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Der Juni-Aufstand ist ein Ereignis, welches künftig wieder einen zentralen Stellenwert für die geschichtliche
Legitimation der herrschenden Klasse Deutschlands einnehmen wird. Das versprechen die diesjährigen Debatten in Wissenschaft und Feuilleton
über eine deutsche Freiheitstradition, die sich auf 1848, 1953 und 1989 stützen soll. Will die Linke in Deutschland einen ernsthaften Kampf gegen
den neoliberalen Kapitalismus aufnehmen, muss sie ihn auch gegen die neoliberalen Geschichtsbilder führen. Deshalb ist es geradezu ein Desaster, wenn
Teile der emanzipatorischen Linken auf jenen alten Interpretationsmustern des Aufstands beharren, die immer noch von den Sichtweisen der Herrschenden in
West und Ost geprägt sind.
Nach der Öffnung der DDR-Archive gibt es eine Fülle von neuem Material, das gerade die Kernaussagen schon lange vorliegender Analysen der
antistalinistischen Linken bestätigt (siehe Kasten). Dessen Interpretation wird leider häufig genug den Bürgerlichen überlassen. Birger
Scholz gehörte mit seinem Kommentar in SoZ 7/03 zu den wenigen Ausnahmen unter den Linken, die den Juni-Aufstand auf eine seiner Bedeutung
angemessene Weise würdigten.
Der Vorwurf eines »faschistischen Putsches« kann endgültig zu den Akten gelegt werden. Weder die Zusammensetzung der
Streikleitungen, noch die Streik-Schwerpunkte liefern ein Indiz dafür. Selbst die »berüchtigte KZ-Aufseherin« Erna Dorn hat sich
inzwischen als eine verwirrte Frau heraus gestellt.
Forderungen mit faschistischen Inhalten sind bisher nirgendwo nachgewiesen. Auch der
berühmte »Tag X«, an dem westliche Untergrundorganisationen den Aufstand organisierten, ist endgültig widerlegt. Solche
Untergrundorganisationen mischten mit, aber sie haben den Aufstand nicht organisiert oder gar geführt. Die Stasi hat den »Tag X« und seine
Organisatoren gesucht, aber Stasi-Chef Ernst Wollweber musste Mitte Dezember 1953 bekennen, »dass es uns bis jetzt nicht gelungen ist, nach dem
Auftrag des Politbüros die Hintermänner und Organisatoren des Putsches vom 17.Juni festzustellen«. Das hat sich auch später nicht
geändert, es gab sie nicht.
Der Aufstand war von der Industriearbeiterschaft in den Zentren der alten Arbeiterbewegung
Mitteldeutschlands geprägt. Sie verlieh ihm seine Dynamik und sein Antlitz. Die Großbetriebe waren das Zentrum der Ereignisse. Berlin gab zwar
das Initial, doch hatte der Aufstand seine radikalsten Entwicklungen im mitteldeutschen Industriegebiet sowie in Ostsachsen. In Halle, Merseburg, Bitterfeld und
Görlitz hatten überbetriebliche Streikräte und Volkskomitees bereits die Macht übernommen.
Der 17.Juni war ein politischer Massenstreik gegen das Ulbricht-Regime, der sich zu einem
regulären Aufstand auswuchs, der zur Erstürmung von Gefängnissen, MfS-Einrichtungen, Partei- und FDJ-Gebäuden oder
Rathäusern führte. Dem Aufstand schlossen sich zwar auch andere soziale Schichten an, städtische Ladenbesitzer und deren Angestellte etwa.
In einigen Dörfern kam es zu Bauernerhebungen, sie waren ausgedehnter, als früher bekannt. Doch waren diese anderen werktätigen
Schichten, auf die sich insbesondere die Interpretation des 17.Juni als »nationaler Volksaufstand« stützt, für den Charakter des
Aufstands nicht prägend.
Die Kirche spielte, von einigen Dörfern abgesehen, keine relevante Rolle, ebenso wenig
die Intellektuellen, die ihre Unzufriedenheit hinter den geschlossenen Türen des Parteistaats artikulierten und das SED-Regime gegen die Arbeiterklasse
verteidigten.
Der Aufstand war erheblich breiter, als vor 1989 bekannt war: Am 17.Juni selbst streikten rund
500000 Arbeiter. Trotz des verhängten Ausnahmezustands und der militärischen Besetzung der Städte sowie der Großbetriebe dehnte
sich der Streik in den Zentren am 18.Juni noch aus. Nur unter Androhung von Erschießungen und militärisch durchgesetzter Aussperrungen konnte
die Streikbewegung bis zum 19.Juni gebrochen werden, während sie in etlichen Betrieben noch bis zum 22.Juni anhielt.
Zwischen dem 12. und 22.Juni haben nach letztem Forschungsstand rund eine Million
Menschen in 702 Städten und Gemeinden an Streiks, Demonstrationen oder der Erstürmung von Gebäuden teilgenommen. 560 Haftorte
wurden gestürmt und 1400 Häftlinge befreit. Inzwischen ist auch das ganze Ausmaß der zweiten Streikwelle im Juli 1953, an der erneut die
wichtigsten Großbetriebe wie Leuna oder Zeiss beteiligt waren, rekonstruiert worden.
Diese unbestrittenen Fakten kontrastieren mit der zum 50.Jahrestag verstärkten
Interpretation des Aufstands als eines »nationalen Volksaufstands«, bei dem das spezifische Gewicht der Arbeiterklasse zum Verschwinden gebracht
wird. Der Streik der Arbeiter sei durch die Beteiligung anderer Bevölkerungsgruppen bei den Demonstrationen, wie Angestellten der Geschäfte,
Hausfrauen oder Jugendlichen, zu einem Volksaufstand geworden, der sich für freie Wahlen in ganz Deutschland und Wiedervereinigung eingesetzt habe.
