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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2004, Seite 13

Argentiniens Regierung

Kluft zwischen Worten und Taten

Die Wahl Nestor Kirchners zum Präsidenten Argentiniens im Mai 2003 war der Schlussakt eine Dramas, das Ende 2001 begonnen hatte und das argentinische Establishment erschüttert hatte. Was hat sich für die argentinische Bevölkerung beinahe einem Jahr nach seiner Wahl geändert?
Während der beinahe revolutionären Jahre 2001—2003 gab es den erzwungenen Rücktritt von drei Präsidenten binnen einer Woche. Auf dem Höhepunkt der Mobilisierung war fast die Hälfte der Bevölkerung in verschiedenartigen Massenorganisationen organisiert, von den erwerbslosen piqueteros bis zu den Mittelschichten in den Volksversammlungen.
Doch das Fehlen einer Führung, die Uneinigkeit der Linken und die Politik einiger durchtriebener Politiker behinderte den revolutionären Prozess. Bei den Präsidentschaftswahlen wurde Nestor Kirchner, der linksperonistische ehemalige Gouverneur von Patagonien, mit nur knapp über 20% der Stimmen gewählt.

Erste Maßnahmen

Kirchners Amtseinführung fand im Namen radikaler Reformen und unter Anwesenheit der populärsten lateinamerikanischen Führer statt. Aus diesem Anlass waren Kubas Präsident Fidel Castro, Brasiliens Präsident Lula und Venezuelas Präsident Hugo Chávez Gäste in Buenos Aires.
Die Vorstellung von einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit wurde durch Kirchners erste Handlungen verstärkt, die sich gegen die verhasstesten und korruptesten Institutionen des Landes richteten. Binnen einer Woche nach seiner Amtseinführung wurde die Spitze der Streitkräfte entlassen. Das Justizsystem wurde von den berüchtigsten und korruptesten Richtern gesäubert. Die Polizei, die Verwaltung der Rentenkassen sowie der Geheimdienst wurden ebenfalls gesäubert.
In einer Flut von Reden gegen die Globalisierung und die US-Pläne einer amerikanischen Freihandelszone (ALCA) betonte Kirchner die Notwendigkeit eines »nationalen Kapitalismus«, der von jedem internationalen Einfluss frei ist. Gleichzeitig wurden die Belastungen der wichtigsten öffentlichen Dienste eingefroren und die Arbeitslosenversicherung gestärkt. Während der Verhandlungen mit dem IWF bot Kirchner den Gläubigern der ehemals privaten, von der Regierung Menem »nationalisierten« Schulden eine Begleichung von 25% ihres vollen Wertes an.
All diese Maßnahmen schienen Kirchner auf Kollisionskurs mit der von George Bush geführten US-Regierung zu bringen, besonders als Washingtons Minister für lateinamerikanische Angelegenheiten, Roger Noriega, Argentinien streng wegen der Haltung zu Kuba tadelte und Kirchner faktisch zu einem Treffen mit Bush herbeizitierte.
All dies scheint Kirchner auf dieselbe Ebene wie Chávez und Castro als einen lateinamerikanischen Patrioten zu stellen, der sich dem Empire widersetzt. Aber trifft dies zu?
Sein Verhältnis zu den USA ist widersprüchlich. Kürzlich hat Kirchner, wie auch Lula, klargestellt, dass Argentinien mit dem radikalen MAS (Bewegung zum Sozialismus) von Evo Morales in Bolivien zusammenarbeiten würde, wenn diese Partei bei den nächsten bolivianischen Wahlen siegte. Dies ist eine Haltung, die von Washington scharf verurteilt wird. Doch Kirchners Opposition gegen ALCA, wie jene Lulas, wurde letztlich zu einem Kampf für ein »faireres« Abkommen. Auf dem letzten Treffen der lateinamerikanischen Staatschefs in Mexiko lehnte nur Venezuela ALCA bedingungslos ab. (Kuba ist von ALCA ausgeschlossen.)
Was die Schulden betrifft, so hat Kirchner, dessen Politik auf dem Prinzip basiert »Wenn Argentinien zahlen kann, sind wir bereit zu zahlen«, Rückzahlungsmodalitäten ausgehandelt, die auf einem Minimum von 3% des argentinischen Bruttoinlandsprodukts festgesetzt sind. Das Resultat ist, dass fast 40% des nationalen Haushaltszuwachses zur Bezahlung der Zinsen der Schulden verwendet werden wird. Dagegen wird die Zunahme der Ausgaben für soziale Sicherheit und Entwicklung kaum mehr als 2% betragen.

