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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2004, Seite 5

Wie die PDS im Westen Fuß fassen könnte

Überlegungen zum Europa-Wahlkampf der sozialistischen Linken in Deutschland

Im Oktober griff Peter von Oertzen (jahrzehntelang ein prominenter Vertreter der SPD-Linken und seit vielen, vielen Jahren ein erbitterter Kritiker seiner eigenen Partei) nicht nur in die in der SoZ geführte Debatte um eine mögliche Wahlkampfkandidatur der deutschen Freundinnen und Freunde der EAL zur Europawahl im kommenden Sommer ein (siehe SoZ 11/03). Parallel sandte er auch der PDS-Führung (mit Kopie u.a. an die SoZ) ein Strategiepapier zu eben jenen Wahlen, in welchem er die PDS für eine nachhaltige Öffnung zur Westlinken zu gewinnen suchte. Wir wissen zwar nicht, ob und wie die Führungsgremien der PDS dieses Papier diskutiert haben (veröffentlicht wurde es bisher unseres Wissens nicht), wir glauben aber, dass es von großem Interesse auch für andere Linke ist, zumal für jene, die überlegen, wie man in den Europawahlkampf des nächsten Jahres sinnvoll eingreifen könnte/müsste. Oertzens Papier wird hier leicht gekürzt veröffentlicht.

Es scheint mir selbstverständlich zu sein, dass es im existenziellen Interesse der PDS liegt, bei den Europawahlen 2004 nach dem Rückschlag 2002 bei den BTW wieder die 5%-Grenze zu überschreiten, und zwar deutlich. Andernfalls würde sich in der Wählerschaft der Eindruck festsetzen, die PDS sei auf Bundesebene ein für alle Mal kein politisch beachtlicher Faktor mehr.
Voraussetzungen für einen erfolgreichen Wahlkampf der PDS wären jedoch zwei Einsichten, und zwar
dass für ein Überschreiten der 5%-Grenze der Wähleranteil im »Westen« deutlich erhöht werden müsste, und
dass im »Westen« der PDS-Wahlkampf nach Form und Inhalt anders angelegt werden müsste als im »Osten«.
Zum Einen: Der PDS-Anteil lag bei der Bundestagswahl 2002 im »Westen« nur knapp über 1%; nur in einem guten Dutzend von Wahlkreisen im »Westen« erreichte sie 2% oder etwas mehr. Bei einem Anteil von rd. 16—17% im »Osten« — wie 2002 — ist das für das Erreichen der 5%-Grenze nicht genug. Nur ein Anteil von deutlich über 20% brächte die Partei (wenn überhaupt) über die 5%-Hürde. Ob das erreichbar ist, erscheint mir sehr fraglich. Hingegen halte ich einen Anteil von rd. 2,5% im »Westen« für ein wenig realistischer. Er würde mit 16—17% im »Osten« die 5%-Quote vermutlich sicherstellen.
Ich habe allerdings den Eindruck gewonnen, dass die politische Problematik des »Westens« bisher in der PDS nicht genügend beachtet worden ist. Die Schwäche der PDS im »Westen« — trotz 13 Jahren Bemühungen — ist offen gesagt katastrophal und schließt eigentlich eine Rolle der PDS als einer wirklichen gesamtdeutschen Partei aus. Soweit ich aus Parteimedien etwas darüber entnehmen kann, ist dieser Umstand bisher auch nicht gründlich analysiert worden. Punktuelle Kommunalwahlerfolge (Marburg, Duisburg, OB-Wahl Lörrach z.B.) scheinen mir nicht daraufhin untersucht worden zu sein, ob die dortigen Bedingungen sich nicht verallgemeinern und übertragen ließen. Auch finde ich keine tiefer gehende Diskussion der Frage, warum und wieso die Idee des »demokratischen Sozialismus« — vor allem angesichts des Zustands der SPD — im »Westen« keine größere Resonanz findet, obwohl seriöse Umfragen — auch und gerade von Forschern aus dem »Osten« — deutlich zeigen, dass ein politisches Potenzial hierfür im »Westen« durchaus vorhanden ist — gar nicht viel schwächer als im »Osten«.
Zum anderen: Der PDS-Wahlkampf müsste auch auf die jeweiligen besonderen gesellschaftlichen, politischen und ideellen Bedingungen in den beiden Teilen Deutschlands zugeschnitten sein. Im »Osten« geschieht das vermutlich ganz selbstverständlich, im »Westen« anscheinend nicht.

