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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2003, Seite 16

Was ist ein Sozialforum?

Debatte über eine neuartige Organisationsform

Das Sozialforum durchlebt derzeit zweifelsohne eine positive Wachstumskrise, die erfordert, dass einige Punkte ihrer Charta der Grundsätze vertieft werden. Um nicht Gefahr zu laufen, das in ihr steckende Potenzial zu zerstören, wird es notwendig und dringend, dass bestimmte Zweideutigkeiten überwunden werden, bevor der Fortgang des Prozesses feste Orientierungen herausbildet, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.

Raum oder Bewegung?

Die Charta der Grundsätze des Sozialforums definiert es als Raum. Aber nicht alle denken und handeln so, als wäre es wirklich nur ein Raum, oder als sollte es immer ein Raum bleiben.
Für viele ist es ein Raum, der etwas von einer Bewegung hat. Für andere ist er »immer noch« nicht mehr als ein Raum, der sich aber in eine enorme Bewegung oder eine »Bewegung der Bewegungen« verwandeln soll. Der enorme Erfolg der weltweiten Demonstrationen gegen den Krieg am 15.Februar — der die größten Enthusiasten zur Behauptung verleitet, dieser Erfolg wäre auch ein Ergebnis des Forums, wenn sie nicht sogar sagen, er sei auf Beschluss des Forums zustande gekommen — facht den Wunsch an, das Forum möge die Rolle des Motors von Mobilisierungen übernehmen, die Bewegungen zukommt.
Aber Bewegung und Raum sind ganz unterschiedliche Dinge; man hat entweder das eine oder das andere. Die beiden Bestimmungen schließen sich nicht aus, d.h. sie können koexistieren. Sie sind auch nicht antagonistisch, d.h. sie heben sich nicht gegenseitig auf, sie können einander sogar ergänzen. Aber sie können nicht beides zugleich sein, auch nicht von jedem etwas — das würde nur bedeuten, dass weder das eine noch das andere daraus würde. Eine Bewegung und ein Raum können, jeder auf seine besondere Weise, gewisse allgemeine Ziele gemeinsam verfolgen. Aber jede arbeitet auf die ihr eigene Art und gehorcht unterschiedlichen spezifischen Zielsetzungen.
Es stellt sich damit folgende Frage: Ist die Umwandlung des Weltsozialforums in eine Bewegung heute oder, bei fortschreitendem Prozess, später eine gute Strategie, um das Ziel zu erreichen, das alle eint, die am Sozialforum teilnehmen — nämlich die Überwindung des Neoliberalismus und der Aufbau einer »anderen möglichen Welt«? Oder ist es für die Erreichung dieses Ziels nicht viel nützlicher, dass wir weiterhin jetzt und auch später, den ganzen Entwicklungsprozess hindurch, über solche offenen Räume verfügen, wie es das Weltsozialforum darstellt?
Ich für meinen Teil habe keinen Zweifel daran, dass es fundamental wichtig ist, um jeden Preis die Kontinuität des Forums als Raum zu sichern und keiner Versuchung nachzugeben, sie jetzt oder später in eine Bewegung umzuwandeln. Wenn wir das Forum als Raum erhalten, wird dies die Herausbildung und Entwicklung zahlreicher Bewegungen nicht behindern und ihnen auch nicht schaden, ganz im Gegenteil. Aber wenn wir es in eine Bewegung verwandeln, wird es notwendigerweise aufhören, ein Raum zu sein, und damit alle Potenziale verlieren, die Räumen innewohnen.
Damit würden wir jedoch ein mächtiges Kampfinstrument über Bord werfen, das wir schaffen konnten, weil wir eine der wertvollsten politischen Entdeckungen der letzten Zeit gemacht haben: die Kraft der freien, horizontalen Äußerung; sie erklärt den Erfolg von Porto Alegre wie auch den von Seattle und der Demonstrationen vom 15.Februar. Sie hat noch einen großen Beitrag zu unserem derzeitigen Kampf zu leisten, aber sie wird auch notwendig sein im Prozess des Aufbaus der Welt, die wir wollen.
Eine Bewegung sammelt Menschen, die sich organisieren wollen, um gemeinsam bestimmte Ziele zu erreichen. Sie formuliert Strategien und Aktionsprogramme, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen, und sie verteilt Verantwortlichkeiten unter den Aktiven, darunter fällt auch die Führung der Bewegung. Wer diese Funktion wahrnimmt, will die Aktiven einer Bewegung — auf autoritäre oder auf demokratische Art, je nach Option der Initiatoren — dazu bringen, dass sie ihren Part im Rahmen der kollektiven Aktion übernehmen. Ihre Organisationsstruktur ist deshalb notwendig pyramidenförmig, selbst wenn der interne Entscheidungsprozess sehr demokratisch und auf Mitwirkung angelegt ist. Ihre Wirksamkeit hängt von der Klarheit und Präzision ihrer Ziele ab; sie ist deshalb zeitlich und räumlich begrenzt.
Ein Raum hat keine Führer. Er ist nur ein Ort, grundsätzlich horizontal, wie die Erdoberfläche selbst, auch wenn einige Orte höher und andere tiefer gelegen sein mögen. Er ist ein Platz, der keinen Besitzer kennt, nur Nutzer; sollte es einen Besitzer geben, wird er zum Privatgelände und ist nicht mehr öffentlich. Ein Platz ist ein offener Raum, der von allen genutzt werden kann, die daran irgendwie interessiert sind. Er hat keine andere Bestimmung und dient denen, die ihn nutzen.

