SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2004, Seite 15

Haiti

Brandstifter als Feuerwehr

Als vor 200 Jahren, am 1.Januar 1804, Jean-Jacques Dessalines nach dem Sieg seines Sklavenheeres über die französischen Kolonialtruppen die Unabhängigkeit Haitis proklamierte, erkannte Frankreich diese nicht an und betrieb die internationale Isolierung der neuen Republik. Auch die USA verweigerten die Anerkennung. Erst als die haitianische Regierung 1825 den enteigneten Plantagenbesitzern und Sklavenhaltern eine finanzielle Entschädigung von 150 Millionen Francs und Zollpräferenzen für französische Waren zusagte, erkannten Frankreich und die USA die karibische Republik an. Von dem Geldtransfer an Frankreich erholte sich Haiti wirtschaftlich nie. Auf eine Entschädigung für 200 Jahre Zwangsarbeit warten die Haitianerinnen und Haitianer bis heute. Zwischen 1915 und 1934 war Haiti von US-Truppen besetzt und damit faktisch rekolonisiert

Aristide und die soziale Bewegung

1984 war die seit 30 Jahren in Haiti herrschende Duvalier-Diktatur durch einen Volksaufstand gestürzt worden. In den folgenden Jahren versuchten verschiedene zivile und militärische Machthaber vergeblich, das Land zu befrieden. Es formierten sich vielfältige soziale und politische Organisationen, die grundlegende politische Veränderungen einforderten. Bei den Präsidentschaftswahlen 1990 trat der ehemalige Armenpriester Aristide als Kandidat einer breiten linken Front an. Seine Bewegung Lavalas (kreolisch: Erdbeben) wurde von der großen Mehrheit der Haitianerinnen und Haitianer unterstützt. Aristide gewann die Wahlen und übernahm das Präsidentenamt. Die kleine Oberschicht stand Aristide von Anfang an feindlich gegenüber, erst recht als sie Steuern zahlen sollte und die Regierung die Anhebung des Mindestlohns und Importbeschränkungen bei Luxuskonsumgütern verfügte.
1991 wurde Aristide durch einen Militärputsch gestürzt. Es folgten drei Jahre Diktatur mit massiver Repression gegen die soziale Bewegung. Die meisten Morde gingen auf das Konto der FRAPH, einer von den Militärs initiierten paramilitärischen Organisation. Trotz der Repression gelang es den Streitkräften und der FRAPH nicht, Lavalas zu zerschlagen.
Anders als bei früheren Militärputschs in Lateinamerika ging die US-Regierung auf Distanz zu den Putschisten. Die Clinton-Administration bot Aristide Asyl an und unterstützte das UN-Wirtschaftsembargo gegen die Diktatur. Gleichzeitig handelte sie mit Aristide Bedingungen für dessen Rückkehr aus. 1994 landeten US-Truppen in Haiti und setzten den gewählten Präsidenten wieder ein — allerdings unter der Bedingung, dass er ein halbes Jahr später, nach dem Ablauf der offiziellen Amtsperiode, sein Amt niederlegte und nicht erneut kandidierte. Die Clinton-Regierung wollte die Form wahren: Den gewählten Präsidenten wieder ins Amt bringen, aber gleichzeitig den linken Aristide und — so US-Geheimdienstler — »die Typen aus den Slums« loswerden.
Seitens der US-Regierung und der europäischen Sozialdemokratie war eine neue politische Elite schon während der Diktaturzeit vorbereitet worden: die modernistischen Teile von Lavalas, ehemalige Kader linker Gruppen, die die Zeichen der Zeit erkannt hatten und Haiti nach den Vorstellungen des IWF »modernisieren« sollten. Er lehnte es ab, sich aus der Politik zurückzuziehen und setzte stattdessen auf seine Popularität und die »Typen aus den Slums«. Im Gegensatz zu den Modernisierern hatte er weiterhin eine breite politische Basis. 1995 ließ er seinen Gefolgsmann René Préval zum Präsidenten wählen, 2000 kandidierte er dann selbst und wurde gewählt.