In West und Ost gelten andere Regeln

Im Zentrum solcher Überlegungen müsste die Einsicht stehen, dass die separate Entwicklung der deutschen Gesellschaft von 1945 bis 1990 in Ökonomie, Sozialstruktur, gesellschaftlichen Einstellungen und Verhaltensweisen (der französische Soziologe P. Bourdieu nennt diesen Zusammenhang »Habitus«) zu tiefgreifenden Unterschieden geführt hat, die gar nicht überschätzt werden können. Das radikal verschiedene Wahlverhalten in West- und Ost-Berlin ist eine drastische Illustration dieses Sachverhalts. Die genauere historisch-soziologische Analyse dieses Problems kann hier nicht dargestellt werden. Es sei nur auf einige zentrale Umstände verwiesen, die mir offen zu Tage zu liegen scheinen.
Die PDS ist im östlichen Parteiensystem eine der drei großen »Volksparteien«, die als seriöse Alternativen der praktischen Politik wahrgenommen und gewählt werden. Im »Westen« ist die PDS hingegen eine Splitterpartei, die zu wählen lediglich eine Art von politischem Glaubensbekenntnis darstellt, nicht aber einen Akt praktischer Politik — wenn wir von dem kleinen (zu kleinen) Beitrag zum Wahlergebnis auf Bundesebene einmal absehen.
Schon allein dieser Umstand erfordert eine eigenständige Wahlkampagne »West«. Es ist nicht bloß ein quantitativer Unterschied, sondern ein qualitativer Unterschied, ob ich meinem Wahlkampf in meinem örtlich-regionalen Umfeld das realistische Ziel setzen kann, meinen Stimmanteil von 15% auf 20% oder 25% zu steigern, oder ob mein realistisches Ziel sein muss, 2—3% oder ein bisschen mehr zu erreichen.
Unmittelbare Hauptursache ist die Tatsache, dass die PDS im »Westen« wegen ihrer geringen Mitgliederzahl (kaum mehr als die Rest-DKP) und ihrer bisherigen bescheidenen Stimmergebnisse schlechterdings nicht flächendeckend präsent sein kann, wie Union und SPD oder (zumindest weitgehend) FDP und Grüne.
Direkte Folge dieser Umstände ist, dass im »Westen« ein umfassender Appell an eine breit gestreute Wählerschaft — wie im »Osten« — weder möglich noch sinnvoll ist. Die Stoßrichtung einer Kampagne, die sich realistischerweise nur auf ein Ziel von 2—3% ausrichten kann, muss sich daher auf bestimmte ausgesuchte, relativ kleine Teilgruppen der Wählerschaft konzentrieren.
Diese Teilgruppen finden sich in jenen Sektoren der Wählerschaft, die von der (seriösen) Wahlforschung und der politischen Soziologie als entschieden »links« identifiziert werden, d. h. als potenziell sozialistisch gestimmt, zumindest als konsequent sozial, arbeitnehmerorientiert oder gewerkschaftsnah. Das sind im »Westen« mindestens 10%.
Dieser Teil der Wählerschaft findet sich (natürlich) unter bisherigen, nun enttäuschten SPD- und Grünen-Anhängern, insbesondere unter aktiven kämpferischen Gewerkschaftern, unter kritischen Intellektuellen und in den Milieus der Globalisierungskritiker, der entschiedenen Kriegsgegner und der Befürworter alternativer Lebens- und Gesellschaftsmodelle. Attac mit dem Slogan »Eine andere Welt ist möglich« repräsentiert einen besonders aktiven, überwiegend jüngeren Teil dieser Strömung.
Im »Osten« gibt es diese Milieus, vor allem ihre im »Westen« vorherrschenden Ausdrucksformen, wie mir scheint, in dieser Form nicht. Die etablierte »Linke« hier — in und neben der PDS — hat einen anderen Charakter. Das gilt insbesondere für die unabhängige »Gewerkschaftslinke«, die weitgehend parteiunabhängige »Friedensbewegung«, die radikale Ökologiebewegung und die intellektuelle gesellschaftskritische Linke im »Westen«.

