SoZ Sozialistische Zeitung |
Ende Dezember ereignete sich in Afghanistan während der Zusammenkunft der Loya Jirga (Große Versammlung)
zur Diskussion von Afghanistans neuer Verfassung etwas Außerordentliches. Malalai Joya, eine 25-jährige Sozialarbeiterin aus der ländlichen
Provinz Farah, sprach aus, was bis dahin niemand zu sagen wagte: dass viele der Vorsitzenden in der Jirga Kriminelle seien, die das Land zerstört hatten.
Anstatt ihnen einflussreiche Positionen in der Jirga zu geben, sollten sie wegen ihrer Verbrechen vor Gericht gestellt werden. Das erregte Protest und viele der
bei der von den Mudjaheddin (heilige Krieger) dominierten Jirga Anwesenden schrien »Tod den Kommunisten«. Joya wurde das Mikrofon
abgestellt und sie musste zeitweilig zwangsweise zu »ihrer eigenen Sicherheit« den Raum verlassen.
Joyas Haltung war außerordentlich mutig. Viele Afghanen teilen ihre Gefühle,
aber die meisten haben zu viel Angst, um sie öffentlich zu äußern. Nachdem sie Todesdrohungen erhalten hatte, befindet sich Joya selbst nun
für die Dauer der Jirga unter dem Schutz der UN.
Die »Aktionen«, auf die sie sich bezog, fanden großenteils von 1992 bis 1996, unter der Herrschaft der Jihadis (sehr religiös-
konservative Mudjaheddin) statt. Die Jihadis, berühmt-berüchtigt dafür, dass sie den Frauen Säure ins Gesicht schütteten, ihnen
die Brüste abschnitten und andere grausame Taten begingen, kamen während der 80er Jahre an die Macht, als die USA es für angebracht
hielten, sie für den Kampf gegen die sowjetische Besatzung finanziell zu unterstützen, zu bewaffnen und zu trainieren. Während ihrer
Herrschaft terrorisierten sie die Zivilbevölkerung mit flächendeckendem Raketenbeschuss, Vergewaltigungen, Folter und Tötungen in einem
solchen Ausmaß, dass die Taliban anfangs, als sie 1996 hervortraten, willkommen waren.
Nach dem Fall der Taliban sind nun dieselben Führer der Jihadis, inkl. Buhruddin
Rabbani, Abdul Sayyaf und Mitgliedern der Nordallianz, wieder aufgetaucht, mit verheerenden Folgen für die afghanische Bevölkerung, vor allem
für die Frauen.
Zu Beginn des Jahres 2003 besuchte ich Kabul, um einen Dokumentarfilm über
afghanische Frauen abzuschließen. Zwei der drei Frauen, denen ich »gefolgt« war, hatten sich geweigert, in ein von den Mudjaheddin
beherrschtes Afghanistan zurückzukehren, die, sagten sie, nur noch mehr Gewalt in das Land brächten. Sie blieben in Pakistan. Die Frau, die
zurückkehrte, führt nun ein Leben in fast vollständiger Zurückgezogenheit.
Für die meisten Frauen hat sich das Leben seit dem Sturz der Taliban nicht sehr
geändert. Während es angeblich für die Frauen mehr Möglichkeiten gibt Frauen können zu Schule gehen, erhalten
Gesundheitsversorgung und gehen arbeiten , können in Wirklichkeit nur wenige Frauen diese Möglichkeiten nützen, die sich zudem
hauptsächlich auf Kabul beschränken. Gemäß den Aussagen vieler Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und afghanischen Frauen, mit
denen ich sprach, haben die Frauen immer noch große Angst vor den bewaffneten, von den USA unterstützten Mudjaheddin, die große Teile
des Landes kontrollieren. Die meisten Frauen, selbst in Kabul, tragen immer noch die Burka (ein Kleidungsstück, das den Körper von Kopf bis zu
den Zehen bedeckt) als Schutz gegen öffentliche Beleidigungen und körperliche Angriffe. Die UN und internationale Menschenrechtsgruppen
veröffentlichten vor kurzem ausführliche Berichte über die wachsende Zahl von Auspeitschungen, Entführungen und Vergewaltigungen
durch die von den USA finanzierten regionalen Kriegsfürsten und ihre Milizen und stellen fest: »Ungestraft verletzen lokale Milizkommandeure die
Rechte der Frauen und begehen sexuellen Missbrauch.«
Zudem sind die Frauen immer noch den Forderungen ihrer Ehemänner und
männlichen Verwandten unterworfen, von denen viele den Frauen keinerlei Unabhängigkeit gewähren wollen. Im persönlichen und im
Berufsleben haben die Frauen nur wenige Wahlmöglichkeiten. Erzwungene Ehen und Ehen mit Minderjährigen sind üblich und Schulbesuch
für Mädchen ist noch immer umstritten.
Das von den USA und den UN mit großem Getöse eingeführte Ministerium
für Frauenangelegenheiten ist keine große Hilfe für den Fortschritt der Frauenrechte. Viele glauben, dass es nur dem Namen nach existiert, um
internationale Spender bei Laune zu halten. Mit einem schlecht definierten Mandat hat es keinerlei legale Zuständigkeiten und keine Macht zur
Durchsetzung von Gesetzen. Dazu kommen viele der im Ministerium arbeitenden Frauen aus der Elite und sind selbst sehr konservativ. Sie haben wenig
Interesse an einer Änderung des Status quo.
