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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2004, Seite 6

Das »Wunder von Schwäbisch Hall«

Bürgerengagement verhindert Naziaufmarsch

Für Anfang März hatte die »Bewegung deutsche Volksgemeinschaft«, eine militante Rechtsabspaltung der NPD mit dem ehemaligen JN-Landesvorsitzenden in Baden-Württemberg Lars Käppler an der Spitze, eine Demonstration in Schwäbisch Hall angemeldet. Hauptredner der Abschlusskundgebung sollten neben Käppler die beiden bundesweiten Nazigrößen Christian Worch und Günter Deckert sein.
Anlässlich der im Frühjahr 2003 in Schwäbisch Hall gezeigten Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« hatte es drei Nazidemonstrationen gegeben. Zweimal konnten Neonazis unter starkem Polizeischutz in der Innenstadt Kundgebungen durchführen. Damals hatte sich der Protest gegen die Nazis weitgehend auf das linke Spektrum beschränkt. Aus etablierten Kreisen (SPD, Kirchen, Stadtverwaltung) hatten sich nur ein paar Alibifiguren an den Protesten beteiligt. Die überwiegende Mehrheit hatte sich in Untätigkeit geübt, nicht zuletzt deshalb, weil ein Teil der Bevölkerung gegen die Wehrmachtsausstellung war und diese, wenn auch selten offen ausgesprochen, boykottierte. Deshalb wurde das eigene Nichtstun euphemistisch verbrämt durch die Floskel: »Man muss die Nazis ins Leere laufen lassen.«

Von der Mobilisierung…

Es dauerte nicht lange, nämlich bis Oktober 2003, bis die Gruppe um Käppler sich erneut in Schwäbisch Hall ansagte. Für den 6.März wurde nun eine Demonstration plus Kundgebung auf dem historischen Schwäbisch Haller Marktplatz angemeldet. Dieser Marktplatz ist ein Kleinod der Stadt und zudem ein Symbol für die nazistische Terrorherrschaft in der Stadt. Dort ist eine Erinnerungstafel an die in der Reichspogromnacht 1938 verübten Gewalttaten der Nazis in den Boden eingelassen.
Die Vorstellung, dass Nazis womöglich auf dieser Tafel herum trampeln würden, rief in der ganzen Stadt Empörung hervor. Es wurden nicht nur die Linken aktiv, sondern auch die Stadtverwaltung mit dem Oberbürgermeister an der Spitze. Er lud alle maßgeblichen Organisationen, Verbände und Parteien zu einem »runden Tisch« ein, der darüber beratschlagen sollte, was zu tun sei. Erstes Ergebnis der Runde war eine Unterschriftenliste gegen den Naziaufmarsch, die wohl für stringentes linkes Denken nicht gerade eine Erleuchtung war, aber von allen maßgeblichen Kreisen der Stadt unterstützt wurde. Sie lag in allen Geschäften und öffentlichen Einrichtungen aus. Innerhalb von ca. drei Wochen unterschrieben knapp 13000 Menschen die Petition — immerhin ein Drittel der gesamten Einwohnerschaft. Sicherlich war es so, dass viele der Unterzeichnenden meinten, sie hätten jetzt ihren Beitrag geleistet. Und viele waren wohl der Meinung, dass die Gerichte angesichts so vieler Unterschriften nicht umhin kämen, den geplanten Aufmarsch der Neonazis zu verbieten.
Groß war deswegen die Empörung, als zunächst das Verwaltungsgericht Stuttgart und dann auch der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim den Nazis fast ohne Einschränkungen Recht gab.
In dieser kniffligen Situation war die Frage, wie sich Stadtspitze und Honoratioren verhalten würden, und die Linken brachten das »Freiburger Modell« ins Gespräch. Dort hatten sich ca. 10000 Menschen am Hauptbahnhof, dem Abmarschpunkt einer NPD-Demonstration eingefunden und die Nazis dort blockiert. In dieser Situation hatten sich Ordnungsamt und Polizeieinsatzleitung für außer Stande erklärt, den Nazis den Weg frei zu machen. Nach einigem Zögern schloss sich auch der Prominentenkreis dieser Haltung an. Es wurde nicht zur Blockade aufgerufen, sondern es hieß sybillinisch: Alle sollten sich gegen 12 Uhr auf dem Marktplatz einfinden und schauen, »wer sonst noch da ist«. Selbst das örtliche Monopolblatt, das sonst eher wegen seiner neoliberal großbürgerlichen Schieflage bekannt ist, brachte am Samstag den 6.März ein Interview mit einem Verwaltungsexperten zum Thema Versammlungsrecht, dessen Überschrift lautete: »Der Marktplatz ist für Haller Bürger nicht tabu.«

