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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2003, Seite 3

Eine Revolution in bolivianischer Tradition

Adolfo Gilly über den Sturz der Regierung Sánchez*

Bolivien erlebt eine Revolution. Die Mobilisierungen in den Städten und auf dem Land fordern den Sturz der neoliberalen Regierung, die als unerträglich empfunden wird. Ihr gemeinsamer Nenner ist ein rabiates Nein zum wiederholten Versuch der Regierung, die Förderung und den Export des bolivianischen Erdgases transnationalen Unternehmen zu überlassen. In diesem Punkt kulminieren all die unterschiedlichen Angriffe, Beleidigungen und Plünderungen, die die aufeinanderfolgenden neoliberalen Regierungen dem bolivianischen Volk zugefügt haben.
Die Aufständischen in Stadt und Land fordern den Rücktritt des Präsidenten. Dieser weigert sich zurückzutreten und wird dabei offen von Washington, dem Repressionsinstrument Armee und dem Teil der bolivianischen Unternehmer unterstützt, der eng mit den internationalen Finanzkreisen verbunden ist. Das sind die drei Pfeiler der neoliberalen Herrschaft in Bolivien.
Ähnlich wie die Volksbewegung in Argentinien im Dezember 2001 fordern die Straßendemonstrationen den Rücktritt von Gonzalo Sánchez de Lozada. Aber anders als in Argentinien rufen sie nicht einfach »Haut alle ab!« ohne weitergehende gemeinsame Parolen. Sie sind sich einig in der Forderung nach einer Konstituierenden Versammlung und einer provisorischen Regierung, die sie einzuberufen hat — d.h. eine andere Republik und eine andere Regierung.
Wie vormals in Argentinien gibt es heute in Bolivien niemanden, der für die gesamte Bewegung sprechen kann. Aber anders als in Argentinien ist es den verschiedenen aufständischen Sektoren der Gesellschaft im Andenstaat gelungen, eine starke territoriale Struktur, Formen der Organisation und des Kampfes zu bewahren, die zu einer Kultur geronnen sind — die alte Aufstandstradition der Bolivianer.
In Argentinien gibt es keine Tradition von Revolutionen, sondern von Streiks und Generalstreiks von außerordentlichen Ausmaßen, die in Lateinamerika nicht ihresgleichen haben. Bolivien hingegen verfügt seit der Kolonialzeit über eine Tradition von Aufständen der Indígenas, der Bauern und der Bergleute, und es hat im 20.Jahrhundert eine große radikale Volksrevolution kennengelernt, die Revolution vom April 1952, als bewaffnete Bergarbeiter und die Bevölkerung von La Paz die Kasernen angriffen, die Armee vernichteten und den nationalistischen Präsidenten Víctor Paz Estenssoro wieder einsetzten, dessen Wahl nicht anerkannt worden war.
Die revolutionäre Bewegung, die heute Bolivien erschüttert, umfasst das ganze Land und hat ihre Schwerpunkte bei Indígenas, Bergleuten, der städtischen Bevölkerung und anderen Volksschichten. Ihre Wut und Wildheit in der Konfrontation mit der Armee und beim Einsammeln ihrer Toten und ihre Hartnäckigkeit sind charakteristisch für ein aufständisches Volk, das über Jahrzehnte und Jahrhunderte eine Kultur des Aufstands aufgestaut hat, wo alle wissen, was bei einer Konfrontation zu tun ist, weil dieses Wissen von den Eltern, den Großeltern und den Urgroßeltern, den eigenen wie den fremden, überliefert wurde. Die indigenen bolivianischen Großmütter, fast alles junge Großmütter, sind auf Fotos abgebildet, wie sie ihren Kindern und Enkelkindern anfeuern und Steine reichen, die sie mit ihren Schleudern abfeuern. Mit der Schleuder, der alten Waffe der indigenen Aufstände der Kolonialzeit, werden heute noch Steine oder Dynamitpatronen gegen die Armee geschossen. Den Umgang mit der Schleuder lernen sie bei der Arbeit und in ihrem Leben als Bauer, Hirte oder Bergmann.
Was in diesen Tagen in den Städten und Stadtteilen von El Alto, La Paz, Oruro, Cochabamba und in den Aimara-Gemeinden des Altiplano geschieht, kann man nicht improvisieren und auch nicht über Proklamationen oder Manifeste vermitteln. Man kennt es aus Erfahrung, es ist die Erblast einer bitteren Heimat mit vielen Generationen von Unterdrückten, Ausgegrenzten und Gedemütigten, die sich in ihren Gemeinden, Stadtteilen und Bergwerksvereinen Ehre und Selbstachtung bewahrten, trotz des grausamen Rassismus der Unternehmer, der Regierenden und der Politiker in der Stadt. Diese Selbstachtung bricht sich heute Bahn in Wut und Draufgängertum — ein Wesenszug der neuen lateinamerikanischen Revolution, der Aufstände unserer Zeit, in der Globalisierung und Neoliberalismus angeblich mit der Epoche der Revolutionen Schluss gemacht haben.

