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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2004, Seite 3

Zur aktuellen Kopftuch- oder Islam-Diskussion der Linken

Gegen die großen Vereinfachungen

Die sog. »Kopftuch«-, oder auch »Islam-Debatte« löst politischen und selbst privaten Streit in linken Kreisen aus. Anfeindungen und gegenseitige Beschuldigungen, etwa der »Komplizenschaft mit einer reaktionären Ideologie oder des Rassismus, sind schnell bei der Hand. Doch versuchen wir, uns nicht auf diesem oberflächlichen Niveau aufzuhalten, sondern etwas tiefer zu blicken. Es ist kein Zufall und nicht willkürlich verursacht, dass die bei diesem Thema angeschnittenen Streitfragen für Kontroversen und Konflikte sorgen. Denn tatsächlich treffen hier zwei Debattenstränge oder zwei Problemfelder wie in einem Knotenpunkt aufeinander: Die Frage der Rechte des Individuums gegenüber seiner sog. »angestammten Gemeinschaft«, also der persönlichen Emanzipation (oder auch die Frage des Schutzes der Kinder vor der religiösen Verblendung ihrer Eltern) einerseits und die Frage des Rassismus oder der Behandlung von, in vielfältiger Form benachteiligten, Bevölkerungsgruppen auf der anderen Seite.
Für linke und antifaschistische Menschen steht dabei viel auf dem Spiel. Denn eine zu einfach gestrickte Stellungnahme, die eines der aufgeworfenen Probleme vernachlässigt, droht sie unweigerlich an rechte Positionen (in der einen oder anderen Variante) heranzuführen.

Fallstricke einer linken Debatte

So kann es im Prinzip für unsereinen nicht in Frage kommen, einfach den Standpunkt der Mehrheitsgesellschaft gegenüber einer Einwanderungsbevölkerung einzunehmen, wenn die Erstgenannte bspw. die »Rückständigkeit« oder »Unintegrierbarkeit« der Einwanderer anklagt. Das kann geradewegs in die offenen Arme eines platten, als Islam-Kritik daher kommenden Rassismus führen. Denn letzterer kann sich mitunter, der Niederländer Pim Fortuyn hat es vorgemacht, mit den Federn einer aufgeklärt- liberalen Weltoffenheit schmücken, die vorgeblich wegen der mangelnden individuellen Freiheitsrechte »im Islam« gegen die Einwanderung von Menschen aus muslimischen Ländern eintritt.
Umgekehrt wäre es aber ein fataler Fehlschluss, deswegen einfach die platte Gegenposition einzunehmen. Diese würde darin bestehen, kritik- und distanzlos das Tragen »islamischer« (oder durch traditionelle Kulturen als solche definierter) Kopfdeckungen durch die Frauen rundheraus zu verteidigen. Das heißt, ohne weitere Problematisierung »für das Recht aufs Kopftuch« als »Ausdruck der kulturellen Identität der Einwandererfrauen« einzutreten.
Das würde nicht nur übersehen, dass »kulturelle Identität« eine gesellschaftliche Konstruktion ist, die an sich hoch problematisch ist und mit sehr viel Zwang gegen die einzelne Person verbunden sein kann. Es hieße auch verkennen, dass es innerhalb der als »muslimisch« definierten Bevölkerungsgruppen (in denen es ja auch Ungläubige, Freidenker und Agnostikerinnen gibt!) genauso reaktionäre wie auch fortschrittliche Kräfte gibt, wobei Erstere »ihrer« Gruppe eine spezifische, eigene »Moral« aufzuzwingen versuchen. Überall, wo die politische Bewegung des Islamismus im 20. Jahrhundert an die Macht kam, gehörte beispielsweise zu ihren allerersten Maßnahmen, den Frauen die Zwangsverhüllung ihrer Häupter aufzuzwingen. Das geschah oftmals unter Androhung drakonischer Züchtigungsstrafen. Ein besonders brutales Anschauungsbeispiel lieferte der Iran ab 1979.
Nun ist Frankreich oder die BRD nicht der Iran, und jeder Vergleich — den manche der Islam-Kritikerinnen und
-Kritiker ziehen, auch unter Feministinnen oder unter Exil-Iranern — führt in die Irre. Denn die Gründe, warum »islamische« Kopfbedeckungen in einer Pariser Banlieue oder in Berlin-Kreuzberg getragen werden, sind nicht dieselben. Ihr Nichttragen wird außerdem nicht mit staatlichen Straf- und Gewaltdrohungen sanktioniert. Allerdings können sich dennoch »private« Gewaltverhältnisse — sie mögen von der Familie, aber auch von der Community oder der sozialen Bezugsgruppe ausgehen — hinter den Kleiderordnungen verbergen. Und das umso mehr, als die gesellschaftliche Krise die Möglichkeiten, dem Druck der »eigenen« Gruppe zu entgehen, verbaut und das Individuum auf sein angeblich »natürliches« Kollektiv zurückwirft. Auch in diesen Fällen gilt der Ausspruch des französischen Anarchokommunisten Renaud: »Man wählt seine Freunde aus, aber selten seine Familie«, oder seine Herkunftsgruppe — deshalb muss man das Individuum oftmals gegen die Letztgenannte schützen.