Misstrauen und Verleumdung

Zwischen dieser — zugegeben nicht einheitlichen und kaum organisierten — »West«-Linken und der etablierten Linken in der PDS und in ihrem Umfeld besteht eine beträchtliche Distanz bis hin zu feindseligem Nicht-Verstehen. Die betonte Orientierung im »Osten« auf klassische »radikale« (im Grunde linkssozialdemokratische und staatsorientierte) Politikmodelle stößt im »Westen« oft auf Misstrauen. Hingegen werden im »Osten« z.T. erhebliche Vorurteile gegen »Dogmatismus« und »Linkssektierertum« im »Westen« gepflegt, wobei die Kenntnis der konkreten Vorstellungen und Diskussionen im »Westen« nicht immer ausreichend ist. Der mit viel Misstrauen, ja manchmal geradezu Hass erfüllte und zuweilen fast paranoide Umgang mit dem sog. »Trotzkismus« ist dafür ein besonders krasses Beispiel und erscheint kritischen Beobachtern als eine Spätfolge stalinistischer Verleumdungen.
Diese Differenzen wurzeln, wie ich meine, vor allem in der unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945 in »West« und »Ost«. Dies gilt insbesondere für das Feld der gewerkschaftlichen Tätigkeit. In der heute im »Osten« — in und im Umfeld der PDS — politisch aktiven Generation gibt es keinerlei eigene Erfahrungen mit einer Gewerkschaftsarbeit in einer voll entwickelten kapitalistischen Gesellschaft mit ausgeprägten Klassenkonflikten. Und zwar unter den Bedingungen einer relativ stabilen »bürgerlichen« parlamentarischen Demokratie. Die kämpferische und kritisch gegen Unternehmer und bürgerliche Klasseninteressen gerichtete Haltung vieler »linker« Gewerkschaftler erscheint im »Osten« als Ausfluss eines ideologischen oder gar sektiererischen »Radikalismus«, der eigentlich überholt sei. In Wirklichkeit ist diese Haltung aber das Ergebnis jahrzehntelanger z.T. sehr bitterer persönlicher Erfahrungen, die diese Kolleginnen und Kollegen gemacht haben und immer noch machen (übrigens auch mit sozialdemokratischer Kompromisspolitik und gewerkschaftlicher sozialpartnerschaftlicher Bürokratie).
Vergleichbare Differenzen gibt es auch zwischen kritischer Intelligenz im »Westen« und im »Osten«. In der alten BRD war die linke Intelligenz zwar zu Zeiten in einer durchaus prekären Minderheitsposition, die auch soziale Diskriminierungen und Belästigungen durch die staatlichen Sicherheitsorgane einschließen konnte. (Was manchmal dazu verführte, die Verhältnisse in der DDR zu verkennen.) Aber diese Position war, wie mir scheint, nicht zu vergleichen mit der Isolierung und Verfolgung intellektueller »Dissidenten« in der alten DDR. Diese hat, wie ich meine, eine z.T. tief greifende und heute noch wirksame Abneigung gegenüber früheren SED-Kadern zur Folge gehabt, wenn nicht gar eine prinzipielle Distanz zur Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung überhaupt.
Gewerkschaftliche Linke und gesellschaftskritische Intelligenz sind aber die wesentlichen Potenziale einer (derzeit freilich eher virtuellen als realen) unabhängigen »West«-Linken neben der SPD und den Grünen. Diese unabhängige Linke müsste die PDS fördern und als gleichberechtigten Partner zu entwickeln und zu gewinnen suchen.
Die Idee der »Westausdehnung« der PDS war bisher insofern nicht mehr als eine Schimäre. Sie wurde und wird als der Versuch verstanden, der (zugegeben unentwickelten, zersplitterten und z.T. sektiererischen verengten) »West«-Linken einfach das PDS-Modell überzustülpen. Daher ist dieser Versuch nicht ohne Grund erfolglos geblieben. Unterschiedliche Erfahrungen und lebensgeschichtliche Prägungen lassen sich nicht einfach wegdiskutieren und wegorganisieren, sie können auch nicht durch Beschluss geändert werden. Erfahrungen muss man machen.

