gesamte Logik
auf einen mehr oder weniger binationalen Staat hinaus, in dem die Juden drohen, zur Minderheit zu werden. Beide Varianten die dritte
Möglichkeit einer gewaltsamen Vertreibung der Palästinenser hält Zuckermann für unwahrscheinlich, da sie zu einem israelisch-
arabischen Krieg führen dürfte stellen das jüdisch-zionistische Selbstverständnis Israels, und damit auch die bisherige Existenz
des Staates Israel nachhaltig in Frage.
Ausgehend von dieser These, die Zuckermann auch im Interview mit der SoZ (3/03)
ausführlich dargelegt hat, blickt er auf die besondere Geschichte und die sich daraus entwickelnden Widersprüche des gegenwärtigen
jüdischen Staates.
Sein Blick auf die innere Verfasstheit der israelischen Gesellschaft ist so spannend wie
konzentriert. Er zeigt die ethnischen und innerjüdischen Spaltungslinien ebenso auf wie die sozialen und politischen und er macht deutlich, dass die
gegenwärtig zentrale und akute Konfliktachse »das Problem der allseits beschworenen ›Versöhnung‹ zwischen
Staatsräson und religiöser raison dętre« ist, die Frage der zionistischen Identität: »Die in der Selbstdefinition angelegte
Partikularität eines Staates der Juden verträgt sich schlechterdings nicht mit dem universellen Anspruch einer modernen Demokratie«, so
Zuckermann über die »Aporie israelischen Daseins«.
Damit macht sich Zuckermann natürlich zur Zielscheibe jener neuen zynischen
Intelligenz, die als »Antideutsche« Linke unsere politische Kultur heimsucht.
Der israelische Historiker und Kolumnist Segev verfolgt in seiner anregenden Geschichte der zionistischen Ideologie die Wandlungen der israelischen
Gesellschaft. Er zeigt dabei nicht nur auf, wie vielfältig »der« Zionismus seit seinen Anfängen war und noch ist. Vor allem geht es ihm
um eine Darstellung des mal mehr, mal weniger latenten Widerspruchs zwischen Zionismus und orthodoxem Judentum. Dies ist für Segev insofern von
zentraler Bedeutung, als er gerade die innerisraelische Entwicklung seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 als einen »Kulturkampf« zwischen altem
und modernem Zionismus auf der einen und neuer Orthodoxie auf der anderen Seite interpretiert. Israel habe »eine Reise Richtung Judentum
angetreten«, die Segev selbst für verhängnisvoll hält.
Detailliert zeichnet er die gesellschaftliche »Amerikanisierung« Israels nach und
sieht darin das begrüßenswerte Aufkommen eines »Post-Zionismus«, der zwar noch immer an der zionistischen Idee eines
»Groß-Israel« festhalte, aber gerade aus historischer Einsicht und humanitärer Moral den historischen und politischen Kompromiss mit
den Palästinensern, die Zwei-Staaten-Lösung fordere. Dieser aus dem Zionismus erwachsende und noch immer organisch mit ihm verbundene
Postzionismus habe mit zum Oslo-Friedensprozess geführt und sei mit dessen Scheitern vorerst von der israelischen Tagesordnung wieder verschwunden.
So spannend die These eines möglichen postzionistischen Zionismus auch ist, sie kann
bedenkliche apologetische Züge nicht verbergen. Zum einen verbirgt sich hinter der Affirmation der »Amerikanisierung« eine Apologie
neoliberaler »Normalität«. Und zum anderen verbleibt Segev an der zionistischen Oberfläche, wenn er die Verantwortung für die
Rückkehr Israels in den Schoß des alten jüdischen Zionismus (gerade hier wird auch er wieder begrifflich unscharf) dem
palästinensischen Terror zuweist. Anders Zuckermann: Er betont die Verantwortung der israelischen Besatzung und polemisiert gegen den
Normalisierungsdiskurs.
Zuckermann und Segev treffen sich in ihrer Sympathie für den historischen Zionismus
und dem Bewusstsein, dass es gerade dieses zionistisch-jüdische Selbstverständnis ist, das Israels Weg in den nahöstlichen Frieden blockiert.
Die sich daraus ergebende differenzierte Diskussion macht ihre Bücher zu einer gelungenen Herausforderung für eine linke Debatte, die in der
zynisch-brutalen Apologie des herrschenden Zionismus auf der einen und einem historisch-abstrakten und konzeptionslosen Antizionismus auf der anderen Seite
festgefahren scheint.
Christoph Jünke
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