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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2003, Seite 17

Israel/Palästina

Über die Grenzen linker Solidaritätsarbeit

Schriftliche Fassung eines Vortrags auf dem Attac-Ratschlag im Oktober.

Medico international ist seit den frühen 80er Jahren in Israel/Palästina engagiert, lange mit Schwerpunkt in den palästinensischen Lagern im Libanon, auch deshalb, weil wir den Oslo-Prozess von Anfang an als unzureichend kritisiert haben. Wir leisten aber auch finanzielle und politische Hilfe im Autonomiegebiet, wo wir gezielt Projekte der zivilgesellschaftlichen Kooperation palästinensischer und israelischer Organisationen unterstützen. Wir finanzieren die Zusammenarbeit der israelischen Ärzte für Menschenrechte mit den palästinensischen Medizinischen Hilfskomitees, aber auch Projekte des ebenfalls palästinensisch-israelischen Alternative Information Center sowie die Women against Violence, die arabische Frauen in Israel gegen die Gewalt verteidigen, die sie in ihrer eigenen Community, in ihren eigenen Familien erfahren, die von einem militanten Re-Islamisierungsprozess heimgesucht werden.
Wir haben uns stets als Teil der internationalen Solidaritätsbewegung gegen koloniale und postkoloniale Herrschaft und Ausbeutung verstanden und verstehen uns zugleich als Teil der weltweiten Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung. Wir sind deshalb Mitgliedsorganisation von Attac. In diesem Sinne haben wir im zurückliegenden August ein internationales Seminar des israelisch- palästinensischen Alternative Informationen Center in Bethlehem mit finanziert, dass den Titel trug: »Ein Mittlerer Osten ohne Krieg und Unterdrückung ist möglich: Der palästinensische Kampf und die Globalisierung«.

Ein Kolonialkonflikt

Wir sind der Überzeugung, dass der israelisch-palästinensische Konflikt in seinem Wesen ein kolonialer Konflikt ist. Wir lehnen jede Form kolonialer Herrschaft und Ausbeutung ab und fordern deshalb mit unseren Partnern vor Ort ein Ende der Besatzung der Autonomiegebiete, den Rückzug der israelischen Armee, den sofortigen Stopp des Mauerbaus, die Auflösung der israelischen Siedlungen im Autonomiegebiet und die symbolische Anerkennung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon. Wir sind der Überzeugung, dass man zuerst von diesen Forderungen und von der Gewalt des israelischen Staates sprechen muss, gegen die sich diese Forderungen richten.
Unsere über 30-jährige Erfahrung in der solidarischen Unterstützung antikolonialer sozialer Bewegungen hat uns aber auch schmerzlich die Grenzen der Solidarität gelehrt. Wir haben erleben müssen, wie Befreiungsbewegungen in Angola und anderswo an die Macht gelangten und Diktaturen errichteten, unter denen die Menschen noch heute leiden. So haben wir unsere Unterstützung der heute ebenfalls autoritär regierenden Ex-Befreiungsbewegung Namibias abgebrochen, als wir erfuhren, welchen Terror sie in ihren eigenen Lagern gegen die eigenen Leute verübt hat. Wir haben im Rahmen der Internationalen Kampagne gegen Landminen erfahren müssen, wie viel Unheil das Verlegen von Minen auch durch Befreiungsbewegungen weltweit verursacht hat. In unserer Unterstützung der gleich in mehreren Ländern dieser Welt — auch Deutschland — unterdrückter Kurdinnen und Kurden haben wir aus nächster Nähe erfahren müssen, dass die Gewalt, unter der Menschen kurdischer Herkunft noch immer leiden, auch von Organisationen ausgeht, die sich »Befreiungsbewegung« nennen.
Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung: Aus dem Widerstand gegen koloniale Herrschaft und Ausbeutung und aus der Solidarität mit Menschen, die gegen sie um ihre Rechte kämpfen, kann nicht umstandslos eine Unterstützung von Institutionen, Organisationen und Bewegungen abgeleitet werden, die sich als »antikolonial« bezeichnen. Im Gegenteil: Nicht selten gilt es, Menschen nicht nur gegen ihre primären Unterdrücker, sondern auch gegen ihre vorgeblichen »Befreier« zu verteidigen.
Diese Erfahrung lässt sich heute an vielen Orten der Welt machen, im ehemaligen Jugoslawien oder in Tschetschenien, aber auch in Israel/Palästina.

