SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2004, Seite 24

Über den neuen Antisemitismus

Der Stern als Brandzeichen

Europa erlebt die Renaissance neuer Formen des Antisemitismus. Antisemitische Vorfälle haben in verschiedenen Ländern zugenommen. Wiederholt hat es Brandanschläge auf Synagogen, Schulen und jüdische Gemeinden gegeben — vor allem in Frankreich, das in der Vergangenheit eine starke antisemitische Tradition gepflegt hat, und in dem heute zwei große Minderheiten leben, eine jüdische und eine muslimische; sie können nicht als Nebensache abgetan werden.
Um den Antisemitismus zu bekämpfen, muss man seine Wurzeln erkennen. Hier ist die Verwirrung groß. In der aktuellen Debatte mischen sich reale Sorge, ideologische Spekulation, Unverständnis und gefährliche Projektionen vergangener Traumata in die Gegenwart. Letztere sind Ergebnis einer Erinnerungsarbeit, von der man auch einen schlechten politischen Gebrauch machen kann. Sollen die Überlegungen fruchtbar sein, müssen in erster Linie Verallgemeinerungen vermieden werden.
Eine davon, ein Erbe des Antisemitismus, ist das stereotype Bild des Juden, der angeblich in sich ein Wesen trägt, das ihn überall und zu jeder Zeit als Mitglied einer gesonderten Gruppe ausweist. Israel und die Diaspora, orthodoxe und laizistische Juden, Zionisten und »nichtjüdische Juden« werden in einen Topf geworfen. Man muss diese Vorstellung verinnerlicht haben, um — wie die italienische Journalistin Barbara Spinelli — von Juden unterschiedslos zu fordern, sie sollten die israelische Politik gegenüber den Palästinensern »bereuen«.
Analog dazu sehen andere im Antisemitismus ein universelles und zeitloses Verhalten — die normale Beziehung zwischen Juden und Heiden, seien sie Christen, Moslems, Atheisten, Neofaschisten oder Globalisierungskritiker. Unterschiedliche Phänomene wie der religiöse Judenhass, der aufgeklärte Antijudaismus, der moderne (nationalistische und rassistische) Antisemitismus, der Antizionismus in seinen verschiedenen, häufig widersprüchlichen Varianten (von rechts und von links, vom antisemitischen Antizionismus bis hin zu dem der »nichtjüdischen Juden«) und schließlich die Kritik der israelischen Politik werden auf ein einziges Grundmuster zurückgeführt, von dem die genannten Phänomene nur verschiedene Ausdrucksformen wären, die eine lange Geschichte vereint, die niemals Brüche gekannt hätte. Luther, Voltaire, Drumont, Hitler und Arafat werden zu Charaktermasken desselben ewigen Judenhasses. Diese Sorte von Verallgemeinerungen sind bei vielen Beobachtern zu einer Art geistigem Habitus geworden, aber sie helfen nicht, die derzeitige Situation zu verstehen.
Europa hat eine lange Tradition des Antisemitismus, und die Nahostkrise wirkt als Katalysator für alte Reflexe. Dieses überkommene Vorurteil kennt verschiedene Ausdrucksformen — je nach der nationalen Kultur und Tradition. Der französische Schriftsteller Renaud Camus, dessen Tagebücher voll sind von Anspielungen auf die Juden als angebliche Fremdkörper in der französischen Kultur, steht in einer alten Tradition, die auf Edouard Drumont und Léon Bloy im 19.Jahrhundert zurückgeht.
Der italienische Zeichner Forattini kommentiert auf der Titelseite von La Stampa die israelische Besatzung Bethlehems mit einem Jesuskind, das sich drein schickt, von den Juden ein weiteres Mal gekreuzigt zu werden; er beschwört damit einen alten Wahn, den Ritualmord, der seit Jahrhunderten die christliche Vorstellungswelt beherrscht. Eine Spur davon findet sich leider auch auf den Seiten von Il Manifesto, wo ein Autor schreibt, wenn die Juden ausgerottet worden sind, müssen sie wohl irgendwie schuld daran sein (ähnlich hatte sich auch ein anderer Autor geäußert). Der Schriftsteller Martin Walser richtet einen Aufruf an die Deutschen, sie sollten nicht länger im Schatten des Holocausts stehen und ihren Nationalstolz wieder finden; er leiht seine Stimme dem hartnäckigen Antisemitismus derer, die Deutschland nach wie vor als Opfer im Zweiten Weltkrieg betrachten und in den Juden von Alters her sein »Unglück« sehen — wie der Historiker Heinrich von Treitschke Ende des 19.Jahrhunderts.
