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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2003, Seite 17

Für eine alternative europäische Linke

Fausto Bertinotti über den Niedergang des Reformismus

Die schrecklichen Ereignisse im Irak kennzeichneten das Ende der Nachkriegsperiode — einer Periode, die von der Erinnerung an die Schrecken des nazifaschistischen Krieges geprägt war, eine Zeit, in der die Welt die Konfrontation zweier gegensetzlicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Blöcke erlebte und soziale Kämpfe zu einer Vermehrung von Sozialleistungen und zur Stärkung der Verhandlungsposition der Gewerkschaften führten.
Die liberalen Verfassungen entstanden aus dem Sieg über Nazismus und Faschismus. Jetzt leben wir in einer neuen Phase, in der sich der Raum für Reformen schließt. Jüngst schrieb Giorgio Ruffolo, ein Minister der früheren italienischen Mitte-Links-Regierung: »Durch die Globalisierung hat der Kapitalismus eine historische Schlacht gewonnen: Er hat die reformorientierte Linke, sowohl in Europa als auch in Amerika, besiegt.« Die Folgen liegen für alle offen zutage: rücksichtslose Flexibilisierung, extreme Ungleichheit und ein Ende der sozialen Sicherungsnetze.
Der Niedergang des Reformismus hat die Analysen ebenso verändert wie die Perspektiven und so dazu geführt, dass es schwierig ist, auch nur Teilergebnisse zu erzielen, die in das soziale Gefüge eingebaut werden und einen Zusammenhalt liefern könnten. Dies ist ein Problem, obwohl größere soziale Bewegungen existieren.
In den vergangenen Monaten sind viele Menschen auf die Straße gegangen — als Teil einer weltweiten Bewegung gegen den Krieg. Aber der Krieg wurde dennoch geführt, und ohne dass die Kräfte, die ihn wollten, einen Preis dafür zu zahlen hatten. In Italien hat es eine große Bewegung zu Fragen der Beschäftigung gegeben — mit Streiks und Generalstreiks, die die gesamte Industrie umfassten —, aber der Regierung gelang noch die Verabschiedung gefährlicher Gesetze, darunter das Maroni-Dekret, das die Rechte bezüglich des Rentenanspruchs einschränkt.
Es gab eine Massenmobilisierung zur Frage unbegründeter Entlassungen. Und doch haben wir verloren. Nach großen Kämpfen in Frankreich setzt die Regierung Raffarin ihre Angriffe auf das Rentensystem fort. In Deutschland beendete die IG Metall zum ersten Mal in 50 Jahren einen Streik ohne irgendein Resultat erreicht zu haben.
Die kapitalistische Globalisierung enthält zutiefst regressive Elemente, die zu einer wirklichen Krise der Zivilisation führen. Die einzig mögliche Antwort ist nicht der Reformismus, sondern vielmehr eine radikale Neubegründung der Politik als eines weltumfassenden Prozesses und somit eine Rekonstruktion des Instruments der Veränderung: eine Neudefinition der Arbeiterklasse.
Die Rechte hat in der ganzen Welt gewonnen, weil sie über die strategische Hegemonie verfügt. In den USA basiert die Bush-Administration auf militärischem Interventionismus, extremem Neoliberalismus und religiösem Fundamentalismus. Der Krieg ist nicht länger ein einmaliges Ereignis oder eine Ausnahme. Er ist strukturell geworden, »niemals endend«.
Die einzige Möglichkeit angesichts des rechten Extremismus besteht in der Schaffung einer Alternative, und zwar des Friedens gegen den Krieg und eines neuen Gesellschaftsmodells gegen den Neoliberalismus. Dies bedeutet weder ein detailliertes Programm noch die Einheit bestehender politischer Kräften. Es bedeutet auch nicht, die Demokratie zu verteidigen, wie sie gegenwärtig existiert. Es bedeutet stattdessen von der wichtigsten verfügbaren Ressource auszugehen, und das ist die Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung.
Die Antiglobalisierungsbewegung ist die erste Bewegung, die einen Bruch mit dem 20.Jahrhundert und seinen Wahrheiten und Mythen darstellt. Gegenwärtig ist sie die Hauptquelle der Politik für eine Alternative zur globalen Rechten. Als am 15.Februar 100 Millionen Menschen auf die Straße gingen, wurden sie von der New York Times als eine »zweite Weltmacht« bezeichnet, als eine Macht, die sich im Namen des Friedens denjenigen widersetzte, die den Krieg wollten.