Brutstätte von Bewegungen

Die Charta der Grundsätze des Weltsozialforums geht sehr weit in der Gegnerschaft gegen die Errichtung jedweden Typs einer Führung in seinen Reihen: Niemand ist befugt, in seinem Namen oder im Namen der an ihm Beteiligten zu sprechen. Alle, ob Personen oder Organisationen, behalten das Recht, sich während des und nach dem Forum zu äußern und zu handeln, wie es ihren Überzeugungen entspricht; dabei können sie sich Auffassungen und Vorschläge anderer Teilnehmer zu eigen machen oder auch nicht — aber niemals in Namen des Forums und der Gesamtheit der an ihm Beteiligten.
Das Forum ist ein offener Raum, aber es ist kein neutraler Raum. Wie ein öffentlicher Platz öffnet er sich von Zeit zu Zeit in verschiedenen Gegenden der Welt, um einer größtmöglichen Zahl von Menschen, Organisationen und Bewegungen, die sich gegen den Neoliberalismus wenden, die Gelegenheit zu geben, sich frei zu treffen, einander anzuhören, von den Erfahrungen und Kämpfen der anderen zu lernen, über Aktionsvorschläge zu diskutieren, sich zu neuen Netzwerken und Organisationen zusammenzufinden, um den Prozess der Globalisierung durch die großen multinationalen Konzerne und Finanzorganisationen aufzuhalten. Der Raum ist geschaffen, um einem gemeinsamen Ziel zu dienen; er ist offen für alle, die kommen. Alle, die zum Forum kommen, sind umgekehrt bereit, diese Grundlage zu akzeptieren, und deshalb ist es auch so festgelegt: Wer auf den Platz gelangen will, muss die Charta der Grundsätze anerkennen.
Das Forum arbeitet als »Denkfabrik«. Man erhofft sich davon die Entstehung eines Maximums an neuen Initiativen für den Aufbau einer anderen Welt. An das Forum knüpft sich die Hoffnung, dass sehr viele Bewegungen daraus entstehen, große und kleine, mehr oder weniger kämpferische, jede mit ihren eigenen Zielen, damit sie ihre Rolle in dem Kampf spielen, für den der Platz geschaffen wurde.
Darin liegt das größte Potenzial des Forums als Raum: in der Hervorbringung von Bewegungen, die den Kampf vorantreiben. Wenn eine Bewegung eine neue Bewegung hervorbringt, geschieht dies durch innere Spaltungen. Das würde dem Forum auch passieren, wenn es zur Bewegung würde.
Selbst wenn es gelänge, Abschlusserklärungen so zu schreiben, dass sie nicht platt oder vereinfachend klingen, wie das mit »Schlusserklärungen« meist der Fall ist, ist es von Vorteil, dass das Forum als solches keine Schlusserklärungen verfasst. Das hat nichts damit zu tun, dass man sich nicht im Kampf und in notwendigen Mobilisierungen gegen den Neoliberalismus engagieren möchte, wie häufig diejenigen unterstellen, die am meisten darauf drängen, das Forum in eine Bewegung zu verwandeln. Ein Raum gibt keine Erklärungen ab. Natürlich können diejenigen, die sich dort treffen, Erklärungen abgeben.
Die Teilnehmenden am Weltsozialforum können so viele Erklärungen verfassen, wie sie wünschen. Aber es werden niemals Erklärungen des Forums als solches sein. Der Raum, der für alle da ist, hat keine »Sprache«, oder besser: er spricht nur aus sich selbst heraus. Dass sich mehr und mehr Menschen zusammenfinden, um Wege zur Überwindung des Neoliberalismus zu finden, ist ein politisches Faktum, das für sich spricht. Es ist nicht nötig, dass irgend jemand in ihrem Namen spricht.
Alle Dokumente und Erklärungen, die im Rahmen des Forums vorgeschlagen werden, werden deshalb ausschließlich eine Äußerung derer sein, die sie unterzeichnen. Deshalb setzt die Charta der Grundsätze fest, dass die am Forum Teilnehmenden keine Erklärung und keinen Vorschlag beschließen oder per Akklamation annehmen können, der die Gesamtheit derer bindet, die sich in ihm aufhalten. Dies würde nur dazu führen, dass viele Menschen den Raum verlassen, weil sie die Erklärung nicht akzeptieren oder auch nur, weil sie nicht damit einverstanden sind, dass jemand sie »führen« will.

