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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2004, Seite 3

Zutritt nur für Reiche

Rotterdam schließt die Stadttore für Ausländer und Arme

Der im Mai 2001 ermordete Rechtspopulist Pim Fortuyn war nirgendwo so populär wie in seinem Wohnort Rotterdam. Er eröffnete nicht nur das Feuer auf das politische Establishment. Er verstand auch, einige reale Probleme in den Arbeitervierteln für seinen rechten Angriff auf Flüchtlinge, Migranten und Muslime auszunutzen. Zwei Jahre später hat seine Bewegung in Rotterdam immer noch große Bedeutung. Die von ihm gegründete Liste Leefbaar Rotterdam ist bei weitem die größte Partei. Die »neue Politik« der Fortuyn- Anhänger drückt sich in Rotterdam in einem brutalen Angriff gegen das Zusammenleben vieler Kulturen, gegen Menschen ohne Papiere und andere an den Rand gedrängte Personen sowie gegen die Armen der Stadt aus.

Der Aufstieg Pim Fortuyns und sein dramatischer Tod bilden zentrale Elemente in einer politischen Szenerie, die beinahe zwei Jahre nach dem Mord noch nicht richtig verarbeitet ist. An Fortuyns Wohnort sind die Folgen seiner »politischen Revolution«, von der manche sprechen, am deutlichsten zu spüren. In Rotterdam herrscht die »neue Politik« — so lautet eine Metapher für den extrem rechten Wind, der seit zwei Jahren durch die Stadt weht.
Mehr als ein Drittel der Rotterdamer wählten Leefbar Rotterdam. Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt wurde ein vollkommen rechter Magistrat aus Leefbar Rotterdam, den Christdemokraten und den Liberalen möglich.

Die »linke Kirche«

Die dominierende Rolle der Rotterdamer Sozialdemokratie spielt dabei eine zentrale Rolle. In Rotterdam war die sozialdemokratische Partij van de Arbeid jahrzentelang sehr mächtig. Fortuyn hasste die Sozialdemokraten und war nicht der einzige. Der Angriff gegen die von ihm so genannte linke Kirche, die »heiligen Kühe« der Linken, war ein bedeutender Teil seiner politischen Auffassungen. Vor allem in Bezug auf das multikulturelle Zusammenleben und die Bürokratie im öffentlichen Dienst sprach er damit die Menschen an.
Der bestehende Unfrieden wurde der »linken Kirche« zum Vorwurf gemacht. Die Sozialdemokratie war nicht in der Lage, ein glaubwürdiges progressives Programm zu verteidigen. Ehe sie sich‘s versah, wurde sie zur Urheberin der wichtigsten gesellschaftlichen Probleme abgestempelt. Angeblich weigerte sie sich, nicht angepasste Migranten und Muslime anzupacken, Kriminelle zu bestrafen und traditionelle Normen und Werte zu verteidigen.
Das ist das Resultat eines langen Prozesses der Entwurzelung der Sozialdemokratie in der Stadt. Rotterdam war lange Zeit eine wohlhabende Arbeiterstadt mit großer Anziehungskraft auf die Arbeitenden des Umlands. Die Stadt war Basis für eine große, mit dem Hafen verbundene Industrie. Nach dem Krieg wurde sie schnell wieder aufgebaut, und das Wachstum setzte ein. Den Sozialdemokraten ging es gut. Sie hatten zeitweilig die absolute Mehrheit im Gemeinderat.
Ende der 70er Jahre änderte sich das. Die ökonomische Umstrukturierung beförderte eine Entwicklung von der arbeitsintensiven, mit Hafen und Transport verbundenen Industrie zur Dienstleistungsökonomie.

