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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2003, Seite 22

Aus dem Reich der Toten

»Die linke Mitte ist als politisches Projekt längst tot … In unserer Zeit der globalen Krise gibt es den ›Reformismus‹ nicht mehr. Es gibt keine moderate linke Kraft, die in der Lage wäre, relative soziale Verbesserungen herauszuholen. Was sich heute in Italien selbst als ›Reformismus‹ bezeichnet, ist nur ein etwas abgemilderter Neoliberalismus.«
Diese Diagnose vom Vorsitzenden der italienischen Rifondazione Comunista, Fausto Bertinotti, ist treffend für die gesamte Sozialdemokratie und entspricht heutzutage der alltäglichen Erfahrung Hunderttausender von Gewerkschaftsaktivisten, Betriebsräten und Beschäftigten im Bereich der sozialen Dienstleistungen. Selbst der berühmte neue Klodeckel in der Proletenumkleide kann bei der gegenwärtigen Kampflaune des Kapitals und seiner Regierung nur mittels einer gehörigen Portion Radikalität und Systemkritik erkämpft werden. Im Gegensatz zur viel beschworenen Ankündigung, hat der Mittelweg nicht erst in Gefahr und großer Not, sondern schon viel früher den Tod gebracht.
Es ist deshalb ein klarer Fall von Nekrophilie, wenn derselbe Bertinotti ein Parteienbündnis ausgerechnet mit der französischen, spanischen und griechischen KP sowie der deutschen PDS als Zukunftsprojekt der europäischen Linken anpreist. Speziell bei der deutschen »Partei des demokratischen Sozialismus« ist die Erstarrung zur Sozialdemokratischen Partei schon so fortgeschritten und sind die Tänze der Herren Bisky, Gysi und Anhang nur noch Totenkult, dass sie von der bürgerlichen Medienwelt noch nicht einmal mehr totgeschwiegen werden müssen. Verstorben ohne Feindeinwirkung.
Es gibt unter den Gepflogenheiten der bürokratischen Machtabsicherung deutscher Gewerkschaftsführungen unterschiedliche Begräbniszeremonien für unerwünschte, in der Regel linke Anträge zu Gewerkschaftskongressen. Das Bestattungsinstitut nennt sich in der Regel »Antragsberatungskommission« oder ähnlich. »Ablehnung empfohlen« ist dabei durchweg noch ein Ehrentitel, der immerhin ein Wiederaufleben ermöglicht. Die Übernahme als Material für den Vorstand ist die übliche Beerdigung dritter Klasse. Manchmal wird auch die Bestattung erster Klasse eingeräumt: »Erledigt durch die Praxis.« Das ist jetzt den Anträgen zur Aufhebung der Unvereinbarkeitsbeschlüsse in der IG Metall widerfahren.
Erledigt durch die Praxis, das wäre auch eine schöne Beisetzung der toten Sozialdemokratie. Allein, wir glauben nicht dran: das Faszinosum der sozialdemokratischen Mythen scheint unausrottbar. Im Gegensatz zur bürokratischen Welt der Gewerkschaftsfunktionäre gibt es in der wirklichen Welt leider keine Antragsberatungskommission, die über Wohl und Wehe entscheidet.
Der Mittelweg mag tot sein und zum Tod führen, den Kult um ihn gibt es immer noch. Und selbst der widerwärtigste Verwesungsgeruch schafft es nicht, den Kult zu vertreiben: Da gibt es in der SPD sechs Figuren, die in der Öffentlichkeit als »Abweichler« bezeichnet werden, in Wahrheit aber hirn- und rückratlose Figuren sind, ohne Gewissen und Prinzipien. Sie sind sozusagen die Maden am Leichnam der SPD, oder die Würstchen, die zu verkaufen sich Olaf Scholz schon heute erlaubt, und nicht erst im Falle seiner Arbeitslosigkeit. Allein diese Sechs müssten Anlass für die Sechshunderttausend sein, die noch in der SPD sind, ihr Mitgliedsbuch wegzuschmeißen. Aber solange eine radikale Alternative nicht für das Leben wirbt, solange wird dem Tod halt noch gehuldigt.
Ist Nekrophilie nicht strafbar?

Thies Gleiss

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