Verschiedenheit

Als offener Raum kann das Forum den Respekt vor der Verschiedenheit durchsetzen, im Gegensatz zu einer Bewegung. Der Grundsatz der Achtung der Verschiedenheit gründet sich auf die Gewissheit, dass eines der grundlegenden Merkmale der anderen Welt, die wir erbauen wollen, eben die Achtung vor der Verschiedenheit sein muss.
Das Forum erlaubt, dass alle für sich die Freiheit behalten, den Bereich oder das Niveau zu wählen, auf dem sie agieren wollen, um die Wirklichkeit zu verändern. Niemand im Forum hat das Recht zu sagen, der eine oder andere Vorschlag, die eine oder andere Aktion sei wichtiger als andere. Und somit auch nicht das Recht oder die Macht, für die eigenen Vorschläge eine größere Sichtbarkeit einzufordern und damit einen Platz für die eigenen Ziele zu usurpieren, der allen gehört.
In Anbetracht der Straßendemonstrationen, die nun am Ende der Foren stattfinden, müssen wir darüber sorgfältig nachdenken. Die dort sichtbaren Fahnen sollten die Fahnen aller sein, ein abschließender Ausdruck der Verschiedenheit und der Bandbreite der Vorschläge, die im Forum entstanden sind oder dort vorgetragen wurden.
Es ist dieser offene Charakter des Forums, der die Atmosphäre der Freude, die Feststimmung auf dem Platz erklärt. Die Stimmung ist ansteckend und voller Energie, weil sie auf einer weiteren Entdeckung fußt, die das Forum ermöglicht: dass wir viele sind in dem Kampf, der uns eint. Die Spaltungslinien, die die früheren Kämpfe für Veränderungen voneinander abgeschottet haben, werden damit aufgehoben. Die Aktiven aus verschiedenen Bewegungen, die lange Zeit durch ideologische und parteipolitische Optionen voneinander getrennt waren, begegnen sich im Forum und erkennen sich; sie finden hier eine einmalige Gelegenheit, sich näher zu kommen und ihre Spaltungen zu überwinden, zu denen die Herrschenden sie getrieben haben. Dieses Wiedersehen ist für viele oft ein Moment der Überraschung und der Freude, wenn sie merken, dass sie in Wirklichkeit zusammenstehen.
Wenn sich das Forum in die »Bewegung der Bewegungen« verwandelte, stünde dieses Wiedersehen unter dem Vorbehalt, einer Struktur angehören zu müssen, die aus sich heraus die Einheit herstellen will — mit allen Konsequenzen, die daraus folgen. Konkurrenz und Spaltung würden sich erneut breit machen — Ergebnis des Kampfes um Raum und Einfluss und um die Führung und die Definitionsmacht der Ziele der neuen Bewegung.

Francisco Whitaker

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