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Eine zehn Meter hohe Antenne erhebt sich über der kleinen Holzhütte im Viertel La Florida, die normalerweise als
Suppenküche, Bäckerei oder Versammlungsraum, heute aber als Fernsehstudio dient. La Florida liegt in Solano, in der Provinz Buenos Aires,
ungefähr eine Stunde Busfahrt vom Zentrum der Hauptstadt Argentiniens entfernt.
Die Grenze zwischen Capital Federal und der Provinz markiert auch die Grenze zwischen drinnen
und draußen, zwischen denen, die am städtischen Leben, am Konsum teilhaben können und dürfen, und denen, die ausgeschlossen sind,
für die in der argentinischen Gesellschaft kein Platz und keine Arbeit mehr vorgesehen ist. Die meisten der Piquetero-Organisationen stammen aus dem
Armutsgürtel um die Hauptstadt herum. Piqueteros nennen sich die Erwerbslosen, die aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit nicht mehr die Möglichkeit haben,
Betriebe zu bestreiken und stattdessen Zufahrtsstraßen, Supermärkte oder Fabriken blockieren, um die Zirkulation der Waren zu unterbrechen und
ökonomischen Schaden anzurichten. Die Forderungen der Piqueteros reichen von Arbeitsverträgen, Plan Trabajadores (eine Art
Arbeitslosenunterstützung von 150 Pesos, etwa 50 Dollar pro Monat gegen 4 Stunden Arbeit pro Tag), Nahrungsmitteln, Zurücknahme von Entlassungen
bis hin zur Rücknahme der Sperrungen von Strom und Wasser.
Doch zurück nach La Florida. Seit dem Vormittag laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren:
der Sendemast wird aufgerichtet, diverse Meter Kabel verlegt, die Kameraleute checken ihre Kameras noch einmal durch, die Männer der Backcrew formen
Hunderte von kleinen Pizzas und Empanadas, das alles inmitten von kreischenden Kindern, die aufgeregt auf den Beginn des Programms warten.
Heute ist der Tag, auf den die Teilnehmenden des Videoworkshops der Nachbarschafts- und
Piquetero-Organisation Mup-20 (Movimiento Unidad Popular 20 de Diciembre) und des Videokollektivs Grupo Alavío in den letzten Wochen hingearbeitet
haben: die Liveübertragung des Piratenfernsehsenders TV-Piquetera. Das Videokollektiv aus Buenos Aires existiert bereits seit zehn Jahren. Die
unabhängige Organisation Mup-20 wurde im Dezember 2001 gegründet. Sie hat mittlerweile Gruppen in acht Stadtteilen von Solano mit etwa 500
Mitgliedern. Die von der Mup-20 initiierten und unterhaltenen Projekte sind Bäckereien, Suppenküchen, copa de leche (Milchverteilung für die
Kinder des Viertels), Holzwerkstätten, Gärten, Kunsthandwerk oder Hausaufgabenhilfe. Die Intention ist zu produzieren, zu lernen, sich weiterzubilden,
da der Arbeitsmarkt keinerlei Möglichkeiten mehr bietet und ein großer Teil der erwerbsfähigen Bevölkerung von Arbeit ausgeschlossen ist.
Die Mitglieder der Mup-20 akzeptieren den Plan Trabajador als Überlebenshilfe, gehen aber in ihren Forderungen und Analysen weit darüber hinaus und
fordern »würdige« Arbeitsplätze (trabajo genuino), womit sie sich gegen Flexibilisierungsgesetze, Minijobs etc. wenden, die nur dazu
dienen, die Arbeitslosigkeit offiziell zu senken, den Arbeitenden aber keinerlei Absicherung geben. Sie beschreiben ihren Kampf als antikapitalistischen
Klassenkampf. Intern ist Mup-20 horizontal mit wöchentlichen Versammlungen und Delegiertenplena organisiert.