Ausgeblendet wird, dass die Hausfrauen und Jugendlichen die Frauen und Kinder der Arbeiter waren und die Verkäuferinnen der HO-Geschäfte
selbst Teil des Proletariats.
Mindestens drei Viertel der sich am Aufstand beteiligenden Menschen gehörten dem
Proletariat an. Das bestätigt auch die soziale Zusammensetzung der Verurteilten, 88% waren nach gegenwärtigem Forschungsstand Arbeiter. Der
Gewerkschaftshistoriker Gerhard Beier spricht deshalb zu Recht von einem Aufstand des Typs einer proletarischen Revolution. Inzwischen ist nachgewiesen,
dass politische Forderungen bereits am Morgen des 17.Juni in der Mehrzahl der streikenden Betriebe erhoben wurden. Mithin war der Arbeiteraufstand selbst
von Anfang an ein politischer, in dem sich wirtschaftlich-soziale mit politischen Forderungen untrennbar verbanden.
Der Aufstand des 17.Juni stehe für die deutsche »Einheit in Freiheit«. So tönte es anlässlich seines 50.Jahrestags allenthalben
aus dem deutschen Blätterwald. Dass der Aufstand die Problematik der deutschen Einheit in der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung mit der von
»Freiheit, Gleichheit, Solidarität!« verband, passte noch nie ins gutbürgerliche oder stalinistische Weltbild, und passt heute nicht in den
neoliberalen Zeitgeist. Nach 50 Jahren konnte erstmals auf einem Foto entdeckt werden, dass der Aufstand in Leuna, dem größten Betrieb der DDR,
sich unter der Losung »Karl Marx, wir wollen Freiheit« abspielte. Die Arbeiter hatten aus der zerstörten Propaganda der SED über dem
Werktor eine neue Losung gemacht.
Stalin fiel, Marx blieb, ob in Magdeburg oder in Halle, wo das neben Marx stehende Stalin-
Bild zerlegt wurde (siehe das untenstehende Foto). In diesem Geist wurde der SED-Minister Selbmann vor dem Haus der Ministerien von den Bauarbeitern als
»Arbeiterverräter« angeschrien, und solches passierte fast überall den Verteidigern des Ulbricht-Regimes. Und dass sie es mit ihrer
Forderung Ernst meinten, machte schon der nächste Bauarbeiter vor dem Haus der Ministerien deutlich: »Kollegen, ich habe bei den Nazis
fünf Jahre im KZ gesessen. Ich scheue mich nicht, bei diesen Brüdern noch einmal zehn Jahre für die Freiheit zu sitzen!« Und in eben
diesem Geist schleuderten die Bauarbeiter Ostberlins schon zu Beginn des Aufstands dem Minister auch entgegen: »Wir sind nicht nur gegen die Normen
in der Stalinallee, wir sind gegen die Normen in ganz Deutschland!«
Zwar war der Kampf gegen die Normenerhöhung in erster Linie ein Kampf zur
Verteidigung des Lebensstandards. Doch ging er weit darüber hinaus. »Akkord ist Mord« war eine allenthalben verbreitete Losung.
Häufig lautete die Forderung nicht »Rücknahme der Normenerhöhung«, sondern »Abschaffung der Normen«. Der
Kampf gegen den Taylorismus und gegen die mit ihm in die Betriebe wiedergekehrte Hierarchie war ein prägender Zug des Aufstands. Der Hass entlud
sich in vielen Betrieben in der Forderung nach Absetzung der Arbeitsdirektoren sowie der Arbeitsnormer.
Dieser egalitäre Grundzug zeigte sich auch in den Forderungen nach Senkung der
privilegierten Spitzengehälter. Die Belegschaft der Elektroschmelze Zschornewitz forderte sogar die Abschaffung aller Gehälter, die über
1000 Mark lagen. Solche Forderungen waren begleitet von denen nach Herstellung demokratischer Rechte der Beschäftigten durch Entmachtung der SED
in den Betrieben sowie durch die Umwandlung des FDGB aus einer Propagandamaschine des Regimes in eine echte Interessenvertretung der Arbeiterklasse.
Zahlreiche Forderungen richteten sich auf eine verstärkte Einflussnahme der
Beschäftigten auf die wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse im Betrieb. Nirgendwo wurde die Forderung nach einer Privatisierung der
Großbetriebe gesichtet. Solche Forderungen gab es nur in unter hahnebüchenden Vorwänden verstaatlichten Klein- und Mittelbetrieben und
bei Bauern. Deshalb hatte Willy Brandt damals richtig beobachtet: »Sie wollten demokratisieren, nicht restaurieren.«
Dieser Grundzug des Aufstands schlug sich auch in dem entschieden antimilitaristischen
Charakter des Aufstands nieder. »Butter statt Kanonen!« hieß es bei allen Demonstrationen. Der junge Bernd Rabehl beobachtete in
Rathenow sogar, dass die Demonstranten eine SED-offizielle Losung mit sich führten, auf der stand: »Nie wieder SS-Europa Nieder mit den
Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland!«
Die sozialdemokratisch-sozialistische Perspektive von unten, die der Juni-Aufstand mit seiner
egalitär-sozialen wie radikal demokratisch-antimilitaristischen Stoßrichtung aufgemacht hat, war subversiv für ganz Deutschland, und sie
bleibt es auch heute. Für die Linke ist es dringend notwendig sich seiner anzunehmen in einer Zeit, in der erneut eine Regierungspartei mit dem
Wörtchen »sozial« im Namen staatlichen Lohnraub, Überwachungsstaat und Militär auf die politische Tagesordnung gesetzt hat.
Bernd Gehrke
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