Marsch auf La Paz

Eine Revolution ist kein Fest. Sie ist ein notwendiges, bitteres Opfer. Niemand findet aus eigenem Willen zu ihr, sondern weil kein anderer Weg bleibt. Kapitalistische Globalisierung und neoliberale Finanzwelt, die Frieden und das Paradies versprochen hatten, sind heute zur Matrix für neue Revolutionen geworden, mit neuen Subjekten, die dennoch Erben der alten Kampfmethoden und Träger des Zorns ihrer Vorfahren sind. Zugleich bringen sie grausame und ungleiche koloniale Kriege, aber auch den erbarmungslosen Widerstand dagegen hervor — im Irak, in Afghanistan, Palästina, Tschetschenien, und morgen wer weiß wo.
In dieser zunehmenden und zunehmend gewalttätigen Unordnung der Welt, die ihren Ursprung im Pentagon und im Weißen Haus hat, findet die neue bolivianische Revolution wieder zur Form des Aufstands und zu den bewährten und eingeschliffenen Gewohnheiten zurück.
Am 13.Oktober, als die Aimara des Altiplano sich anschickten, in Kampfordnung auf La Paz zu marschieren, kam es im gesamten Zentrum der Hauptstadt zu Zusammenstößen zwischen den Aufständischen und dem Militär. Bei Einbruch der Nacht traf über die Volksradios die Nachricht ein, das Militär sei dabei, das Stadtzentrum einzunehmen. Die Rebellen zogen sich um 20 Uhr geordnet zurück, verließen die Straßen und Plätze im Zentrum und errichteten Barrikaden an den Zufahrtstraßen zu den höhergelegenen Armenvierteln der Stadt. So vermieden sie einen Zusammenstoß. Am Morgen des 14.Oktober übernahmen die Panzer wieder die Kontrolle der verlassenen Straßen.
Am Mittag desselben Tages marschierten Tausende Bergarbeiter aus Huanuni — die Stadt, in der 1944 die Bergarbeitergewerkschaft FSTMB, das proletarische Rückgrat der Revolution von 1952 und der folgenden Jahrzehnte, gegründet wurde — in die Stadt Oruro, Hauptstadt der Bergleute; besetzten zusammen mit der Stadtbevölkerung das Zentrum und bereiteten sich vor, nach La Paz zu marschieren. Am 13.Oktober waren die Markthändler von Oruro in der Kälte und im Regen des Altiplano von der Pfarrei der »Jungfrau von Socavón« aufgebrochen, um Nachbarorte zu besetzen und sich gleichfalls zum Marsch auf La Paz bereit zu machen.
Dies sind nur Momentaufnahmen typischer Augenblicke einer allgemeinen Situation des Volksaufstands. In dieser Bewegung kommen viele verschiedene Lebens- und Kampftraditionen zusammen: die der Aimara, der Quechua, der Bevölkerung in den Städten, der Bergarbeiter, der Kokabauern; die der Spediteure, Handwerker, armen Händler sowie zahlloser junger Menschen, denen das Bolivien von heute nichts zu bieten als Armut und Arbeitslosigkeit.

