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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2004, Seite 17

Die Bedeutung des Kommunalen

Hilary Wainwright über die Logik linker Kommunalpolitik

Die Erfolge von Cancun zeigen, dass die Bewegung für globale soziale Gerechtigkeit mit zunehmender Wirksamkeit die Aushöhlung der Demokratie durch die globalisierten Konzerne blockiert. Aber gleichzeitig wird uns auf der lokalen Ebene die Demokratie durch Privatisierung, Schwächung der Kommunalverwaltungen und der Zerstörung sozialer Rechte unmerklich unter unseren Füßen weggezogen. Letztendlich liegt der Grund dafür bei der Globalisierung der Konzerne, aber Aktionen auf der globalen Ebene reichen nicht aus. Wenn wir unsere lokale Organisierung nicht ausweiten und intensivieren und unsere lokalen Strategien nicht weiterentwickeln, wird unsere Basis, aufgrund derer wir global wirksam sein können, zerstört werden.
Es ist die lokale Ebene, auf der die Errungenschaften der traditionellen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung — kostenlose Schulbildung, Gesundheitsversorgung und Wohnungsbau — die größte Bedeutung für das Leben der Menschen der Arbeiterklasse hatten. Wie begrenzt auch immer die Kontrolle der Menschen über diese Einrichtungen waren, sie boten effektiven Schutz vor der Willkür des Marktes. Die Aushöhlung ihrer Stabilität und (wie formal auch immer) der demokratischen Teilhabe an diesen Dienstleistungen macht die Menschen ohnmächtig und unsicher und hilflos gegen die Demagogie der extremen Rechten und des reaktionären Fundamentalismus.
Der Abbau demokratischer Kontrolle findet in verschiedenen Verkleidungen statt: Partnerschaften, in denen der private Partner den Mehrheitsanteil hat; private finanzielle Arrangements, die dazu führen, dass die private Gesellschaft die operative Kontrolle erhält; Abschließen von Unterverträgen, die die demokratische Kontrolle eines Vertrags reduzieren. Das Mittel, Kommunalverwaltungen in diese Arrangements hinein zu zwingen, ist die Blockierung oder Austrocknung des kommunalen Geldhahns.

Warum greift die Privatisierungslogik?

Die Verschleierung solcher Maßnahmen durch »Gemeinschafts«-Rhetorik funktioniert aus drei Gründen. Der erste Grund betrifft die historische Schwäche der demokratischen Kontrolle öffentlicher Dienstleistungen. Die sozialdemokratischen Parteien, die diese Dienstleistungen einrichteten, dehnten lediglich die existierende staatliche Verwaltung auf neue Bereiche aus, anstatt die Staatsorganisation im Sinne der neuen Aufgaben zu verändern. Man verblieb im Rahmen der repräsentativen Demokratie.
Die Bürgerinnen und Bürger konnten sich zwar über gewählte Ratsmitglieder beschweren und neue wählen, wenn sie mit der kommunalen Verwaltung unzufrieden waren. Aber im Alltagsgeschäft funktionierten die öffentlichen Dienste ausgesprochen hierarchisch. Viele Verwaltungsmethoden waren von der Armee übernommen. Die Beamten — über den Menschen positioniert — waren oft (nicht immer) überheblich gegenüber den Leuten, für die sie eigentlich arbeiten sollten. Sie waren die Experten und die Leute konnten sich lediglich beklagen. Die tägliche Erfahrung mit dem öffentlichen Dienst war sehr entfremdend.
Die Wahrnehmung demokratischer Kontrolle über den öffentlichen Dienst spielte im Alltagsleben keine große Rolle. So hatten die meisten Menschen nicht das Gefühl, dass ihnen der öffentliche Dienst gehört. Und so hatten sie auch nicht das Gefühl, dass ihnen etwas weggenommen wird, wenn etwas durch den Markt geliefert wird, was bisher der öffentliche Dienst lieferte.
Ein zweiter Faktor ist die Schwächung der Kultur der öffentlichen Werte, der Idee einer demokratischen statt einer Marktkontrolle, der gesamten Idee, dass der öffentliche Dienst nach völlig anderen Prinzipien funktioniert als der private Markt. Nachdem der öffentliche Dienst der ersten Nachkriegsgeneration eine echte Verbesserung der Lebensqualität brachte, hielt man ihn seitdem für selbstverständlich.
Die sozialdemokratischen Parteien haben es versäumt, Generationen von Menschen im Geiste der Errungenschaften öffentlicher Dienstleistungen zu erziehen. Sie behandelten den öffentlichen Dienst in einer ethisch neutralen, geschäftsmäßigen Art und Weise. Die Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist das durch eine starke gemeinwohlorientierte Ethik geprägte Gesundheitswesen. Nicht überraschend war und ist dieser Sektor am schwersten zu privatisieren.
Vergleichen wir das damit, wie mehrere Generationen von Schulkindern in den USA täglich an die Werte der US-Verfassung erinnert werden — ohne dass ich diese Verfassung an sich loben möchte. Man stelle sich vor, es gäbe in den Schulen der europäischen Länder täglich eine Erinnerung an die Ethik des Wohlfahrtsstaats und die Prinzipien sozialer Rechte.
Dieses mangelnde Bewusstsein über die Prinzipien der Solidarität und sozialer Gerechtigkeit machte es bspw. für Margret Thatcher relativ einfach, den öffentlichen Sektor zu kommerzialisieren, so dass er zunehmend wie ein privates Geschäft betrieben wurde. Nach und nach ersetzten die Werte kommerzieller Rentabilität die Werte, soziale Bedürfnisse durch Umverteilung zu befriedigen. Als dann die Idee einer Privatwirtschaft aufkam, war das kein Schock mehr.
Der dritte Faktor ist das tatsächliche Empfinden von Machtlosigkeit und der Mangel an Vertrauen, die vermutlich von der Zerstörung der traditionellen industriellen und politischen Arbeiterbewegung als Zentren kollektiver Stärke herrühren. Das hat die Stärke der kommunalen Verwaltungen in Großbritannien unterminiert, so dass sie zunehmend zu Bittstellern, einer Art Bettlern bei den nationalen Regierungen wurden. Wenn also die Regierung sagt: »Du kannst auf dem Markt leihen oder nicht, du musst privates Geld aufnehmen«, dann sagt die Kommunalverwaltung: »Na gut, wenn du meinst.« Es gibt zu wenig Selbstvertrauen, um »Nein, wir haben ein Recht auf öffentliche Mittel« zu sagen, obwohl es Anzeichen gibt, dass sich dies ändert.