Auch kultureller Differenzialismus ist reaktionär

Natürlich wird niemand, der oder die sich als links und antirassistisch bezeichnet, für einen Zwang solcher Art eintreten. Man kann ihn aber auch unfreiwillig befördern, wenn man dafür sorgt, dass innerhalb einer Gesellschaftsgruppe die reaktionär-kulturalistischen Kräfte gestärkt werden. Wenn erst einmal das Recht darauf, möglichst viele Kopftücher in einer Schulklasse zu sehen, konsequent durchgesetzt ist und diese Kopfbedeckung dann in bestimmten Schulgegenden (vor dem Hintergrund städtebaulicher Segregation und Ghettoisierung von Einwanderern) mehrheitlich präsent ist. Was passiert dann mit denen, die nunmehr in der Minderheit sind? Drohen sie nicht, als »unmoralisch« abgestempelt zu werden? Hat dann nicht das Recht der einen jenes der anderen Mitglieder derselben Bevölkerungsgruppe erdrückt? In Gruppen oder Familien, wo die Frauen vielleicht besonders ungünstige Kräfteverhältnisse vorfinden, könnten unter Umständen reaktionäre Identitätspolitiker oder auch Familienmitglieder dieses »Recht« als Bresche benutzen, um ihren Zwang durchzusetzen. Das muss man zumindest im Hinterkopf behalten.
Im Extremfall kann eine solche Form von Antirassismus in die Arme eines »Ethno- Pluralismus« führen, wie ihn ein intelligenter Flügel der extremen Rechten mit den Vordenkern der Nouvelle Droite (bspw. Alain de Benoist) dereinst definiert hat. Er zeichnet sich durch einen rigide deterministischen Kulturrelativismus aus. So kann das, was ursprünglich astrein antirassistische Motive hatte, am Schluss umgedreht werden.
Man erinnere sich an die französische Debatte in den 80er Jahren, in denen wohlmeinende, aber kulturalistisch argumentierende Antirassisten den Slogan vom »Recht auf Differenz« aufbrachten. Sie meinten, dass nur ein Recht auf kulturelles »Anderssein« anerkannt werden müsse, und schon gebe es keinen Rassismus mehr. Aber waren die betroffenen Menschen wirklich so »anders«? Die wirklichen Rassisten waren davon überzeugt, und der Front National übernahm den Slogan am Ende, wobei er ihm allerdings einen völlig anderen Sinn verlieh. Die extreme Rechte verteidigte das »Recht auf Anderssein« der Mehrheits- Franzosen, die gern ihre »Andersartigkeit« aufrecht erhalten wissen würden.
Dennoch gibt es keine Rechtfertigung für ein Kopftuchverbot, da man nicht mit der »Fernwirkung« auf andere Personen die Ausgrenzung von Menschen aus dem Berufsleben, oder gar ihren Ausschluss vom Zugang zu Bildung, rechtfertigen kann. In menschlicher wie juristischer Hinsicht finde ich es schockierend, jemanden (etwa eine Kopftuchträgerin) wegen des Verhaltens anderer, statt aufgrund ihres eigenes Verhaltens zu sanktionieren. Deswegen kann auch m.E. der Hinweis auf diese »Fernwirkung« nicht den Hinauswurf aus dem Arbeitsleben rechtfertigen. Und noch weit weniger die Ausgrenzung von Schülerinnen durch die staatliche Institution — denn im Falle des aktuellen französischen Kopftuchverbots dreht die aktuelle Debatte sich nicht um den Ausschluss von Lehrerinnen sondern von Schülerinnen!
Dabei sind endgültig die Grenzen des Absurden überschritten. Denn im Namen eines angeblichen Kampfes gegen geschlechtsspezifische Unterdrückung von Frauen wird eine Maßnahme gerechtfertigt, die wiederum allein Frauen und (nicht Männer) trifft. Und die für viele von ihnen zur Folge hat, dass sie ihre Schul- oder Berufsbildung abbrechen und sehr früh ins häusliche und Familienleben eintreten. Das als Sieg der Emanzipation zu betrachten, ist reichlich daneben.

