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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2003, Seite 4

Zum Aufstand in Bolivien

Wieviele Tote erträgt das neoliberale Modell?

von Peter Strack

»Ich will nicht sterben, ich habe sechs Kinder, für die ich sorgen muss«, habe ihr Nachbar gerade noch sagen können, als die Soldaten begannen, auf die Bergarbeiter zu schießen, die auf ihrem tagelangen Protestmarsch nach La Paz am Straßenrand in Patacamaya in der bolivianischen Hochebene Rast gemacht hatten. »Sie haben ihn trotzdem umgebracht«, ergänzte die Frau mit dem zerfurchten indianischen Gesicht, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters mitgekommen war, um den Rücktritt des Präsidenten Sanchez de Lozada zu fordern. Der log und lobte derweil gegenüber CNN sein fatales Krisenmanagment mit dem Argument, es habe keine weiteren Toten gegeben. Mindestens 70 Menschen — überwiegend indigene Bäuerinnen, Bauern, Bergleute und Bewohner von El Alto, der ärmeren Schwesterstadt der Metropole La Paz — kamen im Laufe des Aufstands ums Leben, fast alle wurden von den Sicherheitskräften erschossen.
Auslöser des jüngsten Konflikts war der von einem spanisch-britisch-US- amerikanischen Konsortium (Repsol/BP) geplanten Bau einer Erdgasleitung von Tarija in Bolivien zum chilenischen Hafen Mejillones. Dort sollte das Gas weiterverarbeitet und als Flüssiggas nach Mexiko und in die USA exportiert werden. Dafür sollten jährlich 40 Millionen US-Dollar in die bolivianische Staatskasse fließen.
Hintergrund der Proteste waren historische Ressentiments gegenüber Chile und die schlechten Erfahrungen mit der Privatisierung der staatlichen bolivianischen Erdölgesellschaft YPFB. Während in den sechs Jahren vor der Privatisierung, trotz aller Korruption jährlich 297 Mio. Dollar Abgaben an den Zentralstaat und regionale Entwicklungskörperschaften gingen, überwiesen die vermeintlich effizienten privatisierten Firmen nur noch 180 Mio. Dollar pro Jahr, 117 Mio. pro Jahr weniger. Nur mit Hilfe einer Sondersteuer konnten die Verluste ausgeglichen werden. Doch die hatten die Konsumenten zu zahlen, was konjunkturhemmend wirkte und mit dazu beitrug, dass weitere Firmen schließen mussten. Trotz Armutsbekämpfungsprogramm und Entschuldungsinitiative HIPIC sind die Unterschiede zwischen arm und reich in den letzten Jahren weiter gewachsen, haben mehr Menschen im informellen Sektor oder im Ausland ein Einkommen suchen müssen. So ist kaum verwunderlich, dass die große Mehrheit der Bevölkerung dem neoliberalen Modell nicht mehr viel abgewinnen kann und für Vorschläge offen ist, das Gas nicht erst in Chile weiterverarbeiten zu lassen, sondern schon in Bolivien, und nicht durch einen privaten Konzern, sondern durch ein staatliches Unternehmen.
Als der Druck der Massen auf der Straße immer größer wurde, als sich auch die Mittelschichten mit Hungerstreikaktionen den Protesten anschlossen, als sich schließlich reihenweise Parlamentsabgeordnete, Militärs und Mitglieder der Regierung von dem Projekt distanzierten, war auch der US-Botschaft klar, dass Sánchez de Lozada die politische Krise nicht mehr unter Kontrolle hatte, und sie startete, ebenso wie die Koalitionsparteien, Verhandlungen mit dem Vizepräsidenten Carlos de Mesa Gisbert. Sie gaben die Parole aus, er solle verfassungsgemäß die Regierungsverantwortung übernehmen. Für die Oberschichten überraschend wurde diese von weiten Teilen der radikalen Opposition, allen voran dem Führer der Kokabauern Evo Morales und seiner »Bewegung für den Sozialismus« (MAS), unterstützt. In seiner Antrittsrede interpretierte Carlos de Mesa diese Unterstützung jedoch nicht als Freibrief, sondern er analysierte die Krise des repräsentativen Parteiensystems und versprach eine verfassungsgebende Versammlung zur Durchführung politischer Reformen. Die sozialen Bewegungen verstanden das als Signal der Hoffnung. Ob er mit seinem Kabinett, dem kaum noch Parteipolitiker, aber auch keine Vertreter der sozialen Bewegungen angehören, das gleiche Parlament zu Reformen motivieren können wird, das in seiner Mehrheit in den letzten Monaten dem autoritärem Kurs von Sánchez de Lozada gefolgt waren, bleibt offen.
Peter Strack ist Leiter des Anden-Regionalbüros von Terre des hommes in Cochabamba (Bolivien).

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