Strategien zur Überwindung der Ohnmacht

Ich komme nun zu drei Gedanken, wie wir das überwinden können. Erstens: Welche Art von Strategien und Organisationsformen kann die demokratische Kontrolle des öffentlichen Dienstes zu einem lebendigen Erlebnis machen, das eine Verpflichtung auf das Allgemeinwohl erneuert und das Selbstvertrauen wiederherstellt, um unter veränderten Umständen das Recht auf öffentliche Unterstützung für soziale Bedürfnisse einzufordern?
Die wichtige Lehre, die wir aus jüngst erfolgreichen Versuchen ziehen, den öffentlichen Dienst zu verteidigen — ob in Cochabamba (Bolivien) oder Newcastle (England) — ist die Bedeutung, Alternativen zu entwickeln und dies mit aller Energie und unter breiter Beteiligung des Widerstands der Bevölkerung zu tun. Wenn Regierungen und Konzerne so versessen auf Privatisierung sind, wird der Widerstand erst dann wirklich erfolgreich sein, wenn er eine alternative Position entwickelt, etwa in der Art wie »ein anderer öffentlicher Dienst ist möglich«.
Solch eine Herangehensweise beinhaltet die Idee von Gewerkschaften, Basisgruppen und Mieterinitiativen, die das Recht in Anspruch nehmen, die Verantwortung für den öffentlichen Dienst zu übernehmen, um ihn zu einem genuinen öffentlichen Dienst der gesamten Bevölkerung zu machen.
Es ist in diesem Zusammenhang eine gute Lehre der brasilianischen Landlosenbewegung, dass sie nicht nur dem ländlichen Privateigentum Widerstand entgegensetzte, sondern Land besetzte und es nach ihren eigenen Prinzipien einer kooperativen Form von Landwirtschaft bearbeitete. Die Lehre, die öffentlicher Dienst, Gewerkschaften und die Benutzer des öffentlichen Dienstes daraus ziehen können, ist, öffentlichen Raum zu besetzen und zu zeigen, wie sie den öffentlichen Dienst und die öffentlichen Ressourcen demokratisch und im Interesse der Bevölkerung verwalten.
Auf diese Art und Weise geben sie im Alltag und im Kampf zur Verteidigung des öffentlichen Dienstes Beispiele für eine partizipative Demokratie, die die repräsentative Demokratie stärkt. Das macht die Bevölkerung fähig, den betrügerischen Schleier zu durchschauen, der oft mit Begriffen wie »kommunale Beteiligung« verbunden ist, sie entweder abzulehnen oder über die intendierten Grenzen hinaus zu treiben, um zum Ansporn einer genuinen Demokratie zu werden.
Eine weitere Lehre lokalen Erfolgs ist die Bedeutung des Bruchs mit der Manager- und Expertenattitüde vermeintlich exklusiven Wissens und die Anerkennung anderer Wissensformen zur Entwicklung von Alternativen, vor allem des praktischen Wissens der Arbeiter vor Ort, der Angestellten des öffentlichen Dienstes und seiner Benutzer. Das erfordert ein neues Verhältnis zwischen akademischen Forschern und Kampagnenorganisationen, bei dem der Forscher gleichsam ein öffentlicher Dienstleister, eine Stütze der zivilgesellschaftlichen Kämpfe ist.
