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Es herrscht Ruhe im Land. Trotz enormer Widersprüche, die »in den gesellschaftlichen Verhältnissen und in
den Individualitätsformen, in denen die einzelnen ihre Persönlichkeit herausbilden« (Meyer-Siebert u.a.), begründet sind. Frigga Haug,
inzwischen emeritierte Hochschullehrerin in Hamburg und Berlin, ist eine, die ihre Veranstaltungen als Orte zur Herstellung von Unruhe in den Köpfen
und Herzen der Studierenden nutzt.
Diese und ihre Kolleginnen und Kollegen haben ihr zuliebe und ihr zum Dank anlässlich
der Emeritierung an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik eine Tagung organisiert und eine Festschrift veröffentlicht, die
zeigt, wie vielfältig, kenntnisreich und innovativ die marxistische Wissenschaftlerin und Feministin in den Feldern Psychologie, Soziologie, Erziehungs-
und Kulturwissenschaften bis heute lehrt und forscht.
Ihre Interventionen waren stets von einem feministischen Standpunkt aus begründet, der
jedoch nie die ökonomischen Voraussetzungen gesellschaftlicher Entwicklungen und Veränderungen vergaß. Mit anderen Worten: Wir sind
auf eine Art und Weise zum Begreifen von Gesellschaft genötigt, die »einerseits die Produktion von Leben und andererseits die Produktion von
Lebensmitteln als Zusammenhang von lebenserhaltenden und entwickelnden Tätigkeiten versteht, der herrschaftlich angeordnet ist und in dem die
Geschlechter unterschiedliche Bewegungsmöglichkeiten vorfinden«.
Ein Großteil der Festschrift für Frigga Haug besteht aus Beiträgen zu der von ihr entwickelten und über Jahrzehnte hinweg
entfalteten sozialpsychologischen Forschungsmethode der Erinnerungsarbeit. Sie ermöglicht es den (weiblichen) Subjekten, die Auswertung erinnerter
Alltagsgeschehnisse in Lernkollektiven so zu organisieren, dass die je individuelle Herausbildung einer eigenen Persönlichkeit verstehbar wird als
Mischform widerständiger und herrschaftsförmiger Praxen.
Ziel dieser Analyse soll es sein, den Einzelnen zu zeigen, dass und wie Formen von Fremd-
und Selbstfesselung in befreiendes Handeln überführt werden können ohne die Wirkmacht realer gesellschaftlicher
Verhältnisse zu vergessen.
Eine Zusammenstellung ihrer bisherigen Forschungsergebnisse zur Erinnerungsarbeit hat
Frigga Haug anlässlich einer Gastvorlesung an der Duke University in North Carolina (USA) vorgenommen. In den Vorlesungen zur Einführung in
die Erinnerungsarbeit zeigt sie an Forschungsthemen wie Sexualität, Leistung, Angst, sexueller Missbrauch u.a., »was von den Verhältnissen,
von Gesellschaft, von den Einzelnen wie wahrgenommen, mit Bedeutung versehen und ins eigene Leben eingebaut wird«.
Erinnerungsarbeit als Methode, die mit psychoanalytischen Denkmustern ebenso wie mit
sprach- und diskursanalytischer Dekonstruktionsarbeit vertraut ist, wird in den Vorlesungen ausführlich und detailreich so beschrieben, dass Praktiker
damit arbeiten können. Von der Konstitution der Gruppe über die Erarbeitung einer gemeinsamen Forschungsfrage und -strategie bis hin zu
konkreten Tipps zum Schreiben und Auswerten von Erinnerungsgeschichten wird Erinnerungsarbeit zu einer Methode, die für viele nutzbar ist.
Frigga Haug zeigt in einer abschließenden Reflexion nach mehr als zwanzig Jahren
Arbeit mit dieser Methode, wie sehr dieses »emanzipatorische Lernprojekt« vergleichbar ist Gullivers Erlebnissen bei den Lilliputanern. So wie er
an allen Haaren gefesselt war, seien wir Menschen »hineingewoben in den gesellschaftlichen Herrschaftszusammenhang«, und die zunächst
einfach erscheinende Aufgabe der Befreiung daraus entwickelte sich zu einer lebenslangen mal freud-, mal leidvollen Aufgabe gemeinsamen
Lernens.
Jonas ist sechs Jahre alt und ist traurig, wenn er sich von jemandem, den er liebgewonnen hat, verabschieden muss. Aus seinem reichhaltigen Spielzeug und
anderen Geräten sucht er sich deshalb nach einer Abschiedssituation seinen Walkman mit Kopfhörer, bedeckt seine Ohren damit und schaltet sich ab
aus dieser Welt, die ihm solche Abschiede beschert.
