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Seit dem 11.9.2001 findet eine Israelisierung der US-Politik statt, rhetorisch wie praktisch. Die US-Regierung hat sich der
israelischen Sprachregelung angeschlossen und für sich festgestellt, sie befinde sich in einem existenziellen Krieg. Beide Staaten fördern das Image
absoluter Verletztheit: Israel durch den Holocaust und die USA durch den 11.September. Rhetorisch haben die USA die klaustrophobe Weltsicht der israelischen
Regierung übernommen: es gibt nur noch gut und böse. Beide Völker sehen sich als »von Gott auserwählt« an.
Alle führenden israelischen Politiker behaupteten nach dem 11.9., dass der Terror, den die Amerikaner erlitten hätten, identisch sei mit dem
Terror, den Israel seit seiner Gründung zu erleiden habe; Israels Feinde seien auch Amerikas Feinde. Und die gleiche Sprachregelung wurde von
neokonservativer US-Seite benutzt.
In der praktischen Politik übernehmen die USA die Methoden Israels, indem sie das
Völkerrecht und die UNO verspotten und im Irak ein ähnlich brutales Besatzungsregime errichten wie Israel in den besetzten Gebieten. Das
Völkerrecht, dass die Gleichwertigkeit aller Länder garantiert, wurde seit dem 11.9. weitgehend außer Kraft gesetzt. Der US-Präsident
selbst hat die Richtung vorgegeben: »Wer nicht für uns ist, ist für die Terroristen.«
Seit dieser Zeit hat George W. Bush Ariel Sharon freie Hand gegeben, seine eigene Variante
des Kampfes gegen den Terror anzuwenden. Yasser Arafat mutierte zu Sharons Bin Laden. Das »palästinensische Terrorproblem« sollte
à la Afghanistan gelöst werden.
Der antikoloniale Befreiungskampf der Palästinenser um Selbstbestimmung und Freiheit
wurde seither erfolgreich als »Terrorismus« diffamiert. Amerikaner, die nicht für die offizielle US-Politik sind, werden als
»Verräter«, »Nicht-Amerikaner« oder »Feinde« bezeichnet. Israelis, die die Sharon-Politik kritisieren, werden als
»jüdische Selbsthasser« oder »Antisemiten« diffamiert.
Die amerikanische Besatzungspolitik israelisiert sich zusehends, d.h., die
Unterdrückungsmaßnahmen der USA gegenüber den Irakern sind weitgehend identisch mit den israelischen.
In zahlreichen Fällen haben die USA Gebäude zerstört, aus denen heraus sie
angegriffen worden sind. Sie haben begonnen, Verwandte von mutmaßlichen Terroristen einzusperren, um die potenziellen Täter zur Aufgabe zu
zwingen. Neuerdings werden ausgewählte Städte durch Stacheldrahtverhaue eingeschlossen. Nur die Iraker können die Orte verlassen, die im
Besitz einer englischen Magnetkarte sind. Sie müssen sie hintereinander aufstellen und einen Kontrollposten passieren. »Ich kann keinen
Unterschied zwischen uns und den Palästinensern sehen. Wir konnten uns so etwas nicht vorstellen, als Saddam gestützt wurde«, zitiert ein
Zeitungsbericht einen Iraker.
Die Amerikaner sagen zwar, sie würden die israelische Taktik nicht nachahmen, betonen
jedoch, dass sie sie intensiv studiert haben, insbesondere den Guerillakampf in den Städten. Brigadegeneral Michael Vane bestätigte, dass US-
Offiziere kürzlich in Israel waren, um sich über die neusten israelischen Erfahrungen bei der Unterdrückung des palästinensischen
Aufstands zu unterrichten.
Die Amerikaner setzten auf diese neue Unterdrückungsstrategie. Auch die
Bevölkerung müsse spüren, dass sie einen Preis zahlen müsse, wenn sie nicht kooperiert. Die einzige Sprache, die die Araber verstehen,
sei die der Gewalt, erklärt Captain Todd Brown. Das Gleiche behaupten die Israelis auch von den Palästinensern. Dies ist der erste Schritt zur
Dehumanisierung dieser Menschen. Die harten Gegenmaßnahmen scheinen einen oberflächlichen Erfolg anzuzeigen, wie der Oberkommandiere im
Irak, General Sanchez behauptet. Die täglichen Angriffe seien von 40 auf 20 zurückgegangen. Wie es scheint, haben die Amerikaner mit der
gleichen brutalen Strategie Erfolg wie Israel. Auch die Israelis behaupten, dass ihre brutale Vorgehensweise erfolgreich sei gegen Selbstmordattentäter. Ob
die Verhaftung Saddam Husseins etwas am Widerstand der Iraker ändert wird, bleibt abzuwarten.
Seit der Vorstellung des sog. »Genfer Erklärung« durch Yossi Beilin und Yasser Abed Rabbo haben in Israel Friedenspläne
Hochkonjunktur. Zahlreiche Politiker wie der stellvertretende Ministerpräsident Ehud Olmert, die Äußerungen der ehemaligen vier
Geheimdienstchefs, die Ayalon-Nusseibeh-Stellungnahme und sogar die Siedlerbewegung veröffentlichten ihre Vorstellungen.
In der »Genfer Erklärung« haben erstmalig »Vertreter« beider
Seiten in der Tat die weitreichendsten Konzessionen gemacht. Ob sie jemals umgesetzt werden, bleibt allerdings abzuwarten. Die Vorteile der Erklärung
liegen sowohl im sachlichen als auch persönlichen Bereich. Der größte Erfolg in den Augen Israels ist, dass das palästinensische
Verhandlungsteam eine »Lösung« des Flüchtlingsproblems akzeptiert hat, in der vom Rückkehrrecht keine Rede mehr ist. Israel
kann eigenmächtig entscheiden, wieviel Flüchtlinge es akzeptieren will. Darin kommt Israels Ablehnung zum Ausdruck, an dem
Flüchtlingsproblem beteiligt gewesen zu sein. Auch die finanzielle Kompensation wird fast ganz auf die internationale Staatengemeinschaft
abgewälzt.