Folgen der US-Invasion 1994
Als er von den US-Truppen zurück an die Regierung gebracht wurde, hatte Aristide nicht nur akzeptiert, dass er wenig später den Präsidentensessel räumen sollte, sondern auch einem rigorosen Strukturanpassungsprogramm zugestimmt, das Zollsenkungen, Lohnstopp und Privatisierungen vorsah, um die Schuldenrückzahlungen zu garantieren. Diese Kröten wurden von der radikalen Linken und der einflussreichen Basiskirche ebenso kritisiert, wie die Errichtung einer Freihandelszone in Maribaroux an der haitianisch-dominikanischen Grenze. Bei Löhnen von umgerechnet 1,30 Euro am Tag, sind dort gewerkschaftliche Rechte außer Kraft gesetzt.
Allerdings wurden die geforderten Privatisierungen von Aristide und Préval nur zum kleineren Teil umgesetzt. Ein großer Konflikt entspann sich etwa um die Privatisierung der haitianischen Telekom. Aristide und Préval verhinderten den kompletten Verkauf der Telekom, nur einige Teilbereiche wurden privatisiert. In den Bereichen, wo privatisiert wurde, wurde gemauschelt, Schmiergelder flossen und es kamen die zum Zuge, die die besten Beziehungen zur Regierung hatten.
Durch seinen Sieg im Machtkampf mit den Modernisierern und seiner »fehlende Kooperationsbereitschaft« in der Frage der Privatisierungen zog sich Aristides Regierung den Unmut der EU und vor allem der US-Administration zu. Nach dem Amtsantritt George W. Bushs begannen dessen Lateinamerikastrategen, die sich ihre Meriten in den 80er Jahren bei der Destabilisierung des sandinistischen Nikaragua verdient hatten, eine Kampagne gegen Aristide.
Auf politischer Ebene wurde ihm ein autokratischer Regierungsstil und Korruption vorgeworfen. Überhaupt seien die Wahlen 2000 manipuliert gewesen. Wie in solchen Fällen üblich, plapperten die internationalen Nachrichtenagenturen die Behauptungen eins zu eins nach. Gleichzeitig wurde die Opposition finanziert. Diese rekrutierte sich aus ehemaligen Parteigängern der Duvalier-Diktatur, Unternehmern, kleineren bürgerlichen Parteien und den von Aristide ausgebooteten Modernisierern, die sich in verschiedenen sozialdemokratischen oder vorgeblich linken Parteien organisierten. Alleine über das International Republican Institute (IRI) in Washington flossen der Opposition jährlich 3 Millionen Dollar zu.
Auf ökonomischer Ebene blockierte die US-Regierung die zur Umsetzung von Aristides Regierungsprogramms benötigten internationalen Kredite, wie 512 Millionen Dollar der Interamerikanischen Entwicklungsbank, oder sie erreichten ihre Reduktion, wie bei den Geldern der Weltbank. Auch die EU drehte Haiti den Geldhahn zu.
Schließlich kooperierte der US-Geheimdienst mit ehemaligen haitianischen Militärs (die Armee war 1994 abgeschafft worden) und Angehörigen der FRAPH, die von der Dominikanischen Republik aus militärische Aktionen gegen Haitis Regierung unternahmen: Attentate gegen Funktionäre der Aristide-Partei Fami Lavalas, Putschversuche und ab Ende 2003 in Kooperation mit bewaffneten Gruppen im Inland die militärische Offensive zum Sturz Aristides.

Bewertung und Ausblick

Standen Aristide und Préval für ein emanzipatorisches Projekt in Haiti? Für die Zeit vor dem Militärputsch 1991 ist das ohne jede Einschränkung zu bejahen. Für die Zeit nach 1994 muss die Sicht differenzierter ausfallen. Dass Aristide sich 1994 auf die Bedingungen der US- Regierung einließ, um wieder an die Regierung zu gelangen, war eine schwerwiegende politische Hypothek. Vor allem seine Zustimmung zum neoliberalen Wirtschaftsprogramm schloss eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung Haitis faktisch aus. Zwar haben Aristide und seine Regierung dieses Programm nicht so umgesetzt, wie es der IWF verlangte, sie vermochten allerdings auch kein politisches Alternativprojekt zu entwickeln.
Vor allem während seiner zweiten Präsidentschaft reagierte Aristide zunehmend destruktiv auf politische Kritik. Natürlich musste er der überwiegend von außen gelenkten Opposition entgegentreten, nur trug auch er seinen Teil zur politischen Polarisierung teil. Der Präsident und seine Partei Fami Lavalas organisierten aus der Bevölkerung der Armenviertel Schlägertrupps, die militant gegen Kritiker der Regierung vorgingen und auch vor Morden nicht zurückschrecken. Diese Form von politischer Gewalt widerspricht jeder emanzipatorischen Politik und ist keineswegs dadurch zu rechtfertigen, dass die Opposition, auch die sog. linke, ihrerseits für Morde an Mitgliedern der Fami Lavalas verantwortlich war und dabei mit den ehemaligen Schergen der FRAPH kollaborierte.
Mit der Zuspitzung der politischen Krise in Haiti wurde wieder einmal die Verantwortung der »internationalen Gemeinschaft« beschworen. Dabei wurden wieder einmal mehr in einem Konflikt in der Dritten Welt die Brandstifter als Feuerwehr gerufen. Denn die US-Regierung und die EU haben mit ihrer einseitigen Parteinahme und Finanzierung der rechten Opposition den Konflikt kontinuierlich angeheizt. Dadurch wurde jeder Initiative, die Krise in Haiti politisch zu lösen, der Boden entzogen. Entsprechende Versuche der südafrikanischen Regierung oder der in der Karibischen Gemeinschaft (Caricom) zusammengeschlossenen Staaten mussten scheitern.
Spätestens nach den internationalen Reaktionen auf den vermeintlichen Wahlbetrug 2000 radikalisierte sich die Opposition zunehmend und verweigerte sich jedem politischen Dialog mit der Regierung. Man war sich sicher, dass man Aristide mit ausländischer Hilfe stürzen würde und setzte auf Eskalation.
Prognosen für die weitere Entwicklung in Haiti sind schwierig. Der inzwischen inthronisierte Übergangspremier Latortue ist eine Marionette der Besatzungstruppen ohne jegliche soziale Verankerung. Eine Stabilisierung der politischen Lage unter bürgerlicher Führung dürfte mittelfristig kaum möglich sein. Genauso unwahrscheinlich scheint nach den Entwicklungen der letzten Jahre allerdings auch jegliche linke Option, wenngleich Fami Lavalas weiterhin die einzige Partei mit einer wirklichen Basis in Haiti ist.

Gert Eisenbürger

Gert Eisenbürger ist Redakteur der Lateinamerika-Zeitschrift ila.



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