Dieses Ausschalten führt in der Folge zu Konflikten mit seinen Eltern und
Großeltern, weil diese nicht gut verstehen können, wieso Jonas über Stunden hinweg, scheinbar unrettbar eingesponnen in die
Hörgeschichte, nichts mit den anderen zu tun haben will. Frigga Haug, die Großmutter von Jonas, weiß nicht, dass dieser den Walkman als
Abschiedsschmerzverhinderungsgerät zu nutzen gelernt hat. Deshalb sagt sie zu Jonas: »Nach meiner Erfahrung hat dieser Walkman eine
schreckliche Wirkung auf dich. Immer wenn du ihn auf deine Ohren setzt, bist du anschließend unleidlich, unfreundlich und sauer. Ich bin dafür,
dass wir dieses Gerät wegwerfen.«
Viele der Geschichten, die Haug in ihrem neuen Buch vorstellt, sind für sie selbst wie
für die Leserschaft das Material, mit dem die Fragen sowohl nach den aktuellen gesellschaftlichen als auch den individuellen Lernverhältnissen
aufgeworfen werden. Dabei geht es der Autorin nicht darum, im Sinne der PISA-Studie die Lernbedingungen in Deutschland zu kritisieren, um dann
anschließend festzustellen, dass diese für den Bildungsstandort Deutschland reformiert werden müssten, sondern vielmehr darum, die
Zusammenhänge subjektiven Lernens mit den gesellschaftlichen Feldern, in denen dieses Lernen stattfindet, aus der Sicht der Lernenden und Lehrenden
zu erkunden.
Gefragt wird danach, wie es kommt, dass alle Geschichten, die Haug zum Thema Lernen in
Schulklassen und studentischen Arbeitsgruppen schreiben ließ, davon handeln, dass Lernerinnerungen erstens fast immer mit Schule verknüpft
werden und zweitens durchgehend mit Unbehagen, mit unangenehmen Gefühlen von Behinderung, Ängsten, unsinniger Anstrengung oder
Blockierungen verbunden sind.
Frigga Haug führt am Beispiel psychologischer Lerntheorien vor, dass die
Alltagssituationen und -probleme, die den Lernsubjekten auf den Nägeln brennen, nicht angemessen thematisiert werden. Vielmehr stellt sie fest, dass
diese als Lernziele eine Anpassung an Herrschaftsverhältnisse anvisieren und nicht die Befreiung daraus: »Es geht beim Lernen in diesem Fall nicht
um Erkundung von Welt, nicht um eingreifende Erkenntnis, dass sie menschlicher werde. So geht es auch nicht darum, Verfestigungen in Bewegung zu bringen
bzw. solche Bewegung selbst als Ziel von Lernprozessen aufzufassen. Es spielt keine Rolle, in welchen historischen, kulturellen Verhältnissen jemand
lebt: Lernen scheint eine ahistorische Größe zu sein.«
Die Alternative zu solch subjekt- und weltfremden Lerntheorien bietet Klaus Holzkamps
Lernkonzeption, die schulisches und fremdverfügtes Lernen als defensives und eine subjektiv selbstbestimmte Überwindung einer Problematik als
expansives Lernen bezeichnet. Lernen wird darin grundsätzlich als Lernhandlung in gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten verortet, wobei der
Lerninhalt für die Subjekte weitaus bedeutsamer ist als die Lerntechniken, denen ja ansonsten so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Frigga Haug bezieht sich zwar auf Holzkamp, zeigt aber auch die Schwachstellen seiner allzu
sehr am Schreibtisch entwickelten Lerntheorie auf: »Beiseite bleiben alle Überlegungen, die eine Beteiligung von Gefühlen einschließen
würden. Von Kultur und Ideologie ganz zu schweigen.«
Neben dieser Ausblendung emotionaler Beteiligung der Lernsubjekte am Lernprozess gibt
Holzkamp auch keine Antwort auf die Frage, wie aus Fehlern gelernt werden kann und wieso die herrschaftsförmigen psychologischen Lerntheorien
sowohl im wissenschaftlichen Mainstream als auch in der Alltagssprache ihren festen Platz gefunden haben.
