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Wenn der 1.November 2003 eine neue Phase von sozialen Kämpfen in Deutschland angekündigt hat, so hat der
3.April endlich die Mär begraben, es gebe zum politischen Kurs der Regierung keine Alternative.
Die Demonstrationen in Berlin, Köln und Stuttgart waren zusammen genommen die
größte Protestveranstaltung gegen Sozialabbau seit Bestehen der BRD, der Größe nach gleichauf mit den Friedensdemonstrationen der
frühen 80er Jahre. Ihre Folgen werden ungleich weiter reichen. Vor einem Jahr hätte sich das noch niemand träumen lassen. Seit dem
Frühherbst letzten Jahres hat sich jedoch in zahlreichen lokalen, regionalen und auch bundesweiten Protestaktionen ein Klima aufgebaut, dass die
Menschen nicht mehr gewillt sind, die Spar- und Streichorgien hinzunehmen. Die auch nach dem 3.April stereotyp wiederholte Behauptung der Regierung, es
gebe zu ihrer Politik keine Alternative und die CDU werde alles nur noch schlimmer machen, hat aufgehört die Menschen zu schrecken. Sie fangen an zu
verstehen, dass sie eine Alternative jenseits der im Bundestag vertretenen Parteien suchen müssen. Aktuelle Umfragen ergeben, dass zwei Drittel mit dem
Regierungskurs unzufrieden sind.
Die massive Beteiligung war Ergebnis massiver Mobilisierung. Dies gilt vor allem für
Gewerkschaften wie Ver.di, die Gewerkschaft der Polizei, die IG BAU, die IG BCE (mit Fahnen für das »Modell Deutschland«), in Stuttgart
auch die NGG. Die IG Metall war weit unter ihren Möglichkeiten geblieben. Im Meer der Gewerkschaftsfahnen gingen politische Gruppen, auch Attac,
eher unter. Das Erscheinungsbild war dominiert von der älteren Generation, es waren auch auffallend wenige Migranten zu sehen. Ein spontanes Einreihen
der lokalen Bevölkerung konnte, anders als am 1.November, nicht festgestellt werden.
Ebenfalls anders als am 1.November dominierten nicht die selbst gemachten Transparente,
sondern die Organisationsfahnen. Man zog, wie so oft, schweigend dahin, statt auffordernde Parolen zu rufen. Allerdings war auch das Motto »Aufstehen,
dass es besser wird« nicht geeignet, der Demonstration eine klare Zielrichtung zu geben. Es sollte keine grundsätzliche Kritik an der Agenda 2010
werden, sondern nur ein Signal, dass die Regierung nicht überziehen darf. Zentrale Transparente mit der Forderung »Rücknahme der Agenda
2010« fehlten.
Neu war, dass die Abschlusskundgebungen nicht mehr vom DGB allein gestaltet wurden. Vor
Ort hatten Bündnisse aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gut mobilisiert. Doch bundesweit hatte der DGB keinen zentralen
Organisationsausschuss eingesetzt, der Absprachen mit den bestehenden zentralen Strukturen der Bewegungen getroffen hätte. Dennoch behielt er sich die
letzten Entscheidungen vor. So hatten die sozialen Bewegungen vertreten durch Erwerbslose, Studierende und Attac die Möglichkeit
bekommen, eigene Redner zu stellen, die durchweg radikaler auftraten, mit Kritik an den Halbherzigkeiten der Gewerkschaften nicht sparten und großen
Beifall bekamen, während Norbert Blüm in Köln sein gerechtes Pfeifkonzert erhielt.
Aber der DGB hatte mit der großen Teilnehmerzahl nicht gerechnet und viel Musik eingeplant, sodass in allen drei Städten die
Redebeiträge der Bündnispartner weit ans Ende rutschten, als die meisten Zuhörer schon wieder weg waren.
Immerhin wäre selbst dieses eingeschränkte Maß an Zusammenarbeit ohne
den Vorlauf des Europäischen Sozialforums (ESF), aber auch ohne den 1.November nicht möglich gewesen. Die Idee zum Europäischen
Aktionstag ist schließlich maßgeblich unter dem Druck von Attac in zahllosen Gesprächen während des ESF geboren worden. Michael
Sommer sprach in Berlin vom »Schulterschluss zwischen Gewerkschaftern und Studenten, Sozialverbänden und Rentnern, von Arbeitslosen und
Auszubildenden, von linken Kritikern in den Parteien über kirchliche Gruppen, der Friedensbewegung bis zu den Globalisierungskritikern. Auch hier in
Deutschland schaffen wir dieses neue Bündnis: Ein Bündnis der Solidarität!« Hieran muss noch kräftig gearbeitet werden.
