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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2003, Seite 21

Neuer Antikapitalismus I

Loccumer Initiative diskutiert »Globalisierung« und »Globalisierungskritik«

Ist die Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung eine neue Internationale? Diese Frage diskutierten 60 Wissenschaftler, Aktivisten und Gewerkschafter, die auf Einladung der Loccumer Initiative Kritischer WissenschaftlerInnen vom 17. bis 19.Oktober in die evangelische Akademie nach Loccum gekommen waren. Es zeigte sich dabei, dass die Beantwortung dieser Frage ohne eine Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche eigentlich nicht möglich ist.
Zwar war man sich einig, dass die Behauptung vom Ende der Politik und der zunehmenden Ohnmacht der Nationalstaaten reine Rhetorik ist, wie der Ökonom und Politologe Michael Krätke und der WTO-Experte von Greenpeace, Jürgen Knirsch, darlegten — eine schlüssige Deutung der gegenwärtigen Entwicklungen und eine (Selbst-)Interpretation der Bewegung gelang jedoch nur ansatzweise. So wies Nico Verhagen von der Via Campesina darauf hin, dass sich auf dem Agrarsektor zwei unterschiedliche Produktionslogiken antagonistisch gegenüberstünden: einerseits die vorwiegend kleinbäuerliche, traditionell auf Nachhaltigkeit und lokale Märkte orientierte Landwirtschaft, andererseits das export- und profitorientierte Agrobusiness, das versuche, mit der Liberalisierung des Agrarhandels oder der Forcierung des Anbaus gentechnisch veränderter Organismen die regionale Landwirtschaft zu zerstören und die lokalen Märkte unter seine Kontrolle zu bringen. Die Bauern- und Landarbeiterbewegung habe daher erheblichen Druck auf die nationalen Regierungen ausgeübt, die WTO- Verhandlungen und Cancun scheitern zu lassen und verbuche das als Erfolg. Die Frage nach der Reform oder der Abschaffung der WTO, wie sie innerhalb der Gobalisierungskritiker diskutiert wird, stelle sich daher nicht.
Das historische Novum, dass eine Organisation der Landbevölkerung — die immerhin noch etwa die Hälfte der Menschheit ausmacht — zum international mit am besten organisierten Teil des antikapitalistischen Flügels der Antiglobalisierungsbewegung gehört, unterstrich der Beitrag von Jeannine Geißler über die neuen gewerkschaftlichen Strömungen. Zwar gebe es weltweit keinen Mangel an Arbeitskämpfen und ein Teil der Gewerkschaftsbewegungen erprobe intensiv neue Formen des Widerstands. Zu einer internationalen Organisierung des kollektiven Gesamtarbeiters, der dem Profitsystem eine eigene Produktions- und Reproduktionslogik entgegenstelle, ist es aber noch ein weiter Weg. Hier könnten Genossenschaften eine Rolle spielen — das deutete Wilhelm Kaltenborn an, der implizit die Verwerfungen des Frühkapitalismus mit heutigen Prekarisierungsprozessen verglich. Die Idee der Genossenschaft sei nicht nur mit unmittelbar materiellen Interessen, sondern eng mit der Würde der Mitglieder und der Idee der kooperativen Tätigkeit verbunden. Die Selbstverwaltung der Produktion als Ausdruck einer nichtkapitalistischen Produktionslogik, wie sie am Beispiel des jugoslawischen Modells in die Diskussion gebracht wurde, wurde jedoch nicht weiter verfolgt.
Ein ähnliche Problematik tauchte bei der Diskussion der organisatorischen Ziele und Methoden von Attac auf, die Felix Kolb vorstellte: Die Aktivisten von Attac kämen vorwiegend aus gebildeten, aber ebenfalls von Prekarisierungsprozessen bedrohten oder betroffenen Mittelschichten. Die Selbstorganisierung in netzwerkartigen, horizontalen Strukturen und das Selbstverständnis als »Volksbildungsbewegung« verweisen möglicherweise auf einen Aspekt, der näher zu untersuchen wäre: Wenn produktionssteuernde und wissenschaftliche Tätigkeiten gegenüber den manuellen Tätigkeiten weltweit an Bedeutung gewinnen und infolgedessen auch die Aneignung und Produktion von Wissen — müssten sich die Tendenzen für eine neue, nichtkapitalistische industrielle Produktionslogik dann nicht im Bildungssektor zeigen? Die nächste Tagung soll sich zumindest mit genau diesem Bereich befassen.

Gregor Kritidis

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