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KKonkrete Utopien, vermischt mit klammheimlichen, aber auch offen revolutionären Projektionen, bekamen in den
Monaten und Jahren nach dem 1.Januar 1994 durch den Aufschrei »ˇYa basta!« der mexikanischen Zapatistas aus Chiapas einen neuen
Hoffnungsschub und wurden verbunden mit der Auseinandersetzung um eine »alte und traditionelle« Schubladen sprengenden Guerillaorganisation,
die nicht die Macht ergreifen wollte.
Hunderte von Artikeln, Berichten, Porträts, Analysen und theoretischen Reflexionen
spiegelten in den vergangenen zehn Jahren den Versuch wieder, uns auf vielfältige Weise mit dieser »ersten Revolution des 21.Jahrhunderts«
auseinanderzusetzen: kritisch, solidarisch, euphorisch, manchmal unsere Hoffnungen und Träume projizierend, abwartend, analysierend, das Neue
verstehen wollend, alte Fragen neu diskutierend, aber auch uns zurückziehend.
Zwei weitere Bücher, deren Titel und Titelseiten bereits die unterschiedlichen
Blickweisen auf Mexiko und Chiapas widerspiegeln, sind im September 2002 bzw. im April 2003 in der BRD veröffentlicht worden. FOXtrott in Mexiko
von Dieter Boris und Albert Sterr und wenige Monate später La lucha sigue! von Luz Kerkeling.
Während für die FOXtrott-Autoren die Fragen, die »das definitive Ende
eines über 70 Jahre andauernden autoritären Regimes« aufwarf, Gegenstand der Auseinandersetzung sind, vor allem die, »ob eine
neoliberale wirtschafts- und gesellschaftspolitische Orientierung mit einer demokratischen Institutionalisierung im Sinne des Ausbaus rechtsstaatlicher Elemente,
sozialen Ausgleichs und besserer Partizipationsmöglichkeiten im Kontext vorhandener Machtstrukturen einhergehen kann«, steht
für Luz Kerkeling die EZLN und ihr soziales Umfeld im Mittelpunkt. »Es ist«, so Kerkeling, »Anliegen des Buches heraus zu arbeiten,
dass die EZLN und ihr soziales Umfeld nach dem Ende der Blockkonfrontation zwischen NATO und Warschauer Pakt zu einer neuartigen Bewegung und einer
der bedeutendsten Gruppierungen der undogmatischen Linken weltweit gewachsen ist.«
Auch Boris und Sterr unterstreichen die Bedeutung des zapatistischen Aufstands, der
innenpolitisch die Rechte der Jahrhunderte lang ausgegrenzten Indígenas auf die Tagesordnung setzte und zudem als Katalysator für die
Demokratisierung des autoritären politischen Systems fungierte, und nach außen als »neuer Pol der Hoffnung, in einer Phase, als sich der
neoliberalen Globalisierung kein ernsthafter Widerstand mehr entgegenzusetzen schien«. Doch bei aller Sympathie hinterfragen sie wesentlich kritischer
als andere Teile der Internationalismusbewegung, die sich mit Chiapas und Mexiko auseinandersetzen, die Politik und Konzepte der Zapatistas, benennen und
kritisieren deren Widersprüche.
In dem Unterkapitel »Zapatismus: Metamorphosen einer revolutionär-
demokratischen Rebellion« stellen sie ihre These zur Diskussion, dass die gesamtgesellschaftliche Konzeption der Zapatistas gescheitert sei. Sie
führen aus, warum ihrer Ansicht nach die Reorientierung auf den Kampf um Autonomierechte in zweierlei Hinsicht »heikel« ist:
»Erstens kann eine Bewegung, die sich programmatisch auf lediglich 10 bis 15% der Gesamtbevölkerung bezieht, die Indígenas, und nicht
einmal die mindestens 30 Millionen weiteren Marginalisierten im Blickfeld hat, kaum Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Geltung erheben … Und
zweitens ermöglicht dieser Ansatz allen nichtindianischen Menschen, die außerhalb von Chiapas leben, im Prinzip nur noch eine Form der
Parteinahme … die Solidarität. Hierin ist einer der wesentlichen Gründe zu sehen, warum die zivilen Organisationsansätze der EZLN
außerhalb von Chiapas scheitern mussten.«
Leider geht Kerkeling wenig souverän mit diesen für einen Teil der Chiapas-
Solidaritätsbewegung äußerst provokativen Einschätzungen um. In zwei Fußnotentexten geht er auf Boris und Sterr ein: leider
nicht argumentativ, sondern mit Schlagworten und dem Pauschalurteil »Generell fällt bei der Lektüre des EZLN-Kapitels eine Orientierung
an Realpolitik, Parteiendemokratie und politische Institutionen auf, die Offenheit für libertär-autonome Tendenzen vermissen lässt.« So
einfach ist das also!
Im Gegensatz zu Boris und Sterr, die den Wandel des politischen Systems in Mexiko und das
Agieren emanzipatorischer sozialer Bewegungen im Kontext der sozialen und ökonomischen Umstrukturierungsprozesse des Landes analysieren (und das
bereits seit vielen Jahren), bleibt Kerkelings Buch auf der beschreibenden, leider zu oft idealisierenden bzw. schlichtweg postulierenden Ebene stehen. Oder wie
sollen die folgenden, exemplarisch, gewählten Einschätzungen sonst interpretiert werden, die beide aus dem Reflexionsteil des Buches genommen
wurden?
»Die zapatistische Bewegung sieht sich demnach als eine Organisation sozialer
Rebellinnen und Rebellen, die in permanenter Revolte durch Diskussionen, Mobilisierungen und Aktionen in gesellschaftliche Prozesse eingreifen, soziale
Selbstorganisation fördern und die herrschenden Kräfte des Staates und der Wirtschaft zwingen will, zugunsten der Bedürfnisse der
verschiedenen Bevölkerungsteile zu agieren.« Und: »Die von den Zapatistas angestrebte offene und prozesshafte plebiszitäre Politik,
die sowohl etatistische als auch libertäre Elemente enthält und tendenziell auch immer als antirassistisch, antikapitalistisch und antisexistisch
verstanden werden will, kann gemäß ihres Selbstverständnisses nicht festgelegt sein und entzieht sich völlig den Schemata des
bürgerlich-kapitalistischen Parlamentarismus, denen der realsozialistischen Parteiregime und ebenso denen des sozialdemokratischen ›Dritten
Weges‹. Der ›Zapatismus‹ ist eine Bemühung, die darauf abzielt, das Politische in den sozialen Raum
zurückzuholen.« Schade, dass Kerkeling zu oft glaubt, durch komplizierte Satzkonstruktionen, Worthülsen und sich mehrfach relativierende
Aussagen klare Analysen umgehen zu können.
Beide Bücher, so unterschiedlich sie auch sind, so differenziert, bzw. simplifizierend sie
gesellschaftliche Prozesse wahrnehmen und untersuchen, spiegeln die unterschiedlichen »Zugänge« der bundesrepublikanischen Mexiko-
bzw. Chiapas-Fans wider. Gemeinsame, ernsthaft auf einander eingehende Debatten gibt es kaum. Vielleicht kann die kritische Lektüre beider
Bücher dazu beitragen, diese Lücke zu schließen.
Jutta Klass
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