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Eine Arbeitszeitverkürzung um 510 Wochenstunden, bei weitgehendem Einkommensausgleich und
Neueinstellungen das steht ganz konkret für das Jahr 2004 in den deutschen Krankenhäusern an. Gleichzeitig werden zum 1.Mai die
Arbeitszeiten in den Unikliniken zumindest für die Neueingestellten von 38,5 auf 4142 Stunden je Woche verlängert. Diese Gemengelage
überfordert die Beschäftigten, die Personal- und Betriebsräte, die Gewerkschaft Ver.di und die ärztliche Standesorganisation Marburger
Bund. Dabei lassen sich die Fakten schnell auflisten:
Zu Jahresbeginn hatten die Landesregierungen in der Mehrzahl der Bundesländer
die Wochenarbeitszeit für Beamtinnen und Beamte per Gesetz auf 41 oder 42 Stunden erhöht. Die SPD-Grüne-Regierung in NRW hat den
Angriff »sozial« gestaffelt: mit Vollendung des 55.Lebensjahrs genügen 40, mit Vollendung des 60.Lebensjahrs 39 Wochenstunden.
Zeitgleich wurde das Arbeitszeitgesetz in hektischen Verhandlungen zwischen den
Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen und dem christdemokratisch dominierten Bundesrat reformiert. Es war ein Urteil des Europäischen
Gerichtshofs nötig gewesen, um endlich auch in Deutschland Bereitschaftsdienste auf die tägliche Höchstarbeitszeit und auf die EU-weit
einheitliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von durchschnittlich 48 Stunden anzurechnen. Bestanden die über 24 Stunden gehenden
Schichten der scheinbar unermüdlichen Ärzte und OP-Schwestern im Sinne des Gesetzes bis dahin überwiegend aus angeblichen Ruhezeiten,
waren sie nun endlich gesetzwidrig; tatsächlich werden in Krankenhäusern seit Jahren sogar Schichten bis zu 32 Stunden gefahren. Durch das neue
Gesetz ist für zahlreiche Beschäftigte in den Krankenhäusern nun die offizielle Arbeitszeit unversehens dramatisch
»verlängert« worden.
Ende März kündigte die Tarifgemeinschaft der Länder die
Arbeitszeitbestimmungen. »Ich kann es nicht hinnehmen, wenn für Arbeitnehmer und Beamte zum Teil in ein und demselben Büro
völlig unterschiedliche Arbeitszeiten gelten«, gab NRW-Finanzminister Dieckmann der Gerechtigkeitsdebatte seiner Partei eine neue Facette. Doch
gleich werden die Arbeitszeiten deshalb noch lange nicht. Dies liegt an einer gesetzlichen Besonderheit von Tarifverträgen: Nach der Kündigung
durch eine der beiden Tarifparteien bricht nicht sofort das regellose Chaos aus, die Beschäftigten können sich auf die »Nachwirkung«
ihrer tariflichen Regeln berufen. Die Arbeitgeber können daher zunächst nur den Neueingestellten einzelvertraglich einen Rücksturz in die 41-
oder 42-Stunden-Woche der 70er Jahre verordnen. Und sie können Zug um Zug auch Altbeschäftigte zum Abschluss schlechterer Verträge
drängen.
Zeitgleich lud Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt zu einem
»Arbeitszeitgipfel« nach Berlin. Es ging darum, die ungesunde Praxis der überlangen Arbeitszeiten in den Gesundheitsbetrieben
möglichst kostenneutral mit den Anforderungen des neuen Arbeitszeitgesetzes zu versöhnen. Dazu wurde das Märchen vorgetragen, es seien
die Beschäftigten selbst, die zusätzlich zu ihrer tariflich vereinbarten wöchentlichen Regelarbeitszeit von durchschnittlich 38,5 Stunden noch
bis zu 9 Mehrarbeitsstunden brauchen.
Streng wissenschaftlich wurde dazu eine Studie des Deutschen Krankenhausinstituts
über »Auswirkungen alternativer Arbeitszeitmodelle« präsentiert. Das Gutachten belegt auftragsgemäß »eine
große Bereitschaft von Ärzten, ihre Arbeitszeit über die vereinbarte Wochenarbeitszeit hinaus bis zu einer Höchstarbeitszeit von 48
Stunden pro Woche auszuweiten«. Dankbar griffen die öffentlichen Arbeitgeber, Selbstverwaltungspartner und Gewerkschaften dies auf und
erklärten gemeinsam zum Abschluss: »Es besteht Einvernehmen, dieses Potenzial gemeinsam mit den unmittelbar Betroffenen in den
Krankenhäusern nutzen zu wollen. Damit kann zugleich ein wichtiger Beitrag zur Steigerung der Attraktivität des Arbeitsplatzes Krankenhaus
geleistet werden. Die Tarifvertragspartner tragen die maßgebliche Mitverantwortung für die Ausgestaltung der Bedingungen innovativer
Arbeitszeitmodelle. Den durch das neue Arbeitszeitrecht geschaffenen Rahmen gilt es, offensiv zu nutzen.«
Die Betroffenen reagieren verständlicherweise ausgesprochen skeptisch und misstrauisch auf dieses Wechselbad. Sie vermuten hinter jeder
Arbeitszeitverkürzung, auch wenn sie im Gewand des gesundheitlichen Arbeitschutzes daher kommt, massive Einkommensverluste und
Arbeitsverdichtung. Und ihre Arbeitgeber tun alles, um die Beschäftigten nicht zu enttäuschen.
Die betrieblichen Interessenvertretungen Betriebsräte, Personalräte und in
kirchlichen Kliniken Mitarbeitervertretungen sind meist überfordert mit der neuartigen Aufgabe. Um endlich gesündere Schichtmodelle zu
etablieren und um den Stellenabbau zu stoppen, müssten sie die widerstrebenden OP-Schwestern, die Medizinisch-Technischen Assistentinnen in den
Laboren und Röntgenabteilungen sowie die Ärzte aktivieren und mit ihnen eigene Modelle der Arbeitsorganisation entwickeln. Bislang konnte erst
eine Handvoll von Betriebs- und Personalräten mit den Betroffenen die Arbeitszeiten deutlich kürzen; das Ergebnis waren nicht nur weniger
belastende Schichtmodelle, sondern auch der Nachweis, dass ein Tarifvertrag wie der BAT schmerzhafte Schnitte bei Gehalt verhindern hilft.
Für die Gewerkschaft Ver.di rächt es sich jetzt, so lange die Vorbereitung einer
offensiven Arbeitszeitpolitik vernachlässigt zu haben. Offen und medienwirksam brechen Ärzte und Krankenschwestern die Tabus und
rühmen sich in etwas einfältigem Dünkel, mit weniger als 50 Wochenstunden nicht zurecht kommen zu können. Dies wirkt
ausgesprochen lähmend für den gewerkschaftlichen Protest gegen die drohende Ausweitung auf 41, 42 oder noch mehr Wochenstunden.
Es genügt eben nicht, an den Köpfen der Beschäftigten vorbei abstrakte
Prinzipien des Arbeitsschutzes hochzuhalten. Umbrüche im Gesundheitswesen, Krankenhausinsolvenzen, Privatisierungen bedrohen die bislang für
sicher gehaltenen Arbeitsplätze; in den Abteilungen vor Ort hat der Stellenabbau die Arbeit längst unerträglich verdichtet. Deshalb sperren
sich die Belegschaften gegen jede Arbeitszeitverkürzung, die sich dem Diktat der Kostenneutralität beugt. Also muss sich Ver.di rasch aus der Logik
solcher Finanzierungszwänge lösen.
Tobias Michel
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