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Als die berauschte Menge 1989 die Berliner Mauer niederriss, wähnten sich viele vor einem Jahrhundert grenzenloser
Freiheit. Globalisierung, so nahm man an, würde eine Ära beispielloser physischer und virtuell elektronischer Mobilität einleiten. Stattdessen
errichtete der neoliberale Kapitalismus umgehend das in der Geschichte größte Hindernis freier Bewegung. Die große Mauer des Kapitals, die
wenige Dutzend reiche Länder von der armen Mehrheit der Weltbevölkerung trennt, lässt den alten Eisernen Vorhang ausgesprochen klein
erscheinen. Sie umschließt die Hälfte der Erde, umriegelt mindestens 12000 Kilometer Landgrenzen und ist unvergleichlich tödlicher
für verzweifelte Grenzgänger.
Anders als bei der chinesischen Großen Mauer ist diese neue Mauer nur teilweise aus dem Weltall sichtbar. Auch wenn sie traditionelle
Schutzwälle wie die mexikanische Grenze zu den USA und mit Stacheldraht abgezäunte Minenfelder wie die zwischen Griechenland und der
Türkei einbezieht, findet die heutige Abwehr globaler Immigration zumeist auf See oder in der Luft statt. Grenzen sind heute ebenso digital wie
geografisch. So wird bspw. in der Festung Europa das Kontrollsystem von Schengen verbessert und ergänzt durch ein Datensystem mit dem
düsteren Namen »Prosecur«; es wird die Grundlage eines gemeinsamen Systems von Grenzpatrouillen bilden, das mit Hilfe der neu
eingerichteten europäischen Grenzschutzkommandos durchgesetzt wird.
Die EU hat bereits mehrere Millionen Euro ausgegeben, um den sog. elektronischen Vorhang
entlang ihrer erweiterten Ostgrenzen zu verstärken und die Überwachungssysteme für die Meerenge von Gibraltar zu verfeinern, damit Afrika
bei sich bleibt.
Der britische Premierminister Blair drängte jüngst seine europäischen
Kollegen, die europäische Grenzverteidigung in das Herz der Dritten Welt vorzuverlagern. Er schlug eine sog. »Schutzzone« in zentralen
Konfliktzonen Afrikas und Asiens vor, in denen potenzielle Flüchtlinge jahrelang unter unbeschreiblichen Zuständen interniert werden
können sollen. Sein Vorbild ist dabei offensichtlich Australien, wo der rechte Premierminister John Howard den elenden kurdischen, afghanischen und
timoresischen Flüchtlingen den offenen Krieg erklärt hat.
Nach der Welle von Aufständen und Hungerstreiks von Immigranten im letzten Jahr, die
auf unbestimmte Zeit in verlassenen, grässlichen Löchern wie im südaustralischen Woomera festgehalten werden, setzt Howard nun die
Marine ein, um Flüchtlingsschiffe bereits in internationalen Gewässern abzufangen und sie in Lagern auf Nauru oder auf den von Malaria
verseuchten Manusinseln vor Papua-Neuguinea unter Bedingungen zu internieren, die noch grauenhafter sind.
Laut Guardian hat Blair Möglichkeiten geprüft, den Schmuggel von
Flüchtlingen mit Hilfe der Royal Navy schon im Mittelmeer zu verhindern und der Royal Air Force zu ermöglichen, Immigranten in deren
Heimatländer zu deportieren.
Wenn die gewaltsame Grenzsicherung auch weit nach draußen verlagert wird, so ist sie
doch auch in viele »Vorgärten« gelangt. Die Bewohner des Südwestens der USA sind seit langem mit Verkehrsstaus an
Kontrollpunkten konfrontiert, die weit entfernt von der Grenze im Binnenland liegen. Und auch in der EU werden Stop-and-search-Operationen gang und
gäbe, wobei Deutschland den Vorreiter spielt.
