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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2004, Seite 9

US-Wirtschaft

Das Geheimnis hinter dem Aufschwung

Für seine mögliche Wiederwahl im November dieses Jahres zieht US-Präsident Bush alle Register. Ob hinter dem Aufschwung der US-Ökonomie mehr steckt als politische Manipulation, wird sich noch weisen; die Regierung verfügt über genügend Instrumente, die Wirtschaft kurzfristig aufzublasen.

Damit stünde Bush nicht allein da. Am bekanntesten wurde Richard Nixon, der 1971/72 auf der Basis von Lohn-Preis-Kontrollen eine Reflation1 herbeiführte, was die Importe aus dem Ausland (um 32%) und auch das deficit spending in die Höhe trieb. Er sicherte sich damit 1972 seine Wiederwahl. Die Preise hoben ab, das System von Bretton Woods kollabierte, die Weltwirtschaft sank in das tiefste Loch seit den 30er Jahren. Er produzierte einen »politischen Wirtschaftszyklus«.
Ende Oktober verkündete das US-Handelsministerium, die Wirtschaft sei im 3.Quartal 2003 um (aufs Jahr berechnet) 7,2% gewachsen. Da die Statistik ständig revidiert wird, fragt man sich, was das zu bedeuten hat. Unbestritten ist, dass es in den drei Jahren von 2000 bis 2003 an den Aktienmärkten der USA und der Welt eine Baisse gegeben hat, bei der Billionen US-Dollar Buchwerte verschwanden, und eine »milde Rezession«, die mild erscheint, weil sie auf zweifelhaften Statistiken beruht, die ständig zu politischen Zwecken manipuliert werden.
Die offizielle Erwerbslosenquote z.B. betrug in demselben Zeitraum 6%; aber sie umfasste nicht die 1% US-Bevölkerung, die im Gefängnis lebt; auch nicht die Menschen, die aus dem Arbeitsmarkt herausgefallen sind, noch Menschen, die Teilzeit arbeiten (oder nur für ein paar Stunden die Woche), aber Vollzeit arbeiten möchten. Schließt man diese Menschen mit ein, dann klettert die Erwerbslosenquote auf etwa 11%. Tatsächlich sind seit dem Jahr 2000 2,7 Millionen Arbeitsplätze in den USA vernichtet worden; der Trend hat sich kaum umgekehrt.
Klar ist auch, dass die Zentralbank seit dem Januar 2001 nach einer Möglichkeit Ausschau hielt, den Hightechboom mit einem deflationistischen Absturz zu beenden. (Man hatte einige unangenehme Entdeckungen gemacht, z.B. dass 98% der Glasfaserkabel, die in den Jahren zuvor verlegt worden waren, niemals benutzt werden würden.)
Der Notenbankzins (zu dem die Zentralbank Geld an Banken verleiht) sank bis zum Juni 2003 von 6% auf 1%. Dazu kamen Bushs Steuersenkung für die Reichen (etwa 200 Milliarden Dollar pro Jahr) und der rasche Anstieg der Haushaltsverschuldung (die für 2003 auf 375 Milliarden Dollar geschätzt wird), während der Haushalt unter Clinton einigermaßen ausgeglichen gewesen war. Der Niedergang des Dollars nach 2002 (um 30% gegenüber dem Euro, um 10% gegenüber dem Yen) soll den Dollar in Übersee billig machen. Doch hat dies bisher nicht zum Rückgang des Zahlungsbilanzdefizits geführt, das zuletzt 500 Milliarden Dollar betrug. Allerdings ist damit zu rechnen, dass dies in Kürze in einen Anstieg der Inflation münden wird, weil die Kosten für die US-Importe steigen.
Das Finanzministerium muss Tag für Tag 1,5 Milliarden Dollar Kredit aufnehmen, um das Zahlungsbilanzdefizit zu decken; es verbraucht auf diese Weise derzeit 40% der weltweiten Ersparnisse. Die Auslandsschulden der USA werden auf netto mindestens 2 Billionen Dollar geschätzt (8 Billionen US-Guthaben stehen 10 Billionen ausländische Guthaben gegenüber); das bedeutet, dass die gesamte Auslandsschuld der USA 20% des Bruttosozialprodukts beträgt — ein Niveau, das für ein Land der Dritten Welt charakteristisch ist. Ein Prozent des BSP wird benötigt, um den Schuldendienst dafür zu zahlen.