Diese Veränderungen zeigen tieferliegende Prozesse an. In den letzten Monaten haben
sich die Initiativen für breite lokale und regionale Bündnisse vervielfacht, sie nennen sich Sozialforen, Bündnisse gegen Sozialkahlschlag und
anderes mehr. In vielen Fällen haben Gewerkschaften die Initiative dazu ergriffen, auch hier ist vor allem Ver.di wieder zu nennen. In Vorbereitung des
3.April hat sich auch wieder ein breites Jugendbündnis gebildet. Dies alles geht einher mit dem zunehmenden Bewusstsein unter Gewerkschaftsaktiven,
dass sie auf die Regierung keinen Einfluss mehr haben und ihnen die SPD als »politischer Partner« abhanden gekommen ist.
Zusammen mit den anhaltenden Mitgliederverlusten und der Erosion der Flächentarife
hat dies in den Gewerkschaften eine Orientierungskrise ausgelöst; ein Ausdruck davon ist die Suche eines Teils des Apparats nach Bündnissen mit
anderen sozialen Bewegungen, um eine starke außerparlamentarische Bewegung aufzubauen. Ein anderer Ausdruck davon sind Initiativen zur Bildung
einer neuen Linkspartei, die auf verschiedenen, voneinander unabhängigen Wegen von Personen aus dem mittleren Funktionärskörper von
Ver.di und von der IG Metall ausgehen.
Zur Bilanz des 3.April gehört auch der 2.April. Da waren betriebliche Aktionen
vorgesehen, die jedoch kaum stattgefunden haben. Die Bereitschaft, einen prekär werdenden Arbeitsplatz für eine erst in den Anfängen
befindliche Protestbewegung zu riskieren, ist gering. Und wenn man mit offenen Augen und Ohren durch die Demonstrationen gegangen ist, hat man nicht nur
Wut verspürt, sondern auch Existenzangst und Hilflosigkeit. Die meisten Betroffenen sind noch weit davon entfernt einen Weg zu sehen, wie sie ihre Lage
durch eigenes Aktivwerden verändern können. Das ist das Haupthindernis, das weggeräumt werden muss, das jeder politischen und
gesellschaftlichen Veränderung im Weg steht.
Für den DGB wars das jetzt erst einmal. Michael Sommer hat signalisiert, dass der DGB auf weitere Proteste verzichten wird, wenn die
Regierung eine Ausbildungsplatzabgabe verabschiedet. Das soll im Mai geschehen, ob das Gesetz aber auch umgesetzt wird, ist eine große Frage. Die
Geste muss dem DGB reichen, damit er von weiteren Protesten Abstand nimmt, und damit gibt er sich auch zufrieden. In der Sache der Agenda selbst weicht die
Regierung keinen Fußbreit zurück, die begonnenen Maßnahmen sollen allerdings zu Ende geführt werden, auch wenn es, wie beim
ALG II, große Schwierigkeiten bei der Umsetzung gibt und auch die Praxisgebühr auf wackligen Füßen steht. Allerdings soll es bis zur
nächsten Bundestagswahl keine neuen Grausamkeiten mehr geben; auf der Ebene der Länder, der Gemeinden und der Unternehmer gehen die
Angriffe jedoch munter weiter.
Weitere Proteste werden deshalb folgen. Die Forderung nach Rücknahme der Agenda
bleibt zentral. Auf zahlreichen Konferenzen wird in den kommenden Monaten über die Fortsetzung des Widerstands gesprochen werden; es gibt einen
gewissen Druck, im Herbst einen neuen Aktionstag anzusetzen. Ein erstes Bilanztreffen des Arbeitsausschusses der Aktionskonferenz vom Januar gemeinsam
mit der Initiative für einen Politikwechsel schlägt vor, in den nächsten Monaten die Verhinderung des ALG II und die Verlängerung
der Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst zu einem Schwerpunkt weiterer Proteste zu machen.
Flächendeckend sollen örtliche wie regionale Bündnisse gegen Sozialabbau
gebildet werden, um die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Bewegungen fortzusetzen. Im Gespräch ist auch die Erarbeitung einer politischen
Plattform, auf der sie bundesweit zusammengeschlossen werden könnten. Es verfestigt sich der Vorschlag, im Juni kommenden Jahres ein großes
Sozialforum in Deutschland durchzuführen, das mindestens 10000 Menschen anziehen soll. Die Gelegenheit, mit Menschen aus unterschiedlichen
gesellschaftlichen Zusammenhängen über grundsätzliche Alternativen und Strategien der Veränderung zu diskutieren und Initiativen
anzuschieben, ist so groß wie schon lange nicht mehr.
Parallel dazu läuft die Debatte über den Aufbau von Wahlalternativen auf
kommunaler wie auf Bundesebene. Wir haben jetzt ein Zeitfenster bis zur Abwahl der Regierung; in der Zeit müssen wir es schaffen, einer linken
Alternative zum Neoliberalismus, in seiner konservativen wie sozialdemokratischen Variante, Profil und Festigkeit zu geben.
Angela Klein
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