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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2003, Seite 10

Politische Subjekte und Aktionsformen

Neue Libertäre, neue Kommunisten?

Paris-La Villette, Freitag 14 Uhr. Der Veranstaltungsort »Le Trabendo« ist brechend voll. Vor der Tür warten mindestens nochmal so viele »Altermondialistes«. Ein paar hundert Menschen werden von den freiwilligen Helfern zurück gehalten. Ihr undankbarer Job ist es, den zuströmenden Menschen, die von privaten Sicherheitsdiensten verordneten »Vorschriften« zu vermitteln. Mit wenig Erfolg. Vor der Tür, unter einem sonnigen Novemberhimmel, bilden sich spontane Sprechchöre: ‘Come outside, it‘s a sunny day!‘ Nach einer halben Stunde wird die Sound-Anlage nach draußen gebracht.
Gekommen war der vorwiegend junge, radikalere Teil der »Bewegung der Bewegungen«, um eine ihrer intellektuellen Ikonen live zu hören. Hatte man in Florenz lediglich über die Thesen des italienischen Philosophen Antonio Negri diskutieren können, weil er seit der Rückkehr aus seinem französischen Exil nach Italien noch in Haft war, so bot sich in Paris die Gelegenheit einer Kontroverse mit dem Autor von Empire. Ein großartiges Teach-In im Freien. Dazu hatte das Projekt K, ein Netzwerk kritisch-marxistischer Theoriezeitschriften, Alex Callinicos, den theoretischen Kopf der britischen Socialist Workers Party (SWP) eingeladen, der in einem ersten Statement den von Hardt und Negri in die Debatte geworfenen, schillernden Begriff der »Multitude« zu entzaubern versuchte.
Callinicos kritisierte die analytische Unschärfe des »poetischen« Begriffs, der immer wieder dazu herhalten müsse, die Bewegung gegen die traditionellen Organisationen der Arbeiterklasse auszuspielen. So würden beispielsweise in der italienischen Zeitschrift Global als politisches Subjekt alle Unterdrückten genannt — von den prekär Beschäftigten und Erwerbslosen über die Migranten und Flüchtlinge bis zu den immateriellen Arbeiterinnen —, nicht aber die streikende Arbeiterklasse. Die ideologische Trennung zwischen Bewegung und Arbeiterklasse mache beide schwach.
Letztere aber habe in ihrer organisierten Form die besondere Fähigkeit, nicht nur »Widerstand« gegen ein diffuses »Empire« zu leisten, sondern die Welt auch wirklich zu verändern. Die Abneigung der neo- autonomistischen Strömung der globalisierungskritischen Bewegung gegenüber den Gewerkschaften gehe einher mit der Unfähigkeit zur Analyse ihrer bürokratischen Führungen. So würden die Möglichkeiten, innerhalb der Arbeiterorganisationen gegen die Bürokratie zu kämpfen, schlichtweg unterschätzt. Als gelungenes Beispiel führte er den Poststreik in England an, der nicht zuletzt durch die Dynamik der Antikriegsmobilisierungen angestoßen wurde und zu Vernetzungen jenseits der Gewerkschaftsbürokratien führte. Dies zeige, dass nur die Synergie zwischen den dynamischeren, energischeren und kreativeren Aktionsformen der Bewegung und den klassenkämpferischen Qualitäten der traditionellen Arbeiterbewegung erfolgreich sein kann.
Toni Negri wehrte sich in seiner Replik dagegen, dass die »Multitude« nur ein »poetisches Konzept« sei. Mit einer sich manchmal überschlagenden Agitationsrhetorik resümierte er aus seiner Sicht die Grundzüge des imperialen Zeitalters: Die Struktur der Arbeiterklasse habe sich nach 1968 mit der neoliberalen Konterrevolution grundlegend gegenüber der industriellen Produktionsweise verändert. Fabrikarbeit stehe nicht mehr im Zentrum der Warenproduktion. Stattdessen werde der Wert vorrangig von der immateriellen, kreativen und intellektuellen Arbeit geschaffen.
Das politische Subjekt der »Multitude« sieht er in den Millionen von Arbeitenden, die Profit produzieren und damit jeweils »Singularitäten der ausgebeuteten Arbeit« bilden. Diese seien fälschlicherweise und mit verheerenden Konsequenzen in die Zwangsjacke eines Klassenkonzepts gesteckt worden, das von undifferenzierten Massen ausgehe und politische Hegemonie anstrebe. Die »Multitude« als Gegenbegriff impliziere nicht nur die Differenzen und Singularitäten des alltäglichen Widerstands gegen die Gewalt der Macht in der Produktions- und Reproduktionssphäre, die Möglichkeit des Ungehorsams (disobbedienza) überall und zu jeder Zeit, sondern auch den Abschied von Kategorien wie »Nation« oder »Volk«.
So wichtig diese Begriffsdekonstruktionen auch sein mögen, so absurd sind die strategischen Schlussfolgerungen. Als Negri verkündete, dass die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung heute kein Thema mehr sei, war es ein leichtes für Callinicos, auf die völlige Realitätsferne dieses Arguments hinzuweisen — in Zeiten, wo das Kapital systematisch auf die Verlängerung der Arbeitszeit drängt.
Am Vormittag hatte sich der linke Flügel der Bewegung in einer Arbeitsgruppe über Aktionsformen für ihre Kämpfe verständigt. Hier bot sich ein eklektisches Amalgam aus Modebegriffen von Hardt/Negri bis John Holloway. Pedram Shahyar von Attac-Campus Deutschland hielt ein ?ammendes, wenn auch mitunter recht voluntaristisches Plädoyer für Aktionen des zivilen Ungehorsams, die auf dem physischen Widerstand des »Körpers« gegen »die Institutionen« basieren sollten. Wenn trotz millionenfacher Proteste der Krieg gegen den Irak nicht gestoppt werden konnte, dann reichten Demonstrationen nicht mehr aus. Luca Casarini, der Sprecher der italienischen »Disobbedienti«, betonte indes, »Ungehorsam« bedeute nicht, auf Organisation zu verzichten, sondern sich innerhalb der Bewegung, der »konkreten sozialen Dynamik der Multitude«, zu organisieren.
Was in Deutschland noch allzu sehr als exotisches Vokabular daher plätschert, um die revolutionäre Ungeduld zu befriedigen, entfaltet durch die »reiferen« Erfahrungen aus Griechenland, Italien oder Spanien eine durchaus radikalisierende Wirkungskraft. Die Aktionen gegen politische Gefangene im spanischen Staat und gegen die Abschiebung Illegalisierter schaffen Aufmerksamkeit für die Gewalt der alltäglichen Machtstrukturen. Sehr erfolgreich war auch die Besetzung eines Air-France Büros durch Aktive des GLAD (des Jugendtreffpunkts im ESF).
Direkte Aktionen des zivilen Ungehorsams, das hat sich erneut gezeigt, sind ein wichtiger Bestandteil der Bewegung. Doch ihren großen Erfolg in Paris verdanken die radikaleren Teile der Bewegung der Tatsache, dass sie sich kritisch, aber dezidiert, in den Rahmen des Sozialforums gestellt haben. Alles andere wäre Sektierertum gewesen.
Die entscheidende Trennlinie, das wurde in Paris immer wieder betont, verläuft nicht zwischen den sozialen Bewegungen und der politischen Linken, sondern zwischen dem ‚«linken« Liberalismus à la PS (Sozialistische Partei) oder SPD/Grüne und der authentischen, antikapitalistischen Linken.

Patrick Ramponi

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