Die Bedeutung von praktischem Wissen anzuerkennen, führt logischerweise zur Anerkennung, dass solcherart (niemals passives) Wissen zu allen möglichen praktischen Initiativen führen wird, um alltägliche Probleme zu lösen. Damit sind alle Initiativen unterhalb des politischen »Radars« — des linken wie des der Mainstreampolitik — gemeint, mit denen die Aktivisten für soziale Gerechtigkeit Verbindung halten müssen, um sich nachhaltig in der Bevölkerung zu verankern. Hier kann viel von der Frauenbewegung gelernt werden. Zu ihren erfolgreichsten Zeiten verließ diese Bewegung ihre klassischen Wege, um nach den »vorpolitischen« Arten von Frauenrebellion zu suchen.
Schließlich gibt es noch die Bedeutung von Bündnissen. Ich meine nicht Bündnisse der alten Art, instrumentell und kurzlebig, üblicherweise zwischen politischen Parteien. Ich meine Bündnisse hauptsächlich zwischen verschiedenen Bewegungen, die ihre Selbstständigkeit bewahren müssen, die aber wichtige gemeinsame Interessen haben, z.B. zwischen den Angestellten des öffentlichen Dienstes und seinen Benutzern, zwischen den Gewerkschaften und verschiedenen sozialen Bewegungen.
Das bedeutet, dass die Bewegungen über ihren Tellerrand blicken müssen. Früher konnten die Gewerkschaften Fragen öffentlicher Einrichtungen ihren Schwesterparteien überlassen. Jetzt, wo diese Parteien zu einem Teil des Problems geworden sind, müssen neue Arten von politischen Agenturen entwickelt werden, die sich auf die stützen, die ein gemeinsames Interesse an einem demokratisch kontrollierten öffentlichen Dienst haben. Und das meint Bündnisse zwischen Organisationen oder sogar informellen Netzwerken mit sehr unterschiedlichen Traditionen und Kulturen. Genuine Bündnisse sind schwierige Prozesse, die Veränderungen auf beiden Seiten auch bei solchen Fragen erfordern, die man für sich geklärt zu haben glaubte.
Internationale Bündnisse zwischen Bewegungen sind ebenfalls sehr wichtig. Internationale Bündnisse zwischen jeweils lokal kämpfenden Bewegungen können ein immenser Ansporn sein, weil die Leute dadurch merken, dass sie nicht allein sind und dass ihre Probleme von anderen geteilt werden. Außerdem können wir wegen der Ungleichzeitigkeit sowohl des Kapitalismus als auch unserer Kämpfe einen praktischen Sinn für mögliche Alternativen entwickeln.
Wenn man direkt von Parisern und Berlinern hört, dass sich die Kommunalverwaltungen frei Geld leihen können, dann zerstört das die »Es-gibt-keine-Alternative«-Argumentation. Oder wenn man direkt von der Basisbeteiligung an Haushaltsentscheidungen in Lateinamerika hört, sind sowohl die Rückschläge als auch die Erfolge von großem Wert für die Entwicklung von Alternativen in Europa. Und auch der Austausch von Informationen über multinationale Wasser-, Müll-, Gesundheits- und Bildungskonzerne, die Europa auf der Suche nach lukrativen Verträgen durchforsten, ist mittlerweile eine wichtiger Teil jeder lokalen Strategie.

Hilary Wainwright

Hilary Wainwright ist Herausgeberin der britischen Monatszeitschrift Red Pepper. Bei diesem Beitrag handelt es sich um die von der Redaktion gekürzte Fassung einer Rede, die Wainwright auf dem zweiten Europäischen Sozialforum Mitte November 2003 in Paris gehalten hat (Übersetzung: Andreas Bodden).



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