Alte Rezepte taugen nicht mehr

Die ganze Euphorie, dass die Baisse an den Aktienmärkten vorüber ist, basiert auf diesen (und anderen) papierenen Indikatoren; sie zeigen eine Expansion an, die bislang noch keinen einzigen der Krise zugrundeliegenden Trend umkehren konnte, sondern sich einzig und allein auf die Ausweitung der Liquidität stützt.
Trotz des Rauschs der späten 90er Jahre über die »New Economy« und die Hightech-»Revolution« scheint es, dass der Zustand der US-Wirtschaft immer noch von der Neigung und Fähigkeit der Amerikaner abhängt, Häuser und Autos auf Pump zu kaufen, genau so wie vor 40 Jahren.
Die Verschuldung der Verbraucher hat einen neuen Rekord geschlagen — u.a. durch solche Mechanismen wie die Refinanzierung von Hypotheken. Die Immobilienblase wurde durch Hunderte Milliarden an Krediten an die Mittelschichten weiter aufgepumpt. Die Immobilienblase (wie die Dollarblase) wird dasselbe Schicksal ereilen wie die Hightechblase: sie wird platzen, und Millionen Menschen werden aufgeblähte Hypothekenschulden abzuzahlen haben.
Greenspan, der Präsident der Notenbank, und Bush hatten die Hoffnung, mit mehr Verbraucherausgaben die Wirtschaft solange am Laufen zu halten, bis die Unternehmen wieder investieren würden; das ist seit dem Zweiten Weltkrieg das klassische Muster für die Beendigung einer Rezession. Da aber die US-Betriebe auf 75% ihrer Kapazität fahren und immer noch Wege aus den Schulden der Boomzeit suchen, ist es zu dieser Wiederbelebung von Kapitalausgaben nicht gekommen, von einem nennenswerten Anstieg der Beschäftigung nicht zu reden.
Einer der besten Indikatoren für das fehlende Vertrauen des Kapitals in den derzeitigen Aufschwung ist der rasche Anstieg einiger Verbraucherpreise (ebenfalls eine Parallele zu 1971—73), angeführt vom Anstieg des Goldpreises um 20% in 2003.

Die Krise des Dollars

Der »Aufschwung« der US-Wirtschaft hat eine stark internationale Dimension, obgleich diese in den USA nicht so wahrgenommen wird. Vor 15 Jahren schien das hauptsächliche Ungleichgewicht in der Weltwirtschaft das zwischen den USA und Japan zu sein: Japanische Güter eroberten den US-Markt, und die japanische Notenbank akkumulierte US-Dollars. Heute liegt der Schwerpunkt auf dem Ungleichgewicht zwischen den USA und China; letzteres modelt derzeit die internationale Arbeitsteilung um.
Den grundlegenden Motor für die Expansion der Weltwirtschaft bildeten jahrelang asiatische Exporte in die USA im Tausch gegen Dollarreserven. China, Japan, Taiwan und Südkorea zusammen genommen halten schätzungsweise über eine Billion Dollar; davon fließt das meiste wieder in die US-Kapitalmärkte zurück und füttert u.a. die Haushaltsverschuldung. So wird ein stetiges Anwachsen der Kredite und damit des Verbrauchs in den USA möglich.
Wie Europa in den 50er und 60er Jahren erlauben die asiatischen Industrienationen den USA heute, ihr Defizit mit ihren eigenen Schuldscheinen zu finanzieren. Ein ähnlicher Mechanismus, wenngleich nicht im selben Maßstab, besteht heute noch zwischen Europa und den Dollarbesitzern in der OPEC.
In der zentralen Rolle des Dollars für die Weltwirtschaft liegt das Geheimnis künftiger Akkumulationsmöglichkeiten. Der Dollar ist seit etwa 1958 »in der Krise«, als das System von Bretton Woods anfing zu bröckeln; er hat den Zusammenbruch dieses Systems überlebt und noch drei Jahrzehnte »Dollar-Standard« (im Gegensatz zum »Goldstandard« der Zeit von 1944 bis 1971). In all diesen Jahren hat die US-Industrie Arbeitsplätze abgebaut, Produktion ins Ausland verlagert, Unternehmen entkernt. Mit dem Aufstieg Chinas wurden selbst Maquiladorabetriebe von der mexikanischen Grenze nach Shenzhen verlagert.