»Becklash«: eine höchst fragwürdige Initiative

Ebenfalls höchst problematisch sind die Mittel, mit denen manche Linke den Kampf gegen »die islamische Frauenunterdrückung«, oder was sie dafür halten, führen möchten. Zu denken ist beispielsweise an die Initiative »Becklash«*, die vor wenigen Wochen in Berlin vorgestellt wurde, und die nichts anderes bezweckt als: »Frauenfeindliche Ausländer raus aus der BRD!« Gegenstand des Vorschlags, den die Initiative rot-grünen Politikern unterbreiten möchte, ist folgende Idee: Einwanderer, die in die BRD kommen, sollen eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, derzufolge sie den Grundgesetzartikel 3 — in dem u.a. steht, Männer und Frauen seien »gleichberechtigt« — respektieren werden. Im Falle des Zuwiderhandels soll das als Vertragsbruch gewertet und ggf. mit dem Entzug des Aufenthaltsrechts in Deutschland, also unter Umständen mit der Abschiebung sanktioniert werden.
Für Menschen, die bereits heute einen festen Aufenthaltsstatus in Deutschland haben, und für deutsche Staatsbürger dagegen sollen die rot-grünen Regierungspolitiker, an die die Petition adressiert ist, sich doch bitte selbst etwas einfallen lassen. So wird die Bundesjustizministerin aufgefordert, sie möge doch bitte gefälligst mal einen Vorschlag dazu auf den Tisch legen. Diese Aufforderung kaschiert nicht einmal notdürftig, dass den Urheberinnen und Urhebern selbst nichts dazu eingefallen ist. Aber in der Zwischenzeit kann man sich ja schon einmal an die »Ausländer« halten, deren rechtliche Situation in der BRD prekär ist.
Nun stellt sich nur leider eine ziemlich wichtige Frage: Was wäre im Falle, dass die Initiative mit ihrem Anliegen durchkommt, eigentlich auf dieser Welt besser geworden — auch und gerade im Sinne der Frauenrechte? Man hält also die betreffenden Männer für nicht (mehr) veränderbare und nicht beeinflussbare Unterdrücker von Frauen. Und jetzt? Die Frauen in den islamischen Ländern werden sich bedanken, wenn ausgerechnet die in der Metropole als »besonders frauenfeindlich« abgestempelten Männer auf sie »losgelassen« werden, während die anderen im Westen bleiben dürfen.
Aber stellen wir noch eine sehr wichtige Frage: Was passiert dabei eigentlich mit der zuerst betroffenen Frau? Was ist, wenn sie mit »ihrem« Mann ausreist? Sei es nun, dass sie niemanden in der BRD kennt, dass sie kein oder nicht genügend Deutsch kann, um einen Job zu finden, dass sie keine Berufsausbildung (die ihr in der BRD die ökonomische Existenz hinreichend sichern könnte) erlernt hat? Oder einfach, dass ihr das nötige Selbstbewusstsein und -vertrauen fehlen — nicht aus eigenem Verschulden, aber wegen Erziehung usw.? Man darf wohl ruhig mal davon ausgehen, dass das in 90—95% der Fälle passieren wird. Und jetzt? Jetzt ist alles besser, wo die Frau in einem islamischen Land sitzt? Dort, wo sie vermutlich nicht mal so (relativ) »einfach« ins Frauenhaus gehen kann wie in Berlin? Wo die Gesetze für sie wesentlich ungünstiger ausfallen? Wo die Polizisten sie vielleicht auslachen, wenn sie sie gegen ihren Mann zu Hilfe ruft? Wo sie — das trifft jedenfalls in bestimmten Ländern islamischen Rechts zu — nicht ohne Einwilligung ihres Mannes wieder ausreisen kann? Und das soll besser sein?
Vielleicht aber geht es der Initiative auch darum, dass »diese barbarischen Horden nicht mehr unsere schöne zivilisierte BRD versauen und verschmutzen« sollen. Oder aber in ihren Augen gilt einfach die Devise: »Aus den Augen, aus dem Sinn — solange es nicht mehr unter unseren Augen passiert, ist uns alles egal.«
Nur die Integration, nicht die Desintegration kann den Einzelnen auf die Dauer die Mittel an die Hand geben, sich zu emanzipieren. Emanzipation lässt sich nicht »anstelle« der Leute (aber ohne dass sie dabei was zu sagen hätten) entscheiden und verordnen. In diesem Sinne sind Schulausschlüsse, Ausgrenzungen und Berufsverbote allemal das falsche Mittel.

Bernhard Schmid

*»Initiative Becklash« wird ein offener Brief an die Integrationsbeauftragte Marieluise Beck, die Frauenministerin Renate Schmidt und die Justizministerin Brigitte Zypries genannt, den Halina Bentkowski, Günter Langer und Helke Sander initiiert haben.



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