Diesen Antisemitismus darf man nicht banalisieren, aber auch nicht überbewerten. Er ist ein Überbleibsel der Vergangenheit, ein Phänomen, dessen Kurve allmählich nach unten zeigt. Der Holocaust hat die Geschichte des 19.Jahrhunderts gebrochen, aber auch die Kontinuität dieser Form des Antisemitimus. Nicht einmal mehr in nationalistischen und konservativen Parteien hat er noch ein Bleiberecht, also in den Parteien, die Hüter des Antisemitismus waren — die Israelreise des ehemaligen Faschisten und Vorsitzenden der Alleanza Nazionale, Fini, spricht Bände über diesen Wandel. Der Revisionismus war die vorherrschende Version des westlichen Antisemitismus nach dem Krieg; er erklärte den Holocaust zum Mythos, zum neuen jüdischen Komplott, um die Juden zu Opfern und die Heiden zu Tätern zu machen. Dieser Revisionismus hält sich nur noch als regelwidrige Haltung, die allgemein auf Missbilligung stößt und häufig von der Justiz geahndet wird. Das Gedenken der Shoa, die viele Jahrzehnte hindurch ignoriert oder verdrängt wurde, verwandelt sich heute in eine Art Zivilreligion des Westens, die gar vom Gesetz geschützt wird.
Hingegen hat sich in der arabischen Welt und unter den arabisch-muslimischen Minderheiten in Europa ein neuer Judenhass ausgebreitet. Anzeichen hierfür sind der Erfolg der Herausgabe der »Protokolle der Weisen von Zion« in arabischer Sprache und die antisemitischen Vorfälle, von denen eingangs berichtet wurde. Das Anzünden einer Synagoge ist ein antisemitischer Akt, der verurteilt und bestraft gehört; aber es ist nicht nutzlos, seine Motive zu erforschen. Die Urheber sind häufig Jugendliche aus dem Maghreb, die weder die Mentalität noch das kulturelle Vermächtnis des alten europäischen Antisemitismus kennen. Sie machen die Juden zum negativen Katalysator ihres Unbills, verwandeln sie in eine Metapher, die für die unterschiedlichsten Gefühle und Ressentiments passt. Der Jude wird gleichgesetzt mit der Elite eines Systems, das sie schon immer ausgegrenzt und unterdrückt hat — sei es in den trostlosen Vorstädten, wo der Staat sich nur in Gestalt der Polizei zeigt, sei es im kolonisierten Irak, sei es in den palästinensischen Gebieten, die seit Jahrzehnten unter einer brutalen Besatzung leiden.
Das ist der Nährboden für den neuen Judenhass, auf dem der islamische Fundamentalismus gedeiht. Die Anerkennung der Tatsache, dass er seinen Ausgangspunkt in einer legitimen Revolte gegen eine reale Unterdrückung nimmt, bedeutet nicht, dass man ihn deshalb rechtfertigt. Wer die imperiale Politik der USA, Israel, den Westen, die Juden und die Synagogen unterschiedslos in einen Topf wirft, kommt zu perversen Schlussfolgerungen und fällt in die alten, missbräuchlichen Verallgemeinerungen zurück. Das ist eine erschreckende politische Regression, die selbst vielfältige und verschieden verteilte Ursachen hat.
Hinter dem Aufschwung des politischen Islamismus steht das Scheitern aller Regime und Ideologien, die aus der Entkolonisierung hervorgegangen sind. Frantz Fanon hat Osama Bin Laden Platz gemacht. Dahinter steht auch die Unfähigkeit der westlichen Demokratien, die Minderheiten zu integrieren, die aus der Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien hervorgegangen sind, und die diskriminiert, ausgeschlossen, ghettoisiert und schließlich kriminalisiert werden. Dahinter steht die reale Ratlosigkeit eines gewissen aufgeklärten Universalismus, der Gleichheit als Assimilation versteht, als Anpassung an ein normatives Modell von Staatsbürgerlichkeit — das des homogenen Nationalstaats —, und nicht in der Lage ist, eine Koexistenz verschiedener Ethnien und Kulturen zu denken. Die Moslems werden damit zu einer nicht assimilierbaren Minderheit gemacht. Dahinter steht schließlich auch das Scheitern dessen, was einmal Internationalismus genannt wurde; die antirassistischen Bewegungen in Europa haben es nie geschafft, organische Beziehungen zu den Einwandern herzustellen. Keine Partei der europäischen Linken hat einen Farbigen als Sprecher, oder jemanden mit einem arabischen, asiatischen oder afrikanischen Nachnamen.