Zwei Säulen

Diese Konvergenz verschiedener Befindlichkeiten, Organisationsformen und politischen Visionen lässt sich an zwei Erklärungen ablesen, die die mexikanische Tageszeitung La Jornada veröffentlicht hat: die eine vom Movimiento al Socialismo (MAS), an dessen Spitze der Führer der Kokabauern, Evo Morales, steht; die andere von der Bewegung der Aimara, geführt von dem Mallku Felipe Quispe. Beide, Morales und Quispe, sind heute Abgeordnete.
Das Dokument des MAS, das den Rücktritt des Präsidenten und eine Konstituierende Versammlung fordert, spricht vom »Volk«, von der »Zivilgesellschaft«, von einem »nationalen Projekt« und einer »umfassenden Demokratie« in einer Sprache, die auf die politischen und parteipolitischen Führungen in der Stadt abzielt und dem nahekommt, was in diesen Milieus auch in Mexiko kursiert.
Das Manifest der bolivianischen Bauerngewerkschaft CSUCB spricht im Namen der »Aimara-Gemeinschaften«, es richtet sich an »die Brüder und Schwestern des großen Kollasuyu und der Welt« und beruft sich auf die »Stimme des Volkes mit braunem Antlitz«. Es fordert ebenfalls den Rücktritt des Präsidenten. Aber es spricht nicht von der Konstituante und auch nicht von der »Neubegründung der Demokratie«. Es ist ein Aufschrei angestauter Wut gegen Erniedrigung, Rassismus, Diebstahl und Ausbeutung, der mit der Beschwörung von Tupaj Katari und Bartolina Sisa endet — Symbole des großen antikolonialen Aimara-Aufstands von 1781, der im Altiplano begann und auf La Paz übergriff, eine Rebellion, die vom spanischen Kolonialheer blutig niedergeschlagen wurde.
Zwei Erhebungen kommen hier in der Verteidigung der natürlichen Ressource Erdgas, im Hass auf die Kräfte der Repression und in der Ablehnung des Präsidenten zusammen — verschieden in ihrer Sprache, ihren sozialen Zielen und ihrer inneren Dynamik. Wer sich in dem einen Manifest wiederfindet, dem sind Sprache und Geist des anderen fremd. Eine mögliche Verbindungen zwischen beiden Bewegungen stellen die Revolte der Bergarbeiter und ihrer Organisationen, die städtische indigene Bevölkerung von El Alto, die Armenviertel von La Paz, Oruro, Cochabamba und anderer Städte her.
Bis jetzt scheint diese Erhebung nicht nur vom unglaublichen Opferwillen der Aufständischen, sondern auch vom Vorteil getragen, dass sie eine Führung hat, die zwar nicht einheitlich ist, aber doch über gemeinsame Ziele verfügt. An der Basis gibt es die Voraussetzungen und die Forderungen, die dies ermöglichen. Aber das Unrecht ist so alt und so verschieden, dass es nicht einfach ist, sich in dem Staub, dem Blut, dem Lärm und der Wut inmitten der Konfrontation mit dem Feind, der alle unterdrückt, zu erkennen.
Von der Konvergenz des Willens hängt jedoch das Schicksal dieser Revolution ab, das Schicksal der Indígenas, Bauern, Bergarbeiter, Arbeiterinnen und Arbeiter, Markthändler, Armen, Studierenden, Angestellten und Erwerbslosen im Kampf gegen einen Repressionsapparat, der ohne Maß und Erbarmen tötet.

Die Jugend

Am 14.Oktober erhielt ich Briefe aus Bolivien. Beschrieben wird die Rebellion. Hier ist eine der Botschaften von Freunden aus La Paz:
»Gestern sahen wir Bilder von jungen Menschen in El Alto auf der Plaza San Francisco beim Zusammenstoß mit der Polizei. Mit ihren Schleudern feuern sie Steine ab. El Alto, wo sich die Repression konzentriert und von wo der Aufstand ausgegangen ist, ist eine Aimara-Stadt mit einer sehr bäuerlichen Zusammensetzung und Kultur. Heute sind wir Zeuge einer weiteren Aimara-Rebellion, die bemerkenswerte Übereinstimmungen mit Kampfformen der Vergangenheit aufweist; aber die aufständischen Kräfte stammen nicht nur vom Lande, sondern konzentrieren sich auch in dieser mittleren Bauernstadt, in der in den letzten 30 Jahren eine neue städtische indigene Bevölkerung Wurzeln geschlagen hat.
Bei der letzten Volkszählung in Bolivien bezeichneten sich mehr als 60% der Menschen als Indígenas. Viele von ihnen leben nicht mehr auf dem Lande, viele sprechen nicht einmal mehr Aimara. Es sind zum großen Teil junge Menschen, die die große Armut in die Randzonen der Städte wirft. Sie sind stark in der Aimara-Kultur verwurzelt, und das drückt sich gegenwärtig in einem politischen Symbol aus: der Schleuder.
Es gibt keine starken politischen Führungspersönlichkeiten, wohl aber starke Impulse von der Basis. In diesen Tagen waren es die Viertel von El Alto, die nacheinander gegen die Regierung aufgestanden sind, um den Kopf von Goñi zu fordern. Die Führer sind auf dem Marsch und bei den Protesten gestern nicht einmal erschienen. Weder Evo, noch Mallku, noch Jaime Solares vom Gewerkschaftsverband COB, noch die Führer von El Alto kontrollieren die Bewegung. Die Nachbarschaftsgruppen — eine soziale Struktur zwischen Arbeitergewerkschaft und Aimara-Gemeinschaft mit politischem Ursprung — machen sich gewaltig bemerkbar. Sie sind es, die das nationale Interesse am Erdgas artikuliert und den größten Teil der Repression zu spüren bekommen haben, weil sie als ›arme Indios‹ gelten, deren Leben nicht so viel zählt wie das der Angehörigen der ›anständigen Klassen‹ von La Paz. Die staatliche Repression, die in El Alto gewütet hat, versteht nur, wer die lange Geschichte von Rassismus, kolonialer und neokolonialer Gewalt kennt.«

Adolfo Gilly

*Die Regierung Sánchez de Lozada stürzte am 17.Oktober. Der Artikel wurde davor geschrieben.
Adolfo Gilly ist ein bekannter mexikanischer politischer Publizist. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören »Chiapas: La Razón Ardiente. Ensayo sobre la Rebelión del Mundo Encantado« (1997) und »México, el Poder, el Dinero, y la Sangre« (1996).
Übersetzung aus dem Spanischen: Hans-Günter Mull/Angela Klein.



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