Wirtschaft auf Pump

Ausländisches Kapital hat das US-Defizit 45 Jahre lang finanziert — das war der Preis für den Zugang zum riesigen US-Binnenmarkt. Gegenmaßnahmen gegen den steilen Niedergang des Dollars sind bis heute ausländische Direktinvestitionen in die USA (teilweise um den möglichen Protektionismus einiger Sektoren der US-Wirtschaft und auch von Teilen der Gewerkschaften zu umgehen), und die Repatriierung der Profite aus den nach wie vor bedeutenden US-Anlagewerten im Ausland.
Keine noch so große Anstrengung, den wirtschaftlichen Nidergang der USA seit den 50er Jahren zu verstehen, kann den zunehmend fiktiven Charakter der US-Wirtschaft als Ganzes länger verbergen, die von außen mit dem Spruch gestützt wird, sie sei »zu groß, um zu scheitern«.
Ein Indikator zeigt diesen Trend besser an als jeder andere: Tobin‘s Q — das bürgerliche Konzept, das sich ausdrückt im Verhältnis des laufenden Werts aller Kapitalanlagen zu den Kosten ihrer Erstattung zu heutigen Preisen. Eine Studie zeigt, dass dieses Verhältnis das gesamte 20.Jahrhundert hindurch bis 1995 um den Wert 1 schwankte — mit offenkundigen Abweichungen unter 1 in der (deflatorischen) Zeit der Depression und über 1 in der (inflatorischen) Boomzeit der 60er und 70er Jahre. Von 1995 bis 2002 ist Tobin‘s Q für US-Kapitalanlagen auf den schwindelerregenden Wert von 2,11 gestiegen. Kredit hat diesen enorm inflationierten Wert der Kapitalanlagen möglich gemacht und er wurde von ausländischen Anlegern bereit gestellt.
Diesem Anstieg entsprach in denselben Jahren ein ähnlicher Anstieg des Dollars — nach der Phase des billigen Dollars zwischen 1985 und 1995. Ausländische Investitionen in Dollar-Anlagen nach 1995 kamen einem »himmlischen Kreis« gleich, da hohe Gewinne durch den Anstieg der Aktienkurse durch einen stetigen Anstieg des Dollars noch ergänzt wurden.
Vom Jahr 2000 an aber verwandelte sich der himmlische Kreis in einen Teufelskreis: die Aktienkurse kollabierten und der Wert des Dollars sank — somit verlor ein ausländischer Anleger an beiden Enden. Im Jahr 2002 hatten ausländische Direktinvestitionen in die USA ein negatives Ergebnis; der Vorsitzende der Europäischen Zentralbank, Wim Duisenberg, fragte sich laut, ob der »unvermeidliche« Niedergang des Dollars Zeichen für einen graduellen Rückzug oder für globale Panik sei.