Verarmung schafft Ghettos

Diese Entwicklung riss ein großes Loch. Viele Menschen, vor allem viele ausländische Arbeiter, aber auch viele autochthone Niederländer, verloren ihren Job. Rotterdam wurde zu einer Stadt mit einer großen Unterschicht. Die mittleren Gruppen, die besser bezahlten Lohnabhängigen, begannen, die alten Stadtteile zu verlassen, um in Vororten oder Randgemeinden zu wohnen. Die alten Viertel wurden zunehmend von Menschen mit niedrigem Einkommen und wenig Perspektiven bewohnt. Viele von ihnen waren Migranten und die Kinder von Migranten.
Die alten Viertel waren die Einzigen mit billigen Mietwohnungen, sie waren deshalb attraktiv für noch mehr Menschen mit niedrigem Einkommen und geringen Aussichten. Die Erwerbslosigkeit nahm ständig zu. In den Vierteln konzentrierten sich immer mehr Menschen nicht niederländischer Herkunft. Autochthone Niederländer zogen weg oder schickten ihre Kinder in die Schulen anderer Stadtteile.
Trotz der mächtigen sozialdemokratischen Stadtverwaltung wurde wenig gegen den Verfall der alten Stadtviertel unternommen. Im Gegenteil, die neoliberale Agenda diktierte eine Politik des Sozialabbaus: Nachbarschaftshilfe und Jugendarbeit wurden nach und nach eingespart.
Bei dieser Entwicklung verlor die Sozialdemokratie langsam ihre Kraft. Seit den 80er Jahren musste sie bei jeder Wahl Stimmenverluste hinnehmen. Aber erst mit dem Auftauchen Fortuyns und seiner Partei kam der große Schlag. Ein großer Teil der sozialdemokratischen Wählerschaft lief über zu Leefbaar Rotterdam.
Die Unzufriedenheit über die Zunahme der Migranten in den alten Stadtvierteln, das Gefühl nachlassender und die Unzufriedenheit mit dem offiziellen Diskurs des multikulturellen Zusammenlebens hatte lange Zeit nur in faschistoiden Klubs und zuweilen durch einige rechte Liberale Ausdruck gefunden. Dann trat der politische Dandy Pim Fortuyn auf den Plan. Fortuyn gehörte nicht zur »alten Politik«. Er konnte die Stimmung — eine krude Mischung aus Rassismus, Xenophobie und Unverständnis für kulturelle Unterschiede — aufgreifen und ihr den Anstrich bürgerlichen Anstands geben. Die größtenteils berechtigte Unzufriedenheit über den Zustand des öffentlichen Dienstes, die zunehmende Verarmung, die Verschlechterung der Zustände in den alten Arbeitervierteln durch 20 Jahre neoliberale Verwaltung und ein zunehmendes Gefühl der Unsicherheit schufen die Grundlage für den Aufstieg Pim Fortuyns.

Nur für wohlhabende Niederländer

Nach dem Mord an Fortuyn setzte die Rotterdamer Stadtverwaltung seine Politik fort. Die Repression wurde verstärkt. Es wurde nun möglich, an einer Reihe von Orten »präventive« Durchsuchungen durchzuführen. Einige Stadtviertel wurden quasi zur »No-go- area« erklärt, was ein härteres und häufigeres Einschreiten ermöglichte. Rotterdam erhielt einen Sicherheitssenator.
Im Dezember letzten Jahres präsentierte die Stadtverwaltung ein neues Programm. Es ist ein Monstrum der schlimmsten Sorte, das große Aufregung hervorrief. Dieses Programm richtet sich gegen Menschen nichtniederländischer Herkunft und gegen Unterprivilegierte. Seine Vorstellungen sind, ganz im Gestus von Pim Fortuyn, provozierend.
Wer nach Rotterdam ziehen will, muss 120% des Mindestlohns verdienen. Andere Gesetze, wie das Unterbringungsgesetz, müssen dem angepasst werden. Asylsuchende mit Aufenthaltserlaubnis dürfen erst nach vollzogener Einbürgerung in der Stadt wohnen. In den kommenden vier Jahren will Rotterdam von der Unterbringung solcher Asylsuchenden freigestellt werden. Das Programm stellt auch eine Reihe von Forderungen an die nationalen Behörden: Bestimmungen und Gesetze sollen verschärft werden, um den Zuzug von Unterprivilegierten in die Stadt zu stoppen; Menschen ohne Papiere sollen kriminalisiert werden (ihre Unterstützung ebenfalls). Wer einen ausländischen Partner heiraten will, muss über eine entsprechende Unterkunft verfügen, vorzeitige Schulabbrecher sollen bis zum 23.Lebensjahr einer Ausbildungs- bzw. Arbeitspflicht unterworfen werden. Außerdem will die Stadt Wohnungssuchenden mit einem höheren Einkommen bei der Zuweisung in Problemviertel den Vorzug geben. Auf dem Gebiet der Sicherheit will Rotterdam eine allgemeinen Ausweispflicht einführen.
Die Stadtverwaltung argumentiert: Rotterdam beherbergt zu viele Unterprivilegierte. Das macht die alten Viertel zu Orten, in denen sich zu viele Probleme konzentrieren. Um das Problem zu lösen, muss man dafür sorgen, dass die Unterprivilegierten verschwinden.