Neben dem Verzicht auf das Rückkehrrecht dürfte v.a. Beilin den
größten Nutzen haben. Er wird dieses »Abkommen« als Wahlkampfplattform für seine neugegründete »linke«
Arbeitspartei instrumentalisieren. Die Initiatoren wollten den Fehler von Oslo nicht wiederholen, in dem sie die schwierigen Fragen wie Siedlungen, Jerusalem,
Grenzen und Rückkehrrecht der Flüchtlinge ausklammern. Die Vereinbarung widerlegt dabei diejenigen innerhalb der politischen Klasse Israels, die
behaupten, dass es auf palästinensischer Seite keinen Partner gebe, wie von Barak und Sharon immer wieder behauptet worden ist. Erstmalig wurde das
Recht des jüdischen Volkes auf Staatlichkeit mittels jüdischer Mehrheit und der Kontrolle über das Land endgültig anerkannt. Dies
bedeutet, dass Israel für immer das historische Palästina für alle Juden auf der Welt offen halten kann, wohingegen den
palästinensischen Flüchtlingen ihr Rückkehrrecht in ihre angestammte Heimat verweigert würde.
Die »Genfer Initiative« sieht mit Einschränkungen die Schaffung eines
souveränen Staates Palästina vor. Alle israelischen Siedler, die nach der Grenzanpassung sich im palästinensischen Staat befinden, sollen
nach Israel umgesiedelt werden. Alle Siedlungen in Gaza sollen verschwinden, aber auch große Siedlungen wie Ariel, Har Homa und Efrat in der
Westbank. Jerusalem wird die Hauptstadt beider Staaten. Israel behält die Souveränität in den Stadtvierteln, in denen überwiegend
Juden wohnen, die Palästinenser in den arabischen Stadtvierteln. Der Haram al Sharif (Tempelberg) bleibt unter palästinensischer
Souveränität. Auch bleiben die jüdischen Siedlungen in Ost-Jerusalem und der Siedlerring um die Stadt als Teil des israelischen Jerusalem
und unter israelischer Oberhoheit. Auf dem Tempelberg soll es eine multinationale Präsenz geben, während das Plateau unter
palästinensischer Souveränität stehen soll. Die Klagemauer, das jüdische Viertel, die Zitadelle, der jüdische Friedhof auf dem
Ölberg und der Tunnel unter der Westmauer bleiben israelisch. Das christliche, muslimische und armenische Viertel kommen unter palästinensische
Aufsicht. Die Westbank und der Gazastreifen werden durch einen Korridor verbunden. Israel behält über diesen die Souveränität, die
Palästinenser dürfen ihn verwalten und die Polizeikontrolle ausüben.
Das größte Handikap dieser Vereinbarung dürfte sein, dass im Haupttext 52
mal auf einen »Anhang X« verwiesen wird. Alle wichtigen Ausführungsbestimmungen zu den wohlfeil klingenden Artikeln befinden sich in
diesem noch nicht bekannten Anhang, wie z.B. das Recht Israels zur Benutzung der Umgehungsstraßen, die nur für Juden bestimmt sind. Wie schon
beim »Interimsabkommen« vom 28.9.1995, in dem in den zahlreichen Anhängen alle die Konzessionen, die im Vertragstext gemacht worden
sind, relativiert oder zurückgenommen worden sind, muss auch hier die Skepsis überwiegen. So wurde ausführlich über die Vergabe
von Taxilizenzen geschrieben, wohingegen im Artikel zu Wasser lapidar festgestellt wird: »noch zu vervollständigen«. Wären die
Unterhändler wirklich an einem »gerechten Frieden« interessiert gewesen, hätte man zur Wasserverteilung schreiben können:
»Der Zugang zu den Wasserressourcen von Israel und Palästina wird entsprechend der Bevölkerungsanzahl verteilt.« Dies wäre
der einzig gerechte Weg gewesen.
Zu Euphorie, wie sie in Europa von Kommentatoren und Experten geäußert
worden sind, besteht also kein Anlass. Die Unterzeichner der »Genfer Erklärung« behaupten, dass dies die einzige Alternative zum brutalen
Weg Sharons sei und geben vor, dass das palästinensische Volk diesem Weg zugestimmt hätte. Wenn jedoch einmal ein solches Abkommen
unterzeichnet ist, das auf das Rückkehrrecht verzichtet und die Siedlungen akzeptiert, wird es für jede palästinensische
Verhandlungsdelegation sehr schwer, hinter diese Position zurückzufallen. Israel kann jederzeit ein neues Minimum festsetzen. Dramatisiert wird die
Sache noch dadurch, dass die palästinensische Führung dieses Abkommen insgeheim gebilligt, wohingegen die israelische Regierung es verworfen
hat.
Die Lösung des Konflikts verlangt keine Wiederaufbereitung fehlgeschlagener
Abkommen wie Oslo, Camp David oder Taba. Die UNO-Resolutionen und das Völkerrecht reichen dazu aus. Sie sind das Rezept für einen
gerechten Ausgleich, Sicherheit, territoriale Integrität und Achtung der Menschenrechte. Jene Israelis, die sich nach Frieden sehnen, müssen
verstehen, dass Frieden und Versöhnung nicht realisiert werden können, solange die Israelis nicht mit ihrer nationalen Verantwortung für die
palästinensische Tragödie ins Reine kommen.
Ludwig Watzal