Gleichberechtigte Bündnisse

Aus allen diesen Gründen ist es auch nicht realistisch, zu erwarten, die wechselseitigen Vorbehalte ließen sich mit einer intelligenten und cleveren Wahlkampfführung durch die derzeitige PDS-Führung einfach überspielen. Erreichbar scheint mir hingegen ein Wahlkampfkonzept, das diese Situation ehrlich eingesteht und Zeichen für eine Entwicklung setzt, die die gegenseitige Fremdheit allmählich abzubauen geeignet ist. Auch diese bescheidene Zielsetzung erfordert freilich die Bereitschaft, auf Überlegungen wie diese (oder ähnliche) inhaltlich einzugehen — was nicht heißen soll, sie pauschal zu akzeptieren. Dabei müsste freilich die in allen festgefügten Organisationen mehr oder weniger offen praktizierte alte Bürokraten-Weisheit aufgegeben werden, die da lautet: »Das haben wir ja noch nie so gemacht; das haben wir schon immer so gemacht; da könnte ja jeder kommen!«
Im Folgenden stelle ich einige konkrete Überlegungen zur Diskussion, die solche politischen und organisatorischen Schritte skizzieren, durch die die PDS ihre Kontakte zur »West«-Linken und ihr Image als eine wählbare »linke« Alternative im »Westen« verbessern zu können:
Es wäre sinnvoll, wenn die vorhandenen, mehr oder weniger »linken« Organisationen und Strömungen (Gewerkschaftslinke, Attac, Sozialforumsbewegung, Euromärsche, Friedensgruppen, sog. antikapitalistische Linke usf.) sich aus Anlass der Europawahlen zu einer überparteilichen, unabhängigen Kampagne für ein friedliches, demokratisches, soziales, ökologisches Europa zusammenschließen würden, auf der Basis eines knappen Aktionsprogramms, das einen Minimalkonsens zwischen den Beteiligten ohne ausdrückliche Ausrichtung auf eine der kandidierenden Parteien enthält. Auf den zustande kommenden öffentlichen Veranstaltungen sollten die kandidierenden demokratischen Parteien und ihre Vertreter intensiv über ihre Politik zur Rede gestellt werden. Die PDS- Vertreter würden dort Diskussions- und Darstellungsmöglichkeiten finden, welche die Partei sich aus eigener Kraft im »Westen« nicht zu schaffen vermöchte. Voraussetzung wäre natürlich, dass die PDS sich von Anfang an an einem solchen Bündnis aktiv, loyal und ohne Führungsanspruch beteiligte.
Die PDS müsste hierbei und ganz allgemein nicht nur in verbalen Erklärungen, sondern durch konkrete politische und organisatorische Schritte zu erkennen geben, dass sie den anderen »linken« Strömungen kooperativ und »auf Augenhöhe« begegnet. Sollte sie sich dabei als starke organisatorische Kraft bewähren (was bei Beteiligung von Attac und/oder Teilen der Gewerkschaften gar nicht selbstverständlich sein würde), muss dieser Umstand weder verschleiert noch besonders betont werden.

Peter von Oertzen

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