SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2004, Seite 21

Eine neue Trotzki-Biografie

Pierre Broué: Trotzki. Eine politische Biographie, Köln: Neuer ISP Verlag, 2003, 2 Bände, 1292 Seiten, 90 Euro

Leo Trotzki steht für die unabgegoltene Vergangenheit des freiheitlichen europäischen Sozialismus, also auch für dessen mögliche Zukunft. Er steht ebenso für den Versuch, das revolutionäre Russland als Vorposten der Weltrevolution mit allen dafür geeigneten Mitteln gegen innere und äußere Gegner zu verteidigen. Biografen und Interpreten werden sich noch lange mit Leben und Schriften dieses revolutionären Marxisten beschäftigen.
Pierre Broué ist ein Veteran der französischen trotzkistischen Bewegung und der führende Historiker der mit dem Namen Trotzkis verknüpften Strömung der Arbeiterbewegung. Dem deutschen Publikum vor allem durch seine Geschichte des spanischen Bürgerkriegs (Frankfurt/M. 1968) und die der deutschen Revolution (Berlin 1973) bekannt, hat er im vergangenen Vierteljahrhundert sowohl die bisher 27 Bände umfassende, französische Ausgabe der Schriften Trotzkis aus den Jahren 1928—1940 herausgegeben, als auch die Cahiers Léon Trotsky, die international wichtigste Fachzeitschrift auf diesem Gebiet. Seine 1988 veröffentlichte Trotzki-Biografie, die nun auch in deutscher Sprache vorliegt, hat er inzwischen ergänzt durch die beiden Biografien von Trotzkis (jüngerem) Sohn und Mitarbeiter der 30er Jahre, Leo Sedow, und von Trotzkis Freund, dem führenden Kopf der russischen Linken Opposition in den Jahren 1929—1934, Christian G. Rakowski.
Broués Trotzki-Biografie ist eine überaus nützliche, höchst informative Ergänzung der »klassischen« Biografie von Isaac Deutscher. Leider lassen die deutsche Übersetzung des Buches und die Präsentation des wissenschaftlichen »Apparats« sehr zu wünschen übrig. Verlag und Herausgeber der deutschen Ausgabe haben offensichtlich auf eine abschließende redaktionelle Kontrolle verzichtet. Deren Ertrag wären die Vereinheitlichung der Schreibweisen und der Nomenklatur, die Einfügung des Wortlauts bereits vorliegender Übersetzungen bei den Zitaten und die Eliminierung vieler unfreiwillig komischer Passagen und baren Unsinns gewesen…
Beide Autoren, Broué und Deutscher, haben von Trotzki das historische und politische Denken gelernt. Deutschers drei Bände waren bei ihrem Erscheinen eine Sensation. Sie wurden in dem Jahrzehnt nach Stalins Tod — in den Jahren 1954, 1959 und 1963 — veröffentlicht und stellten den verfemten und vergessenen Revolutionär und seine Theorien der Nachkriegsjugend vor. Der Autor hoffte damals auf eine Radikalisierung der von Chruschtschow zögernd begonnenen »Entstalinisierung«. Nach den Jahrzehnten des Stalin‘schen Terrors traute er nur der sowjetischen Bürokratie und ihrer politischen Agentur, der millionenstarken KPdSU, die Fähigkeit zum Handeln, zu einer Reform von Staat und Wirtschaft zu. Er war überzeugt, sie werde das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln, die Quelle ihrer Privilegien, verteidigen. Wir wissen es besser: Die Hoffnung auf ein Wiederaufleben der »unvollendeten« russischen Revolution, die auch bei Broué noch anklingt, hat getrogen.
