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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2004, Seite 4

Krise der EU

Europa braucht neue Grundlagen

von GIL BUSTER

Das Scheitern der Regierungskonferenz zur EU-Verfassung Mitte Dezember liegt in der Logik selbst des Verfassungsvertrags. Dieser baut auf dem Prinzip der Zusammenarbeit zwischen Staaten, nicht auf dem Prinzip der Souveränität der Bürgerinnen und Bürger Europas auf. Das Prinzip der Zusammenarbeit zwischen Staaten legt nahe, dass Gleichheit zwischen Staaten angestrebt wird; in der realen Welt der neoliberalen Globalisierung bedeutet das aber zwangsläufig, dass einige Staaten gleicher sind als andere, um einen Ausdruck von George Orwell zu gebrauchen. Die Zusammenarbeit funktioniert nur, wenn sich die Interessen der herrschenden Klassen der großen europäischen Staaten durchsetzen, vor allem der Nettozahler in der EU — gleich welche Formel der Stimmenverteilung im Einzelnen dafür gefunden wird.
Die Formel von der doppelten Mehrheit, die der Konvent vorgeschlagen hat (50% der Staaten plus 60% der Bevölkerungen) sichert den großen EU-Staaten eine Führungsrolle zu, die sie hinter dem demografischen Argument verstecken. Grundsätzlich scheint dies das demokratischste Verfahren zu sein — wenn man einmal davon absieht, dass die Bürgerinnen und Bürger dieser 60%-Mehrheit sich nicht direkt oder mittels eines gewählten Mandatsträgers äußern können, sondern dass sie Geiseln ihrer jeweiligen Staaten sind, die ihre Interessen so interpretieren, dass sie mit denen der herrschenden Klassen zusammenfallen. Mit diesem System reicht es, wenn drei große und zwei mittlere oder kleinere Staaten sich einigen, dann kann der Rest deren Interpretation »des gemeinsamen Wohls« in Europa nicht mehr blockieren. Deutschland allein fordert für sich einen Stimmenanteil von 18,2%.
Der Vertrag von Nizza, dem alle Mitgliedstaaten zugestimmt haben, dessen Ratifizierungsprozess aber noch nicht abgeschlossen ist, sieht eine Stimmenverteilung vor, die den mittleren Staaten wie Spanien und Polen viel stärker entgegenkommt. Deutschland hält da nur einen Stimmanteil von 9,2%. Die kleineren Staaten haben dort eine viel größere Macht, Entscheidungen zu blockieren, d.h. neu zu verhandeln, mit dem Risiko, dass die großen Staaten auseinanderdividiert werden. Es ist schwer für sie, darauf zu verzichten, wenn Spanien wie Polen die größten Nutznießer der Mittel aus dem Strukturfonds waren und bleiben. So ist es kein Zufall, dass Spanien und Polen mit ihrem Ansinnen isoliert geblieben sind, und dass die herrschenden Klassen in Europa gegen sie das »europäische Interesse« geltend machen, das natürlich das Ihre ist.
Hat die europäische Linke zwischen dem Vorschlag des Konvents und dem Vertrag von Nizza zu entscheiden? Natürlich nicht. Die eine wie die andere Formel basiert auf dem Prinzip der Souveränität von Staaten, nicht von Bürgerinnen und Bürger; dieses Prinzip ist undemokratisch. Die europäische Verfassungskrise selbst beweist es. Es gibt einen anderen Weg, das ist der, die europäische Verfassung in der Souveränität der Bürgerinnen und Bürger zu verankern, in der Logik des republikanischen Föderalismus, der das Europaparlament mit realen Machtbefugnissen ausstattet und die europäischen Institutionen gegenüber den Bevölkerungen verantwortlich macht, nicht gegenüber Regierungschefs.
Die Blockade in der Frage der Stimmenverteilung hat andere Differenzen verschleiert, die nicht weniger grundsätzlich sind. Können die neutralen Staaten die Abkommen zur europäischen Verteidigung zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien unterzeichnen? Können die Staaten der Eurozone akzeptieren, dass sie in der EU-Kommission eine Minderheit bilden, wenn es an Stelle von 15 Kommissaren 25 gibt? Wie kann eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik durchgesetzt werden, nachdem der Stabilitätspakt gescheitert ist? Können die Grundlagen des Stabilitätspakts überhaupt in den Verfassungsvertrag übernommen werden, wie der Konvent vorgeschlagen hat? Kann das Veto gegen weitere Intergrationsschritte in den Bereichen Steuern, Außenpolitik, soziale Sicherheit und EU-Haushalt überwunden werden, das Großbritannien, aber auch andere große und mittlere Staaten erheben? Wenn das Veto aber bleibt, wie soll dann der Aufbau der EU fortgesetzt werden, wo die Ungleichheit zwischen den Mitgliedstaaten mit der Osterweiterung doch zunimmt?
Die Krise des neoliberalen EU-Projekts geht tief; vor allem fehlt ihr eine demokratische Legitimation, die ihr die Zusammenarbeit zwischen Staaten kaum geben kann. In den Straßen Europas baut sich derzeit ein alternatives Konzept von Europa auf, das im Gegensatz zu dem der herrschenden Klassen steht. Es setzt auf eine demokratische und soziale Neubegründung der Europäischen Union durch eine ebenso einfache wie effektive Methode: das Recht auf eine tatsächliche europäische Bürgerschaft.

Gil Buster ist Mitarbeiter des Europaparlaments aus Spanien



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