…zur Besetzung

So geschah am 6.März das kleine Wunder, das die wenigen Linken in dieser Stadt acht Wochen zuvor für absolut unmöglich gehalten hätten. Etwa 2000 Menschen, unter ihnen viele maßgebliche Persönlichkeiten in der Stadt, Ärzte, Vertreter der Parteien einschließlich der CDU, Schuldirektoren und Lehrern des Goetheinstituts, Chefs von Verbänden wie der AWO usw., fanden sich auf dem Marktplatz ein, um de facto eine Marktplatzbesetzung zu machen — auch wenn das offiziell nicht so genannt wurde. Mit 2000 Teilnehmenden waren im Übrigen gerade so viele Menschen gekommen wie man bei den Vorfeldgesprächen für die Durchführung des Freiburger Modells für notwendig gehalten hatte.
Als gegen 15 Uhr die auf dem Marktplatz versammelten Menschen von der Polizei aufgefordert wurden, die linke Seite des Platzes für die Nazis frei zu machen, war ein schallendes Pfeifkonzert die Reaktion. In der Folge wurden selbst örtliche Honoratioren in der ersten und zweiten Reihe untergehakt gesehen, um den Platz zu schützen. Bei seiner Aufforderung zur Räumung hatte der Polizeisprecher die Formulierung benutzt: »Sie haben sich zu einer spontanen Kundgebung versammelt…« Hätte die Polizei räumen wollen, hätte es geheißen: »Sie haben sich zu einer nicht genehmigten Versammlung zusammengefunden.«
Nachdem die Leute standhaft geblieben waren, kam gegen 16 Uhr tatsächlich die Durchsage, dass die Polizei den Nazis nicht die Auftaktkundgebung auf dem Marktplatz ermöglicht werde. Unter Berufung auf den starken Bürgerwiderstand konnte die Stadtspitze in Verhandlungen mit der Polizei offenbar erreichen, dass diese auf eine Räumung des Marktplatzes zugunsten der Neonazis verzichtete. Grund zum Jubel hatten die Leute allerdings erst um 19 Uhr. Bis dahin mussten sie noch auf dem Marktplatz ausharren, weil ansonsten die Nazis ihre ebenfalls für den Marktplatz angemeldete Schlusskundgebung hätten durchführen können.
In der Zwischenzeit hatten 200 bis 250 Antifaschisten an anderer Stelle die geplante Route der Nazis blockiert, so dass diese keine Möglichkeit hatten, die Blockade zu umgehen. Nur wenn die Polizei für die Nazis die Blockade der Antifaschisten abräumte, konnten die Nazis ihre angemeldete Route ablaufen. Im Gegensatz zu ihrem Deeskalationsverhalten gegenüber den Marktplatzbesetzern, praktizierte die Polizei dort eine brutale Knüppel-frei-Strategie.

Nachspiel Knüppeleinsatz

Mehrfach stürmten Polizeieinheiten gegen die Blockierer vor. Hemmungslos wurde vom Knüppel Gebrauch gemacht. Im Laufe der Zeit trafen auf dem Marktplatz immer wieder Leute mit blutenden Kopfverletzungen ein. Von einer Frau ist bekannt, dass sie durch gezielte Tonfastöße (Tonfa sind besondere Schlagstöcke der Polizei) Rippenbrüche erlitt. Nachdem sich die Blockierer auf die Straße setzten, versuchte die Polizei erst gar nicht, sie wegzutragen. Statt dessen traktierten einige Beamte Sitzende mit Fußtritten. Es wird sogar berichtet, dass sogar berittene Polizisten mit ihren Pferden in die Sitzenden hinein gingen. Trotz dieses brutalen Einsatzes gelang es der Polizei nicht, den Nazis den Weg frei zu machen. Offenbar um sich dafür zu rächen, bildete die Polizei schließlich einen Kessel. Über 250 Antifaschisten wurden festgenommen und zur erkennungsdienstlichen Behandlung abtransportiert. Gegen sie wird wegen Landfriedensbruch ermittelt.
Wenn weite Teile der Bürgerschaft einer Stadt sich wirklich engagieren und die Stadtspitze mitzieht, ist es durchaus möglich, vorher von Gerichten juristisch abgesegnete Naziaufzüge zu unterbinden. Am 6.März fügten sich auch die Leute aus der Antifaszene gut in den Aktionsrahmen ein, indem sie von sich aus auf unnötige Scharmützel mit der Polizei verzichteten. Die Antifas taten bei ihrer Straßenblockade im Grunde nichts anderes als die Honoratioren und die Masse der Bürger auf dem Marktplatz. Beide Gruppen setzten mit dem Mittel des zivilen Ungehorsams durch, dass das nicht passiert, was ihnen nicht passt. Und beide machten deutlich, dass sie sich von Unrechtsurteilen von Gerichten nicht die Hände binden lassen.
Letztendlich richtete sich der brutale Polizeieinsatz nicht nur gegen die Antifas. Er war zugleich ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Adresse der 2000 Marktplatzbesetzer nach dem Motto: »Wir können auch anders.«

Franz Mayer

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