Krisenpolitik

Das ist aber nur die »ökonomische« Seite; wir müssen in der Kritik der politischen Ökonomie auch die »politische« Seite betrachten, um zu verstehen, wie lange die USA noch in der Lage sein werden, den Rest der Welt für ihren Niedergang zur Kasse zu bitten. Erfolg oder Scheitern bei diesem Unterfangen wird auch die Dauer des derzeitigen Aufschwungs »ohne Arbeitsplätze« beeinflussen.
Das grundsätzliche Problem des US-Kapitalismus ist, die Masse an »fiktivem Kapital«2 weltweit zirkulieren zu lassen, die sich am unmittelbarsten in den 2 Billionen Auslandsschulden verkörpert. Dieses Kapital wurde in 45 Jahren subventionierter Dollar-Hegemonie aufgebaut, die ihm ermöglicht hat, es durch Extraktion eines entsprechenden Teils von Mehrwert zu verwerten.
Hier liegt der Schlüssel zur US-Außenpolitik begraben; sie zielt darauf ab, alle noch bestehenden Barrieren für eine profitable Verwertung niederzureißen. Maßnahmen dazu waren bislang:
ndie neoliberale Politik des IWF und der Weltbank, für die vier Milliarden Menschen in der Dritten Welt zur Ader gelassen wurden;
ndie Öffnung des vormaligen sowjetischen Blocks und damit riesiger Naturvorkommen für eine Plünderung in bisher unerreichtem Ausmaß — dies hat (allein im Fall Russlands) zum größten Bevölkerungsrückgang in Friedenszeiten in der modernen Geschichte geführt;
ndie Öffnung von China, dessen Wirtschaft nach zwanzig Jahren jährlichen Wachstums von 8—10% nun Gefahr läuft, seine Wirtschaft durch die Absorption so vieler überschüssiger Dollars zu »überhitzen«;
ndie Gründung von NAFTA, der Freihandelszone mit Kanada und Mexiko, die jetzt auf ganz Lateinamerika ausgedehnt werden soll.
Die US-Politik klopft nun an die Tore der verbleibenden Handelsblöcke, Europa und die asiatischen Industriemächte, die der neoliberalen Plünderung von Anlagen durch shareholder value, die in den USA selbst den Niedergang nach 2000 herbeigeführt hat, noch Widerstand entgegensetzen. Die USA haben in der Asienkrise 1997/98 große Vorteile errungen, indem sie Südkorea und andere Staaten zu »Reformen« gezwungen haben. Aktuelle Studien schätzen, dass bis 2015 3,3 Millionen Dienstleistungsjobs aus den USA nach Indien abwandern werden, und das Land dadurch, neben China, zum kommenden Objekt der Plünderung werden wird.
Die USA haben auch einen wichtigen Fuß nach Eurasien setzen können — mit Truppen von Georgien bis Usbekistan, während Polen und Rumänien sich einverstanden erklärt haben, US-Basen aufzunehmen. Sie streben an, Europa, Russland, Indien, China und Japan im Ungleichgewicht zu halten — und damit empfänglich für die Bedürfnisse der »einzig übriggebliebenen Supermacht« der Welt.
Solange die EU nicht eine eigene politische und militärische Macht entwickelt, die ihrer Wirtschaftsmacht entspricht, bleibt das größte Hindernis für diese US-Strategie (den Rest der Welt für ihren wirtschaftlichen Niedergang zur Kasse zu bitten) Asien, genauer gesagt China. Mehrfach haben asiatische Mächte seit der Krise von 1997/98 den Versuch unternommen, einen Handelsblock ähnlich wie EU oder NAFTA aufzubauen: also eine Zollunion, eine asiatische Währung und so etwas wie einen asiatischen Währungsfonds, der vom IWF unabhängig ist. Die Japaner haben für letzteres Vorschläge gemacht, die von den USA aber niedergeschlagen wurden.
Es ist offenkundig, dass der letztendliche Einsatz, um den es bei dieser Strategie geht, das Aufbrechen der Abhängigkeit vom Zugang zu den US-Märkten und von der Akkumulation von Dollars im Austausch mit Waren ist. Die USA haben sich über solche Versuche verschiedentlich lächerlich gemacht, es ist ihnen aber auch immer wieder gelungen, mit Hilfe von Großbritannien, der NATO, der Kriege in Afghanistan und im Irak die europäische Einigung zu behindern.

Loren Goldner

Der Autor lebt bei New York. Der Beitrag erschien in der US-Zweimonatszeitschrift Against the Current, Nr.108, Januar/Februar 2004 (www.solidarity- us.org). (Übersetzung: Angela Klein.)

Anmerkungen

1. Eine durch aggressiv expansive Geldpolitik bewusst herbeigeführte Inflationierung, um Deflation zu verhindern.
2. »Fiktives Kapital« nennt Marx das Geldkapital, das nicht als Kapital verausgabt, angelegt, also in einen sich erhaltenden Wert verwandelt werden kann (siehe MEW 25, S.482—487).


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