SoZ Sozialistische Zeitung |
Paris-La Villette, Freitag 14 Uhr. Der Veranstaltungsort »Le Trabendo« ist brechend voll. Vor der Tür
warten mindestens nochmal so viele »Altermondialistes«. Ein paar hundert Menschen werden von den freiwilligen Helfern zurück gehalten.
Ihr undankbarer Job ist es, den zuströmenden Menschen, die von privaten Sicherheitsdiensten verordneten »Vorschriften« zu vermitteln. Mit
wenig Erfolg. Vor der Tür, unter einem sonnigen Novemberhimmel, bilden sich spontane Sprechchöre: Come outside, its a sunny
day! Nach einer halben Stunde wird die Sound-Anlage nach draußen gebracht.
Gekommen war der vorwiegend junge, radikalere Teil der »Bewegung der
Bewegungen«, um eine ihrer intellektuellen Ikonen live zu hören. Hatte man in Florenz lediglich über die Thesen des italienischen
Philosophen Antonio Negri diskutieren können, weil er seit der Rückkehr aus seinem französischen Exil nach Italien noch in Haft war, so bot
sich in Paris die Gelegenheit einer Kontroverse mit dem Autor von Empire. Ein großartiges Teach-In im Freien. Dazu hatte das Projekt K, ein Netzwerk
kritisch-marxistischer Theoriezeitschriften, Alex Callinicos, den theoretischen Kopf der britischen Socialist Workers Party (SWP) eingeladen, der in einem ersten
Statement den von Hardt und Negri in die Debatte geworfenen, schillernden Begriff der »Multitude« zu entzaubern versuchte.
Callinicos kritisierte die analytische Unschärfe des »poetischen« Begriffs,
der immer wieder dazu herhalten müsse, die Bewegung gegen die traditionellen Organisationen der Arbeiterklasse auszuspielen. So würden
beispielsweise in der italienischen Zeitschrift Global als politisches Subjekt alle Unterdrückten genannt von den prekär Beschäftigten
und Erwerbslosen über die Migranten und Flüchtlinge bis zu den immateriellen Arbeiterinnen , nicht aber die streikende Arbeiterklasse. Die
ideologische Trennung zwischen Bewegung und Arbeiterklasse mache beide schwach.
Letztere aber habe in ihrer organisierten Form die besondere Fähigkeit, nicht nur
»Widerstand« gegen ein diffuses »Empire« zu leisten, sondern die Welt auch wirklich zu verändern. Die Abneigung der neo-
autonomistischen Strömung der globalisierungskritischen Bewegung gegenüber den Gewerkschaften gehe einher mit der Unfähigkeit zur
Analyse ihrer bürokratischen Führungen. So würden die Möglichkeiten, innerhalb der Arbeiterorganisationen gegen die
Bürokratie zu kämpfen, schlichtweg unterschätzt. Als gelungenes Beispiel führte er den Poststreik in England an, der nicht zuletzt
durch die Dynamik der Antikriegsmobilisierungen angestoßen wurde und zu Vernetzungen jenseits der Gewerkschaftsbürokratien führte. Dies
zeige, dass nur die Synergie zwischen den dynamischeren, energischeren und kreativeren Aktionsformen der Bewegung und den klassenkämpferischen
Qualitäten der traditionellen Arbeiterbewegung erfolgreich sein kann.
Toni Negri wehrte sich in seiner Replik dagegen, dass die »Multitude« nur ein
»poetisches Konzept« sei. Mit einer sich manchmal überschlagenden Agitationsrhetorik resümierte er aus seiner Sicht die
Grundzüge des imperialen Zeitalters: Die Struktur der Arbeiterklasse habe sich nach 1968 mit der neoliberalen Konterrevolution grundlegend
gegenüber der industriellen Produktionsweise verändert. Fabrikarbeit stehe nicht mehr im Zentrum der Warenproduktion. Stattdessen werde der
Wert vorrangig von der immateriellen, kreativen und intellektuellen Arbeit geschaffen.
Das politische Subjekt der »Multitude« sieht er in den Millionen von Arbeitenden,
die Profit produzieren und damit jeweils »Singularitäten der ausgebeuteten Arbeit« bilden. Diese seien fälschlicherweise und mit
verheerenden Konsequenzen in die Zwangsjacke eines Klassenkonzepts gesteckt worden, das von undifferenzierten Massen ausgehe und politische Hegemonie
anstrebe. Die »Multitude« als Gegenbegriff impliziere nicht nur die Differenzen und Singularitäten des alltäglichen Widerstands gegen
die Gewalt der Macht in der Produktions- und Reproduktionssphäre, die Möglichkeit des Ungehorsams (disobbedienza) überall und zu jeder
Zeit, sondern auch den Abschied von Kategorien wie »Nation« oder »Volk«.
So wichtig diese Begriffsdekonstruktionen auch sein mögen, so absurd sind die
strategischen Schlussfolgerungen. Als Negri verkündete, dass die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung heute kein Thema mehr sei, war es ein
leichtes für Callinicos, auf die völlige Realitätsferne dieses Arguments hinzuweisen in Zeiten, wo das Kapital systematisch auf die
Verlängerung der Arbeitszeit drängt.
Am Vormittag hatte sich der linke Flügel der Bewegung in einer Arbeitsgruppe
über Aktionsformen für ihre Kämpfe verständigt. Hier bot sich ein eklektisches Amalgam aus Modebegriffen von Hardt/Negri bis John
Holloway. Pedram Shahyar von Attac-Campus Deutschland hielt ein ?ammendes, wenn auch mitunter recht voluntaristisches Plädoyer für Aktionen
des zivilen Ungehorsams, die auf dem physischen Widerstand des »Körpers« gegen »die Institutionen« basieren sollten. Wenn
trotz millionenfacher Proteste der Krieg gegen den Irak nicht gestoppt werden konnte, dann reichten Demonstrationen nicht mehr aus. Luca Casarini, der
Sprecher der italienischen »Disobbedienti«, betonte indes, »Ungehorsam« bedeute nicht, auf Organisation zu verzichten, sondern sich
innerhalb der Bewegung, der »konkreten sozialen Dynamik der Multitude«, zu organisieren.
Was in Deutschland noch allzu sehr als exotisches Vokabular daher plätschert, um die
revolutionäre Ungeduld zu befriedigen, entfaltet durch die »reiferen« Erfahrungen aus Griechenland, Italien oder Spanien eine durchaus
radikalisierende Wirkungskraft. Die Aktionen gegen politische Gefangene im spanischen Staat und gegen die Abschiebung Illegalisierter schaffen
Aufmerksamkeit für die Gewalt der alltäglichen Machtstrukturen. Sehr erfolgreich war auch die Besetzung eines Air-France Büros durch
Aktive des GLAD (des Jugendtreffpunkts im ESF).
Direkte Aktionen des zivilen Ungehorsams, das hat sich erneut gezeigt, sind ein wichtiger
Bestandteil der Bewegung. Doch ihren großen Erfolg in Paris verdanken die radikaleren Teile der Bewegung der Tatsache, dass sie sich kritisch, aber
dezidiert, in den Rahmen des Sozialforums gestellt haben. Alles andere wäre Sektierertum gewesen.
Die entscheidende Trennlinie, das wurde in Paris immer wieder betont, verläuft nicht
zwischen den sozialen Bewegungen und der politischen Linken, sondern zwischen dem ‚«linken« Liberalismus à la PS (Sozialistische Partei)
oder SPD/Grüne und der authentischen, antikapitalistischen Linken.
Patrick Ramponi
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04