Der im Verhältnis zu Deutscher zwanzig Jahre jüngere Autor schrieb seine Trotzki-Biografie in der Ära Gorbatschow, am Vorabend der Auflösung der KPdSU und der Sowjetunion. Sie erschien in dem Jahr, in dem die meisten Angeklagten des 3.Moskauer Schauprozesses von 1938 — darunter Rakowski und Bucharin — »rehabilitiert« wurden, womit das ganze Lügengebäude der stalinistischen Ideologie in sich zusammenstürzte. Deutscher schrieb seinen »Trotzki« vor 50 Jahren in der Erwartung, ein zu seinen revolutionären Anfängen von 1917 zurückfindendes Russland und eine sich erneuernde kommunistische Weltbewegung würden sich wieder an Trotzkis Ideen orientieren. Dessen Versuchen, in den 30er Jahren zuerst eine internationale Linke Opposition gegen den Stalinismus, dann (seit 1933) eine neue, IV.Internationale ins Leben zu rufen, stand er skeptisch gegenüber.
Broué hingegen geht es vor allem um die Rekonstruktion von Trotzkis politisch- organisatorischer Praxis in den 20er und 30er Jahren. Das Neue, das seine Biografie im Vergleich zu derjenigen von Deutscher bietet, findet sich dementsprechend in den Kapiteln, die der Entstehung und Geschichte der russischen und der internationalen Linken Opposition gewidmet sind, dem gescheiterten, mit dem Namen Rjutin verknüpften Versuch verschiedener Oppositionsgruppen, 1932 gegen Stalin Front zu machen, der Ausrottung der sowjetischen Opposition während des großen Terrors (1938) und der Geschichte der internationalen trotzkistischen Bewegung in den 30er Jahren.
Der Historiker Deutscher war ein bedeutender Erzähler; Broué, der sich oft an ihm reibt, ist ein enthusiastischer Chronist. Deutscher ließ in seiner Biografie Trotzki und mit ihm Politik und Kultur einer ganzen Epoche wieder auferstehen. Broué hingegen engt den Horizont seiner Darstellung auf Leben und Politik Trotzkis und seiner Gefährten ein. Wir wissen, dass der Mensch »nicht von ›Politik‹ allein« lebt, und dass der durch und durch politische Mensch Trotzki schon gar nicht in der Politik aufging. Doch der marxistische Theoretiker und der Literat, der Historiker und der Kritiker Trotzki kommen nur selten und gleichsam zögernd in das Bild, das Broué für uns malt. Er präsentiert uns einen Trotzki, in dessen geistiger Welt Labriola und Freud, Pasternak, Pilnjak und Jessenin kaum eine Rolle spielen. Die vielversprechenden Kapitel über Trotzki als Schriftsteller, über seine Begegnungen mit John Dewey oder mit André Breton sind für den interessierten Leser eher enttäuschend.
Der Horizont der Ära 1900— 1940 wird in Broués Biografie eigentlich nicht überschritten. Die Chance, aus der Konstellation, in die unsere Gegenwart mit der ersten Hälfte des barbarischen 20.Jahrhunderts getreten ist, neue Einsichten zu gewinnen, wird kaum genutzt. Die Frage, warum das stalinistische Lagersystem, das wir mit Solschenizyn den »Archipel GULag« nennen, in Trotzkis Schriften eigentlich keine Rolle spielt, beunruhigt seinen Biografen nicht. Andere Fragen von beträchtlichem Interesse werden aufgeworfen, aber gleich wieder fallengelassen. So verhält es sich etwa mit der Frage, warum Trotzki partout als »treuester Schüler« Lenins erscheinen wollte, oder mit der anderen, welche Bedeutung Trotzkis Bemerkung vom September 1939 beizumessen ist, die historische Alternative bestehe darin, ob »das Stalin‘sche Regime« ein »hässlicher Rückfall« oder die erste Etappe einer neuen Ausbeutergesellschaft sei.
Wer über Trotzki und die trotzkistische Bewegung Bescheid wissen will, der sollte zuerst Mein Leben lesen und dann die beiden großen Biografien von Deutscher und Broué.

Helmut Dahmer

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