Solidarität und Emanzipation

Die gegenwärtige Intifada ist nicht nur ein Befreiungskampf von Palästinenserinnen und Palästinensern gegen die israelische Besatzung. Sie ist auch ein Kampf, in dem Palästinenser von anderen Palästinensern unterdrückt, ja sogar in Leib und Leben geopfert werden, und sie ist ein Kampf, von dem eine unerträgliche Gewalt gegen unschuldige Menschen in Israel ausgeht. Die Selbstmordattentate werden in ihrem spezifischen Grauen, ihrer inakzeptablen Brutalität verfehlt, wenn sie — was immer wieder geschieht — als Verzweiflungstaten einzelner Menschen gedeutet werden. Tatsächlich entspringen sie einer systematisch angewandten und durch organisierten Strategie, hinter der eben nicht nur die von vielen Palästinensern unterstützten islamischen Organisationen Hamas und Jihad stehen, sondern auch Teile des militanten Flügels der Al-Fatah als der größten palästinensischen Befreiungsorganisation. Zugleich muss gesehen werden, dass der Terror der Selbstmordattentate über lange Zeit von den dominanten Kräften der palästinensischen Autonomiebehörde wenigstens in Kauf genommen wurde. Das lässt vielen Menschen in Palästina und Israel keine Ruhe, und kann von uns nicht ignoriert werden.
Zwar ist die Gewalt in Israel/Palästina von einer extremen Asymmetrie gezeichnet, die sich auch an der blutigen Mathematik der Opferzahlen ablesen lässt. Trotzdem gibt es in diesem Konflikt auch eine Symmetrie: Nicht im Ausmaß der Gewalt, wohl aber in der Logik ihrer Anwendung. Israelische Armee und palästinensische Guerilla üben einen Terror aus, in dem es nur noch um die Traumatisierung und Demütigung des jeweils anderen geht, und es ist dieser Terror, der einer demokratischen Lösung des Konflikts im Wege steht.
Selbstverständlich müssen die palästinensischen Forderungen erfüllt werden. Doch die Politik großer Teile der palästinensischen Nationalbewegung ist nicht geeignet, diese Forderungen durchzusetzen. Dem müssen wir ins Auge sehen.
Das Scheitern der in ihrer Mehrheit nichtreligiösen, bürgerlich-nationalistisch oder von links her inspirierten palästinensischen Nationalbewegung der 60er, 70er und 80er Jahre hat diese Nationalbewegung und mit ihr die ganze palästinensische Gesellschaft massiv verändert. Linke Organisationen — die Kommunistische Partei, die PFLP und die DFLP — sind heute ein Schatten ihrer selbst. Die bürgerliche Nationalbewegung der Al-Fatah und die von ihr dominierte Autonomiebehörde unterstehen dem autoritären Netz ihrer lange Jahre ins libanesische und später tunesische Exil vertriebenen alten Kommandanten. Sie bilden eine in weiten Teilen korrupte Elite, die sich vor allem der ausländischen Ressourcen bemächtigt, die ins bitterarme Palästina strömen. Solche Verhältnisse kennen wir aus vielen anderen Ländern des verelendeten Südens: die Korruption von Eliten, die — einst »Eliten« des Befreiungskampfs — jetzt vor allem am Erhalt der eigenen Pfründe interessiert sind.
Mit massiver Unterstützung aus den zumeist autoritären Staaten des arabischen bzw. islamischen Raums haben Hamas und Jihad das Vakuum besetzt, das der Zerfall der emanzipatorischen Kräfte der Nationalbewegung hinterlassen hat. Hamas ist zuerst eine soziale Bewegung, die sich durch eine in die gesamte palästinensische Gesellschaft verzweigte Struktur von zivilgesellschaftlichen und karitativen Organisationen Anerkennung und Unterstützung erworben hat. Die Geschenke des Islamismus aber sind vergiftete Geschenke — davon können palästinensische Frauen und Jugendliche traurige Geschichten erzählen, die mich nicht weniger empören als die alltägliche Erniedrigung der Palästinenserinnen und Palästinensern durch die israelische Besatzung.
Und wenn ich an die Tausende junger Menschen denke, die von Hamas, Jihad und vom militanten Flügel der Fatah zur Fußtruppe ihrer reaktionären und antiemanzipatorischen Politik gemacht werden, erfüllt mich das mit Zorn, nicht nur über die Gewalt des israelischen Staates, die diese Menschen zur Hamas führt, sondern auch über ihre religiösen, militärischen und politischen Führer, denen ich jede Solidarität verweigere.
Sich trotzdem für die palästinensischen Forderungen einzusetzen heißt folglich, die Friedens- und Demokratisierungsbewegungen in Palästina und Israel zu unterstützen, die in beiden Gesellschaften heute nur Minderheiten bilden. Es heißt, die Menschen zu unterstützen, die in Israel und Palästina heute zwischen den Fronten kämpfen, weil sie sich für die legitime Forderungen der Palästinenserinnen und Palästinenser und zugleich für umfassende Entmilitarisierung und Demokratisierung in Israel und in Palästina einsetzen, gegen die Gewalt des israelischen Staates und die Gewalt, die von einem großen Teil der palästinensischen Nationalbewegung ausgeht.