Faitana Gailani, die reiche Gründerin des afghanischen Frauenrats, einer NGO, die sich
vorgeblich für Frauenrechte engagiert, ist ein Beispiel für diese Perspektive. Die New York Times berichtete, dass Gailani Malalai Joya nach deren
leidenschaftlichem Appell an die Loya Jirga erklärte, dass die Frauen vorsichtig vorgehen müssten, damit sich das Land geschlossen vorwärts
bewegen könnte. »Bis wann sollen wir denn still sein?«, fragte Joya. Gailanis Antwort war: »Bis wir stark sind, bis das Land stark ist,
bis unsere Demokratie stark ist, bis die Lage der Frauen in diesem Land stark ist. Dann können wir den Mund aufmachen.«
In der Zwischenzeit werden die wenigen Rechte, die Frauen besitzen, weiter beschnitten. Das ist großenteils auf die Rolle des Obersten Richters am
Obersten Gerichtshof zurückzuführen. Fazl Hadi Shinwari ist ein Verbündeter des prowahhabitischen, von den Saudis unterstützen
fundamentalistischen Führers Abdul Sayyaf. Shinwari ist über 80 Jahre alt und nur in religiösem, nicht aber weltlichem Recht ausgebildet,
was gegen die existierende Verfassung verstößt.
Die Ernennung Shinwaris durch Präsident Karzai ist für die Frauen ein Nagel zu
ihrem Sarg. Er besetzte den aus neun Mitgliedern bestehenden Gerichtshof mit 137 wohl gesonnenen Mullahs und forderte talibanmäßige
Bestrafungen, um die Gesetze der Sharia einzuführen. Er hat auch das gefürchtete Departement für Untugenden und Tugend der Taliban,
umbenannt in Ministerium für Religiöse Angelegenheiten, wieder eingeführt, das nun Frauen dazu einsetzt, »unislamischem«
Verhalten unter afghanischen Frauen in der Öffentlichkeit Einhalt zu gebieten.
Wenn eine Frau meldet, dass sie geschlagen oder vergewaltigt wurde, und wenn ihre
Beschwerde wie durch ein Wunder vor Gericht kommt, ist die überwältigende Einstellung: »Was hat sie getan, um diese Tat zu
provozieren?« Sie wird dafür verantwortlich gemacht, während der Täter nur als reagierend betrachtet wird. Die Gesetze der Sharia
werden zitiert, um diese Anschauung zu unterstützen. Frauen, die Missbrauch melden, werden oft ins Gefängnis gesteckt und gegen ihren Willen auf
unbestimmte Zeit festgehalten, angeblich zu ihrem eigenen Schutz. Einige vermuten, dass der wirkliche Grund, warum sie festgehalten werden, der ist, dass sie
als Beispiel für andere Frauen dienen sollen: »Wenn du einen Mann wegen Missbrauchs anzeigst, kommst du ins Gefängnis.«
Die Liste der dieses Jahr verabschiedeten, das Verhalten der Frauen regelnden Gesetze liest
sich wie eine Seite aus einem Handbuch der Taliban. Diese Gesetze umfassen das Verbot von koedukativen Klassen, Reiseeinschränkungen für
Frauen, sowie das Verbot für Frauen, in der Öffentlichkeit zu singen. Der bisher größte Schlag wurde den Frauenrechten im November
versetzt, als ein Gesetz von 1970, das verheirateten Frauen den Besuch des Gymnasiums verbietet, bestätigt wurde. Das war für Frauen und
Mädchen ein großer Schritt rückwärts, da viele minderjährige Mädchen zum Heiraten gezwungen werden und nun keine
Hoffnung haben, ihr Leben zu verbessern. Das Ministerium für Frauenangelegenheiten hat nichts unternommen, um gegen das Gesetz zu protestieren.
Außerhalb Kabuls sind die Bedingungen noch schlimmer. Mädchenschulen wurden und werden angezündet. In Herat, unter dem
Gouverneur Ishmael Khan, können Frauen nicht mit Männern fahren, die nicht mit ihnen verwandt sind, und wenn Frauen mit »nicht
verwandten« Männern gesehen werden, kann sie die Polizei für einen »Keuschheitstest« ins Krankenhaus schicken.
Außerdem dürfen männliche Lehrer keine Frauen unterrichten, ein Schritt, der vom Obersten Richter Shinwari veranlasst wurde.
Das besonders Bedrohliche an der Lage Afghanistans ist die erneute legale und religiöse
Sanktionierung der Unterdrückung der Frau: Der Staatsapparat wurde aktiv dazu benutzt, ihnen ihre Menschenrechte abzuerkennen. Es ist deswegen
unerlässlich, dass wir dagegen auftreten. Malalai Joyas mutige Haltung muss unterstützt und ihre Anschuldigungen untersucht werden. Die
westliche Unterstützung der Fundamentalisten muss beendet und der ausdrückliche Schutz der Frauenrechte in der neuen Verfassung Afghanistans
gefordert werden.
Meena Nanji
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04