Das ist der Unterbau der Ausgrenzung, auf dem der neue Judenhass entsteht. Seine Zielscheibe ist eine Minderheit, die historisch die negative Figur des Anderen innerhalb der westlichen Welt verkörpert, aber heute in den Augen der neuen Paria zu deren Symbol wird.
Der islamische Fundamentalismus speist sich darüber hinaus aus der antiislamischen und rassistischen Kampagne nach den Attentaten des 11.September. Anders als der Judenhass und der Antisemitismus, die unterdrückt und stigmatisiert werden, wurzelt der Hass auf den Islam im Rassismus einer eurozentrischen und postkolonialen Kultur, die schon immer Arme und Einwanderer verachtet hat. Ein antisemitischer Vorfall ruft in der Öffentlichkeit Empörung und Abscheu hervor. Hingegen wird es als normal erachtet, dass ein junger Maghrebiner beruflich, bei der Wohnungssuche, beim Zugang zu Diskotheken diskriminiert wird. In Frankreich wurde sogar ein Gesetz erlassen, das Schülerinnen an öffentlichen Schulen das Tragen eines Kopftuchs verbietet. Wer heute Mohammed oder Farida heißt, hat mit ähnlichen Widrigkeiten zu tun wie die orientalischen Juden vor hundert Jahren in Berlin, Wien und Paris. Ein Handbuch des Antisemitismus wie das von Drumont, La France juive, würde heute verboten, aber ein Aufsatz wie der von Oriana Fallaci, Die Wut und der Stolz, der in vieler Hinsicht sein antiislamisches Pendant darstellt, ist international ein Bestseller.
Auf diesem magnetischen Hochspannungsfeld mit starken Anziehungs- und Abstoßungskräften versuchen die Verteidiger Israels, den Antizionismus zu instrumentalisieren. Auch dies ist ein alter Reflex, der heute leider von Intellektuellen vermittelt wird, die einst Werten und Zielen der Linken verbunden waren. Die Metamorphose setzt in Amerika in den Jahren des McCarthyismus ein, in Europa in den 90er Jahren. Hinter dem Antizionismus kann sich Antisemitismus verbergen und tut das häufig, aber der Zionismus seinerseits ist in der Geschichte nicht frei von Tendenzen zum Faschismus.
Im Verlauf der letzten Jahre hat sich in den jüdischen Gemeinden der Diaspora eine fast religiöse, gefühlsmäßige Beziehung zu Israel entwickelt, die in vieler Hinsicht an den Mythos der Sowjetunion erinnert, wie er von den europäischen Stalinisten zur Zeit Stalins gehegt wurde. Die UdSSR war über jede Kritik erhaben, und wer es gewagt hat, Zweifel an ihrer Politik zu äußern, wurde automatisch als Antikommunist, Kriegstreiber und Komplize des Imperialismus abgestempelt. Auf der Grundlage solcher Kriterien würde Primo Levi, der den israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin 1982 als »Faschisten« bezeichnete, heute als gefährlicher Antisemit eingestuft.
Sharon kann heute als Vorwand dienen, einen lang unterdrückten antisemitischen Ausdruck los zu lassen, aber Antisemitismus dient auch gern als Alibi, um Kritik an der Politik Israels zu neutralisieren. Hier wird ein perverser Fehlschluss unterstellt: Wenn die Kritiker Israels Antisemiten sind, dann ist die Linke, vor allem die radikale Linke, der wichtigste Träger des neuen Antisemitismus. Eine perverse These, weil sie ausschließlich die Kräfte kriminalisiert, die Judenhass in den Solidaritätsbewegungen mit Palästina bekämpfen und dem islamischen Fundamentalismus das Terrain streitig machen.