Das Verhältnis beider Gewalten ist extrem asymmetrisch, und ohne das Ende der Besatzung sowie eine generelle Anerkennung des Unrechts der Nakba, der Vertreibung, kann es weder Frieden noch Demokratie geben. Und auch nicht ohne ein Ende der militarisierten Intifada, ohne Bekämpfung der islamistischen Gewalt, deren Opfer vornehmlich palästinensische bzw. arabische Frauen und Jugendliche sind, d.h. der Gewalt des islamischen Patriarchats. Frieden und Demokratie wird es auch nicht mit dieser Autonomiebehörde geben.
Unsere Partner von der Union des palästinensischen medizinischen Hilfskomitees und viele andere Organisationen fordern die Demokratisierung Palästinas, konkret heute die Wahl eines palästinensischen Ministerpräsidenten durch die Bürgerinnen und Bürger im Autonomiegebiet selbst, in freier, allgemeiner und direkter Wahl. Frieden und Demokratie im Nahen Osten fordern schließlich auch die Anerkennung des Menschheitsverbrechens des Holocaust. Diese letzte Forderung wird nicht von uns an die Palästinenserinnen und Palästinenser herangetragen, sie wird von Menschen in Palästina selbst erhoben, bspw. vom kürzlich verstorbenen Edward Said, der zugleich entschieden für die Rechte der Palästinenser eintrat.
Selbstverständlich entscheiden die Palästinenser selbst über ihre Politik. Nicht ausgeschlossen, dass in freier, allgemeiner und direkter Wahl auf den Block aus militanter Fatah, Hamas und Jihad die Mehrheit der Stimmen fallen wird, wie ja auch auf Sharon eine Stimmenmehrheit gefallen ist. Wir aber entscheiden über Form und Inhalt unserer konkreten Solidarität. Die meine und die von Medico gilt den mutigen Palästinenserinnen und Israelis, die zugleich propalästinensisch und proisraelisch sind, für Frieden, Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit in Israel und Palästina, gegen Krieg, Besatzung, gegen den Siedlerkolonialismus und gegen die terroristische Gewalt, und nicht zuletzt, gegen die kapitalistische Globalisierung, deren Verelendungsdynamik auch zu den Gründen des Krieges in Israel/Palästina gehört.
Über unser Verhältnis zu Holocaust und Antisemitismus entscheiden wir in Deutschland. Es ist unsere Aufgabe, unsere Worte so zu wählen, dass Rechten, Rassisten und Antisemiten der Anschluss verwehrt ist. Die Regel dafür ist einfach: Gelingt es ihnen, sich uns anzuschließen, dann haben wir ein Problem.
Der millionenfache Tod der Lager, vergessen wir das nie, ist ein Meister aus Deutschland, und das von ihm verursachte Grauen, das zum Grauen im Nahen Osten einen wesentlichen Teil beigetragen hat und noch immer beiträgt, wurde in deutscher Sprache gedacht, geplant und planmäßig durchgeführt. Was in dieser Sprache anklingt, auch was da nebenher mit anklingt, ist und bleibt vom Holocaust gezeichnet.
Das alles ist kompliziert und sieht einfache Lösungen nicht vor. Einfacher aber ist emanzipatorische Politik nicht zu haben, nicht für die Palästinenserinnen und Palästinenser unter der erniedrigenden israelischen Gewalt, nicht für die Israelis, deren Gesellschaft sich auch unter dem Druck des islamistischen Terrors hinter der reaktionären Politik Sharons sammelt, und nicht für uns.
Dass eine Lösung weit weg zu sein scheint, entbindet uns aber nicht von der Suche nach ihr, und in dieser Suche sind Identitätsbegriffe wie »das palästinensische Volk« oder »die Intifada« oder gar — so wörtlich vor einer Woche auf einem Treffen des Frankfurter Friedensbündnisses — »die bewaffneten Kräfte des palästinensischen Volkes« wenig hilfreich. Worauf also, zum Schluss, solidarisch sich beziehen? Es gibt — in Israel/Palästina wie anderswo — Kämpfe gegen Krieg und Besatzung und für Demokratisierung auf allen Seiten. Die Menschen, die sie ausfechten, finden sich in Israel — Palästina zwischen den Fronten, verfolgt von israelischer Besatzung, doch angegriffen auch von islamistischer Reaktion und militarisiertem Nationalismus. Die globalisierungskritische Bewegung sollte diese Menschen als Teil ihrer selbst begreifen und daraus politisch, aber auch in materieller Hinsicht alle Konsequenzen ziehen.

Thomas Seibert

Thomas Seibert ist linker Publizist und Mitarbeiter von Medico international.



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