Dort, wo also behaviouristische und kognitiv orientierte Lerntheorien ihre blinden Flecke
haben, setzt Frigga Haug mit einer Reformulierung einer Lerntheorie an, die subjektive Erfahrungen mit gesellschaftlichen und institutionellen
Machtverhältnissen zusammenschließt: im Alltag. Und geradezu gegen Klaus Holzkamps normative Überlegung, Lernen führe zu
einem »abgeschlossenen« Lernergebnis, macht sie deutlich, dass Lernen ein unabschließbarer Prozess ist, der Selbstkritik und
Gesellschaftskritik sowohl voraussetzt als auch zum Ziel hat:
»Als spezifisches Lernen ist der Prozess gefasst, in dem die Gewohnheit der
Eindeutigkeit, die Schuld bei anderen, Opfersein bei sich selbst zu verorten, in Gut und Böse zu denken, aufgegeben wird und die freigesetzte Energie es
endlich erlaubt, sich selbst als widersprüchlich zu erfahren und also die Einsicht zu gewinnen, dass Selbstreflexion, Kritik, Balance ein ständiger
Prozess des Lernens ist und dies Menschsein und in dieser Weise auch Glück wie Unglück, Alleinsein wie Zusammensein bedeutet.«
Wie solche Lernprozesse organisiert werden können, zeigt die Autorin im überzeugendsten Kapitel des Buches, dessen Überschrift sich
allen Lehrenden (Lehrerinnen, Dozenten, Professorinnen etc.) zur programmatischen Leitlinie ihres Lehr-Handelns machen sollten: »Erfahrungen in die
Krise führen.«
Am Beispiel von Lernformen und Lehrinhalten schildert Frigga Haug, wie gerade schulischer
Unterricht meistens davon ausgeht, dass Lehrer Schülern unbedingt etwas beibringen müssten, als wären diese grundsätzlich
desinteressierte Menschen. Dabei werde übersehen, dass in Wirklichkeit alle Lernenden ein gewisses Interesse an der Welt hätten, verordnete
Lehrpläne jedoch nicht erlauben, an der spezifischen Wirklichkeit, an Interessen und Konflikten von Schülern anzusetzen und diese zum
Gegenstand von kooperativem Lernen zu machen. Vernünftig wäre es also, so Haug, »zu fragen, wozu Schüler eigentlich Lehrer
brauchen, und von daher Lösungen zu suchen«.
Schülerinnen und Schüler benötigen Sicherheit und Angstfreiheit, um Neues
zu lernen, weil jedes wirkliche Lernen alten Sicherheiten, alten Ordnungen und klaren Prinzipien widerspreche und damit Krisen verursache. Dass man aus
Erfahrung lerne, ist nicht wahr. Aus Erfahrung kann man ebenso dumm werden. Nur: »Ohne Erfahrung kann man nicht lernen.«
Die Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern sei es, dass diese ihren reflektierten
Erfahrungsvorsprung nutzen, um den Lernsubjekten auf sicherem Boden das Gefühl von Verunsicherung zu ermöglichen. Sie können
»die Erfahrungen [der Schüler] aus ihrer Selbstverständlichkeit im Leben herausholen und unselbstverständlich werden lassen«,
somit die widersprüchliche Wirklichkeit auch als solche verstehen lernen, Lernen als »Widerspruchserfahrung«.
In zwei Kapiteln werden Bert Brecht und Virginia Woolf als Autoren vorgeführt, denen
es in ihren literarischen Produktionen gelingt, Krisenerfahrungen Lesern zu vermitteln: Brechts Flüchtlingsgespräche und Woolfs Die drei Guineen
zeigen, wie mit Methoden des Witzes, der dramatischen Überspitzung, des scheinbar unsinnigen Vergleichs und des widerständigen, klugen Fragens
Lernprozesse in Gang gesetzt werden können, die individuelles Lernen nicht gelingen lassen, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse gleichzeitig
kritisch in den Blick zu nehmen. Die Perspektive der Befreiung aus ungerechten Verhältnissen bspw. ist dabei immer als subjektive Tat gefasst, eben auch
als »Selbstveränderung«.
Frigga Haug hat als entdeckende Methode die Erinnerungsarbeit in die empirischen
Sozialwissenschaften eingebracht. Mit ihr gelingt es in kollektiver Arbeit, die ideologischen Grundlagen unserer Selbst- und Welt-Entwürfe besser zu
verstehen. Überzeugend zeigt sie, wie Erinnerungsgeschichten für schulische und universitäre Erfahrungen ebenso brauchbar sind wie
für das Verstehen von Erfahrungen in den Sozialisationsbereichen Familie und Lohnarbeit. Jedes Kapitel zu diesen Themen umfasst viele
Alltagsgeschichten, die kritisch ausgewertet werden und zum Weiterforschen anregen. Ein klug geschriebenes Glossar zu den wichtigsten Begriffen von Haugs
Lernkonzeption, die in ihrer Problematik durchgearbeitet werden, rundet das Buch ab. Haugs Lernbuch ist eindeutig als Alternative zu neoliberalen
Bildungsszenarien konzipiert, die Schülerinnen und Hochschüler zu konformen Subjekten für einen marktradikalen Wettbewerb herrichten.
Ihr Buch steht für subjektive (Selbst-)Befreiung, die aber ohne Lernen nicht gelingt.
So ist das Buch ihrem Enkel Jonas gewidmet in der Hoffnung, »dass er sich in den
Mühen des Lernens die Lust daran bewahrt«.
Klaus Weber
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