Kehrseite des Liberalismus

Über 20 Jahre Neoliberalismus haben einen politischen Diskurs hervorgebracht, der nicht mehr auf Solidarität und dem Bestreben nach der Emanzipation aller basiert. Die »Eigenverantwortung« steht an erster Stelle. Die Probleme der Menschen am unteren Rand werden zunehmend als individuelle Probleme betrachtet. Der Rechtsruck untergräbt die Vorstellung von einer gemeinsamen Verantwortung, von der nötigen Solidarität im Kampf gegen Marginalisierung und Perspektivlosigkeit.
Fortuyn begriff wie kein anderer, dass mit dem wachsenden Rassismus und dem kulturellen Unverständnis der richtige Moment gekommen war, die Grundlagen des Sozialstaats anzugreifen. Die Spaltung der Gesellschaft entwickelt sich zunehmend entlang ethnischer Linien, was die Kluft zwischen den mittleren Gruppen und den Menschen am unteren Rand vergrößert. Das schwächt die Solidarität zwischen verschiedenen Gruppen der Arbeiterklasse.
Die Folgen dieser Entwicklung sind deutlich: Der Magistrat vertritt eine Politik, die nicht mehr darauf gerichtet ist, die Stadt lebenswerter und besser zu machen für die Menschen, die in ihr wohnen, sondern für die Menschen, die dort (noch) nicht wohnen. Mit anderen Worten, die Stadtverwaltung zielt nicht auf die Emanzipation der Unterprivilegierten ab, sondern auf die Mittelschicht und die Reichen. Sie will teure Eigentumswohnungen bauen, statt den sozialen Wohnungsbau zu fördern. Die alten Viertel müssen für Menschen aus hohen Einkommensgruppen attraktiv werden.

Alternativen

Auch aus linker Sicht ist die einseitige Zusammensetzung der armen Viertel, die zunehmende geografische Isolation der Unterprivilegierten ein Problem. Die Entwicklung von Solidarität in der Gesellschaft wird dadurch untergraben. Erwerbslosigkeit und Abhängigkeit von Sozialhilfe sind dann Probleme von Menschen aus einer anderen Welt.
Die alten Viertel müssen so verändert werden, dass die, die jetzt dort wohnen, eine Perspektive erhalten, und die Menschen, die jetzt noch wegziehen, dort wohnen bleiben. Dazu ist eine Investition in einen guten, bezahlbaren sozialen Wohnungsbau nötig und eine aktive Jugendarbeit. In die armen Viertel zu investieren bedeutet auch, sich für eine bessere Ausbildung und motivierteres Lehrpersonal einzusetzen. Dadurch würden Jugendlichen Chancen geschaffen, die jetzt mit leeren Händen dastehen.
Es muss etwas gegen das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht unter den Menschen in den alten Vierteln getan werden. Dazu ist eine andere Politik nötig, eine, die gegen die Stigmatisierung angeht, die Solidarität an die erste Stelle setzt und jede Form von Rassismus bekämpft. Der heutige Magistrat, der mit dem Wind der populistischen und rassistischen Rechten segelt, muss weg.

Paul Mepschen

Der Autor lebt in Rotterdam und ist Redakteur der sozialistischen Zeitung Grenzeloos.



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