Es ist nicht übertrieben, wenn wir sagen, dass alles, was in den vergangenen Jahren geschehen ist, mit dieser Bewegung zu tun hatte. Sie nahm ihren Ausgang von der Beobachtung der Auswirkungen des Neoliberalismus, spürte seinen Ursprüngen nach und schuf eine antikapitalistische Kultur. Sie widersetzte sich der zunehmenden Zerstörung der Demokratie, welche einen Liberalen wie Ralf Dahrendorf dazu brachte, mit dem Blick auf Organe wie den IWF oder die Weltbank, die den Menschen Demokratie und Souveränität raubten, von einem »ademokratischen Jahrhundert« zu sprechen.
Sie hat der Krise der Demokratie Keimformen neuer demokratischer Institutionen entgegengesetzt. Sie hat die politische Arbeitsteilung unter Gewerkschaften, Parteien und Kooperativen in Frage gestellt und den Schwerpunkt der politischen Debatte von den Institutionen auf die sozialen Beziehungen verlagert, indem sie Gefühle und das Alltagsleben in den Bereich der Politik zurückgebracht hat.
Sie ist auch das Thema der Macht angegangen, nicht in Begriffen ihrer Eroberung und Bewahrung, sondern ihrer Verwandlung, Auflösung und Neubildung durch Selbstregierung. Und sie hat das Modell einer Partei in Frage gestellt, die die Bewegung führt, und stattdessen die Vorstellung von Netzwerken und Verbindungen zwischen Gruppen, Verbänden, Parteien und Zeitungen eingebracht.
Das Problem ist jetzt, wie aus der Antiglobalisierungsbewegung eine wirkliche demokratische Kraft aufzubauen ist, die ihre Ziele erreichen kann. Ihre größte Beschränkung scheint in dem Fehlen einer Verbindung zwischen den großen Fragen von Globalisierung, Krieg und Frieden mit der Sphäre von Beschäftigung und Produktionsverhältnissen zu liegen. In der Unfähigkeit, eine konkrete Verbindung zwischen dem Kampf gegen die Globalisierung und dem Kampf gegen Unsicherheit und Ausbeutung herzustellen, liegt ein Mangel.
Eine alternative europäische Linke kann ihre Strategie nur innerhalb der Antiglobalisierungsbewegung finden. Die Schlüsselfrage sowohl für die Bewegung als auch für uns ist der Konflikt zwischen Krieg und Frieden. Die Bewegung hat die globale Dimension des Krieges erkannt und ebenso die Tatsache, dass der Krieg zu einem System gehört, das ohne ihn nicht auskommen kann. Gerade diese Überzeugung machte aus der Antglobalisierungsbewegung das Rückgrat der Friedensbewegung.
Doch trotz ihrer bemerkenswerten Stärke stoppte die Bewegung den Krieg nicht. Somit stellt sich die Frage: Wie können wir eine Kraft für Frieden und Demokratie aufbauen, die eine Auswirkung auf die Politik der USA haben kann? Dieselbe Art von Problemen ergibt sich bei den sozialen Fragen. Der Aufbau der sozialen Wurzeln der Bewegung und die Reform linker Politik sind zwei Seiten derselben Medaille.
In Italien versuchte Rifondazione Comunista, dies zusammen mit anderen, durch das Referendum über die Ausdehnung des Kündigungsschutzes auf alle Werktätige zu erreichen [siehe SoZ 8/03]. Wir wurden besiegt, aber das Referendum zog seine Inspiration aus der Bewegung, aus der Idee des Kampfes für gleiche Rechte gegen ungeschützte Beschäftigung. Diese Schlacht weist jedoch noch keine europäische Dimension auf. Die europäischen Gewerkschaften beschlossen, nicht zu einem Generalstreik gegen den Krieg aufzurufen, was auch dem Kampf gegen den Neoliberalismus Auftrieb gegeben hätte.
Jetzt eröffnet sich die Chance, eine europaweite Schlacht für den Erhalt des Sozialstaats zu führen. Angesichts der zunehmenden Konvergenz der Politik der Regierungen kann nur eine Organisation, die auf europäischer Ebene kämpft, dagegenhalten.
Wenn sie nicht in eine solche Richtung marschieren, laufen Europas linke antikapitalistische Parteien Gefahr, hinsichtlich ihrer politischen Repräsentanz zu verschwinden. Und innerhalb der Antiglobalisierungsbewegung könnte sich die Versuchung ausbreiten, der Politik zu entfliehen. Die Kräfte der europäischen Linken können sich nicht auf die Sozialdemokratie verlassen. Sie müssen durch eine radikale, vereinte Initiative mit ihr brechen. Nicht nur die Perspektiven der Linken und der Antiglobalisierungsbewegung stehen auf dem Spiel, auch die Existenz Europas als eine autonome Einheit.

Fausto Bertinotti

Der Autor ist nationaler Sekretär der italienischen Partei der kommunistischen Neugründung (PRC — Partito della Rifondazione Comunista) und Mitglied des italienischen und des europäischen Parlaments.



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