Reale wirtschaftliche Lage

Ende 2003 verkündete die Regierung, dass das geschätzte Wirtschaftswachstum des letzten Halbjahres mehr als 7% betragen hätte und die Erwerbslosigkeit um 4,5% gesunken sei. Doch dieses Bild ist so geschönt wie eine Weihnachtskarte.
Der durchschnittliche Monatslohn in Argentinien beträgt etwa 550 Pesos (ca. 200 Euro), während der zum Leben ausreichende Lohn mit 1500 Pesos (ca. 560 Euro) berechnet wird. Dies bedeutet, dass 58% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze und fast 30% in absoluter Armut leben. Seit 1970 ist die Kaufkraft der Löhne um 60% gesunken, während der zum Leben ausreichende Lohn um 74% gestiegen ist.
Die Erwerbslosenrate beträgt 22% (etwa 3,5 Millionen). Wenn man die Unterbeschäftigten dazu zählt, steigt diese Zahl auf 5,2 Millionen. Das von der Regierung angekündigte Wachstum der Beschäftigung stellt nicht einmal den Zustand vom Zeitpunkt des Beginns der Rezession 1998 wieder her, als die Erwerbslosenrate bei 12% lag. Wenn wir die Schätzungen der »offiziellen« Wirtschaftsfachleute akzeptieren, so werden noch acht Jahre mit einem Wachstum von 5% erforderlich sein, damit die Erwerbslosigkeit unter 10% fällt — das wäre ein Wunder in Lateinamerika.
Und was für Jobs werden geschaffen? In den 90er Jahren wurden Prekarisierung und Entlassungen im ganzen Land im Namen von Modernisierung und »Flexibilisierung« durchgesetzt. Nun ist im Namen eines »seriösen Argentinien« noch mehr Ausbeutung zu erwarten. Die Hälfte der Jobs sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse, was den Bossen immense Extraprofite verschafft. Dies wird besonders deutlich in den Gebieten, wo die Abwertung des Peso praktisch die Importe eliminiert hat. Die Textil- und z.T. die Metallindustrie sind verantwortlich für 80% der neuen Arbeitsplätze. Hier gibt es nahezu keinen rechtlichen Schutz der Beschäftigten mehr, Gewerkschaften sind Phantome und die Ausbeutung grassiert. Junge Menschen und Frauen, die in diesen Bereichen dominieren, erhalten 37% weniger als der Lohn der männlichen Arbeitskräfte.
Gleichzeitig bereitet die Regierung einen Plan namens Manos a la obra (Ran an die Arbeit) vor. Dieser sieht vor, dass die Zahlungen der Sozialversicherung auf ein Kartensystem umgestellt werden. Damit soll vor allem der Kampfgeist der Erwerbslosenorganisationen gebrochen werden. Es handelt sich um ein System, das auf die Herstellung untertariflicher Löhne zielt und die Arbeitsbedingungen für alle Arbeitenden weiter verschlechtern wird — im Namen der Begünstigung des »nationalen Kapitals«.
Das Wachstum geht einher mit einer Zunahme der Produktivität und der Ausdehnung der Arbeitszeit. Durchschnittlich sterben im Monat 60 Beschäftigte bei Arbeitsunfällen. Die Probezeit für Neueingestellte wurde auf 12 Monate ausgedehnt, während Zeitarbeitsagenturen boomen. Die Zahl der Urlaubstage wird reduziert und die Mittagspause ähnelt nun derjenigen, die Charlie Chaplin 1936 in seinem berühmten Film Moderne Zeiten schildert. Das Industrieministerium akzeptiert, dass die Zahl der Jahresarbeitsstunden auf 2040 je Beschäftigten erhöht wurde. Das entspricht einem durchschnittlichen 9,5-Stunden-Tag ohne Lohnausgleich.
Die Arbeiterbewegung kehrt zu den Bedingungen des 19.Jahrhunderts zurück. Unter dem Deckmantel der Erblast einer Krise und der Notwendigkeit, sich dem Neoliberalismus zu widersetzen und die nationale Würde zu verteidigen, verfolgt die Regierung Kirchner — mit voller Unterstützung der Bürokratie des öffentlichen Sektors — einen gegen die Arbeitenden gerichteten Plan der Klassenzusammenarbeit.

Paradies der Bosse

»Wir verlassen die Hölle«, sagt Kirchner. Aber wohin gehen wir? Wer sind die Gewinner, wenn die Arbeitenden die Verlierer sind? Die Profite sind hoch, mit einer durchschnittlichen Re-Investitionsrate von 8—10% (entsprechend der Zinsrate, die die Banken für Anleihen für Geschäftsinvestitionen berechnen). Das Produktivitätswachstum betrug außerordentliche 13% zwischen dem ersten Halbjahr 2002 und 2003. Und die Kluft zwischen den reichsten 20% und den ärmsten 20% wird größer. Erstere akkumulieren 54% des neu produzierten Reichtums, letztere nur 3%.
Die Monate vergehen und die Differenz zwischen den Taten der Regierung Kirchner und ihren Worten wird immer deutlicher. Die Illusionen jener, die glauben, dass dies eine wirklich radikale Regierung ist, schwinden. Das Bild einer pragmatischen Regierung gibt die Wahrheit am besten wieder. Der argentinischen Tradition entsprechend haben wir es mit einer traditionellen »fortschrittlichen peronistischen« Regierung zu tun, wie die Ehefrau des Präsidenten im letzten Jahr selbst zugab.
In jedem Fall macht die argentinische Bevölkerung die Erfahrung, wann ein solcher »Fortschritt« an seine Grenzen stößt. Argentinien ist ein Land, das in einem Jahr 300 Millionen Menschen ernähren könnte, aber unter den gegenwärtigen Bedingungen seine 30 Millionen nicht ernähren kann, ein Land, in dem 58% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben.

Raul Bassi

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