Im Ergebnis verschwinden immer schneller selbst begriffliche Unterscheidungen zwischen
Grenzschutz und Polizei oder zwischen Immigrationspolizei und dem »Krieg gegen den Terrorismus«. Europäische »No-
border«-Aktivisten haben schon lange davor gewarnt, dass die Orwellschen Überwachungssysteme, die dazu dienen sollen, Nicht-EU-Fremde
aufzuspüren und zu deportieren, unvermeidlich auch gegen lokale Antiglobalisierungsbewegungen angewandt werden. Mit der gleichen Angst und
Abscheu beobachten in den USA Gewerkschaften und Latinogruppen Pläne der Republikaner, eine Million örtlicher Polizisten zu Spezialisten
für die Durchsetzung der Einwanderungsbestimmungen auszubilden (Alabama und Florida haben bereits Pilotprogramme beschlossen).
Währenddessen nimmt der menschliche Aderlass an den Grenzen der neuen
Weltordnung unentwegt zu. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen sind an den Grenzen Europas seit 1993 annähernd 4000 Immigranten und
Flüchtlinge gestorben: ertrunken im Meer, explodiert auf Minenfeldern oder erstickt in Frachtcontainern. Hunderte, vielleicht Tausende, sind bei
verzweifelten Versuchen umgekommen, die Sahara zu durchqueren. Das Komitee der amerikanischen Quäker, die das Gemetzel entlang der
mexikanischen Grenze beobachten, schätzt, dass eine vergleichbare Anzahl von Immigranten (30005000) in den Glutwüsten des
Südwestens gestorben ist.
Vor dem Hintergrund von soviel Inhumanität erscheint der jüngste Gesetzentwurf des Weißen Hauses, der jüngst medienwirksam
am Vorabend des panamerikanischen Gipfels verkündet wurde, Immigranten ohne Papiere einen zeitlich befristeten Gastarbeiterstatus zu gewähren,
als eine Geste des Erbarmens im Gegensatz zur Herzlosigkeit Europas oder zum Kryptofaschismus Australiens.
Tatsächlich ist dies eine Initiative, die vollendeten Zynismus mit rücksichtslosem
politischem Kalkül verbindet. Das Bush-Vorhaben ähnelt dem infamen Bracero-Programm der frühen 50er Jahre; es würde eine
Subkaste von Billiglöhnern legalisieren, ohne dass den auf 57 Millionen geschätzten, bereits in den USA »illegal« Arbeitenden
die Möglichkeit gegeben wird, eine unbegrenzte Aufenthalts- oder Einwanderungsgenehmigung zu erhalten.
Mühselig Arbeitende ohne Wahlrecht und ohne permanente Aufenthaltsgenehmigung
waren schon immer die republikanische Utopie. Das Bush-Vorhaben würde Walmart und McDonalds mit einem stabilen und unbegrenzten
Angebot an ausgebildeten Arbeitskräfte versorgen. Es würde auch dem Neoliberalismus südlich der Grenze einen Rettungsanker liefern. Ein
Jahrzehnt Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) hat das geben selbst ehemalige Unterstützer heute zu ebenso viele Jobs
zerstört wie geschaffen wurden.
Tatsächlich hat die mexikanische Wirtschaft vier Jahre lang massenhaft
Arbeitsplätze vernichtet; die Beschäftigungsaussichten werden in der Wirtschaftspresse als »entsetzlich« beschrieben. Das Vorhaben
des Weißen Hauses bietet Mexikos Staatspräsident Vincente Fox ein wichtiges ökonomisches Sicherheitsventil für die von den US-
amerikanischen Getreideimporten verdrängten Landarbeiter. Es gibt Bush auch die Gelegenheit, Latino-Wechselwähler im Südwesten
für die Novemberwahlen zu umwerben. Karl Rove (die graue Eminenz des Präsidenten) rechnet fest damit, dass das Gesetzesvorhaben herrlich viel
Unordnung und Konflikte zwischen Gewerkschaften und liberale Latinos säen wird.
Schließlich würde ein finsterer Nebeneffekt das Angebot
befristeter Legalität »illegale« Arbeiterinnen und Arbeiter an die Öffentlichkeit zerren, wo das Ministerium für Heimatschutz sie
identifizieren, kennzeichnen und beobachten kann. Weit davon entfernt, ein Loch in die Große Mauer zu schlagen, schließt es eine Lücke und
sorgt für eine noch systematischere und durchgreifendere Politik menschlicher Ungleichheit.
Mike Davis
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