Eine andere Folge dieser Einteilung der Welt in Gut und Böse, die sich nach dem 11.September stark ausgebreitet hat, besteht darin, den israelisch-palästinensischen Konflikt aus seinem Kontext und seiner Geschichte zu lösen und auf einen »Zusammenprall der Zivilisationen« zu reduzieren. Am Anfang steht dann nicht mehr die Besetzung der palästinensischen Gebiete durch Israel und die Leugnung der Rechte der Palästinenser, sondern ein unerbittlicher, ontologischer Konflikt zwischen zwei unverträglichen Wesenheiten: Juden und Moslems, Westen und Islam.
Die Argumentation ist pervers, aber nicht allein Folge von Demagogie und Instrumentalisierung. Sie spiegelt auch alte Ängste und schreckliche Missverständnisse wider, die einem verletzten Gedächtnis entspringen können. Der Historiker Dan Diner erinnert daran, dass sich 1967 die israelischen Militärbehörden angewöhnt hatten, die ehemalige Grenzlinie vor der Besetzung der Westbank und des Gazastreifens als »Auschwitzlinie« zu bezeichnen. Aus dieser Sicht sind die palästinensischen Selbstmörder keine verzweifelten Rebellen gegen eine unerträgliche Unterdrückung, sondern die Reinkarnation des Nazismus.
Der israelisch-palästinensische Konflikt wird heute zum Gegenstand von Interpretationen, die seinen Inhalt und seine Problematik übersteigen und ihn in eine Bildfläche verwandeln, auf die sich Ressentiments und Verschwörungen aus der Erinnerung projizieren. In Europa nährt sich die Debatte über den Antisemitismus aus der Nahostkrise, aber ihr wirklicher Gegenstand bleibt der Holocaust, dessen Schatten noch über der Gegenwart liegt. Deutschland ist der privilegierte Ort für diesen gefährlichen Erinnerungseffekt, aber das Phänomen ist ausgedehnter. Der Jude bleibt eine Stellvertreterfigur — als Täter wie als Opfer. Für die einen bestätigt Israel seine Rolle als Verfolger, für die anderen ist er das potenzielle Opfer eines neuen Holocaust. Weder die einen noch die anderen sind in der Lage, im Juden den Menschen zu sehen, wie die Aufklärung es fordert, den man nach seinen Taten zustimmend oder ablehnend beurteilen, lieben oder hassen kann; beide sehen sie in ihm den Träger der jüdischen Wesenheit. Der alte »kulturelle Stempel« des Anderen, der vorher nur negativ besetzt war, wird jetzt als positives Zeichen getragen; aber er bleibt der Schlüssel zur Definition einer westlichen Identität, die das Judentum doch nie als Teil ihrer selbst zu akzeptieren vermochte — früher wegen des Antisemitismus, heute wegen des Grabens, den Auschwitz aufgerissen hat.
So prallen Erinnerungen aufeinander, die sich gefährlich kreuzen. Die palästinensische Erinnerung — wie die der arabisch-muslimischen Minderheiten in Europa — liegt außerhalb des Völkermords an den Juden. Für die Palästinenser bezeichnet die Entstehung des Staates Israel alles andere als die Erlösung, sondern den Beginn der Naqba, der Katastrophe, ihre Vertreibung. Israel ist beides: Zufluchtsort für eine Masse von Entrechteten, die den Völkermord überlebt haben, und Staat, der am Morgen nach seiner Verkündung aus einem Selbstverteidigungskrieg entstanden ist und sich rasch in einen Akt ethnischer Säuberung verwandelt hat. Hier verortet sich auch die Metamorphose des Zionismus, dessen historische Legitimität als jüdische Nationalbewegung gar nicht in Abrede gestellt werden soll, wohl aber die anhaltenden Praktiken des Staates, den er hervorgebracht hat.
Diese beiden gegenständigen Erinnerungen konnten bislang nicht in Dialog miteinander treten, höchstens sporadisch, und es scheint, als würde die Kommunikation immer schwieriger. Sicher erfordert der israelisch-palästinensische Konflikt eine politische Lösung, die eine Politik der Erinnerns nicht anbietet. Aber eine Anstrengung, den jeweils anderen zu verstehen — die in Europa weitaus leichter fallen muss als im Nahen Osten —, würde viele Missverständnisse um Antisemitismus vermeiden.

Enzo Traverso

(Übersetzung aus dem Italienischen: Angela Klein)


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