TV-Piquetera findet bereits zum zweiten Mal in La Florida und insgesamt zum fünften Mal in
Solano statt. Die Idee entstand aus der Zusammenarbeit der beiden Gruppen. »Es ist absolut notwendig, die Geschichte vom Widerstand mit unseren eigenen
Kommunikationsmitteln zu erzählen, denen unserer Organisationen, anstatt gegen die Zensur und Missinformation der kommerziellen Medien
anzukämpfen.« Mit diesen Worten beschreibt das Kollektiv Alavío die Idee von TV-Piquetera. Technologie und Techniken audiovisueller
Kommunikation sollen somit auch für marginalisierte gesellschaftliche Sektoren zugänglich gemacht werden und die Produktion audiovisuellen Materials
demokratisiert werden. »Die kommerziellen Medien monopolisieren Information, wir versuchen, einen Raum zu schaffen, in dem die ProtagonistInnen des
Widerstands selber ihre Geschichte erzählen können.«
TV-Piqueteras erste große Übertragung fand im September 2003 während einer
Blockade der multinationalen Brauerei Quilmes, ebenfalls in der Provinz von Buenos Aires gelegen, durch verschiedene Piquetero-Organisationen, statt. Die Aktiven
sendeten live auf der Frequenz eines Lokalsenders ihr Piratenfernsehprogramm. Die Intention dieser Übertragung war es, der hetzerischen Berichterstattung der
offiziellen Medien eigene Informationen gegenüber zu stellen. Die Nachbarschaft wurde so über den Sinn der Aktion, die Forderungen der Piqueteros
nach der Schaffung von Arbeitsplätzen und würdiger Arbeit aufgeklärt. Während der Übertragung drückten die Aktiven in ihren
eigenen Worten die Gründe für ihren Protest aus, gaben direkte Informationen über den Ablauf der Aktion und beschrieben, was es für sie
bedeutet, als Piquetero auf die Strasse zu gehen. Die Blockade endete mit der Zusage des Unternehmens, Computer und andere infrastrukturelle Hilfen für die
Gruppen, insbesondere Suppenküchen, bereitzustellen.
Die Übertragung vom 13.März war dem Thema »8. März
Internationaler Frauenkampftag« gewidmet. Die ganze Woche über kamen bis zu 20 verschiedene Teilnehmende, hauptsächlich Frauen aus dem
Viertel, zusammen, um den Inhalt der Übertragung zu planen, Videos zu produzieren, Interviews mit Nachbarinnen durchzuführen, die Handhabung einer
Kamera zu lernen, das Material zu schneiden und mit dem Computer zu bearbeiten. »Ich habe Dinge gelernt, die ich vorher noch nicht einmal gesehen habe, wie
ich ein Video schneide, eine Kamera halte oder mit einem Computer umgehe«, erzählt Sandra, 32, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und seit
einem halben Jahre im Mup-20 aktiv.
Das Programm beinhaltete einerseits die selbst produzierten Videoclips aus dem Material, das die
Teilnehmerinnen in ihrem Barrio aufgenommen hatten. Interviews mit Nachbarn über deren Meinung zum Geschlechterverhältnis, Wissen über
den 8.März oder die Partizipation als Frau im Kampf der Piqueteros.
Des Weiteren gab es verschiedene Beiträge zum Thema »Mujeres en lucha«
(Kämpfende Frauen): ein Bericht über Frauen innerhalb der EZLN, ein Video über den Kampf der Arbeiterinnen in Zanon, der Keramikfabrik
unter Arbeiterkontrolle im Süden Argentiniens, sowie Interviews vor laufender Kamera. Eine Aktivistin einer Indígena-Organisation aus Peru, eine
Arbeiterin der Textilfabrik Brukman im Zentrum von Buenos Aires, die von den Beschäftigten geleitet wird, Aktive eines besetzten Kulturzentrums in der
Provinz, der Piquetero-Organisation Mup-20, sowie Autorinnen der anarchistischen Monatszeitschrift Protesta waren eingeladen worden und standen Rede und
Antwort. Auch die Moderation und Gestaltung dieser Beiträge lag in den Händen der Teilnehmerinnen des Workshops. Die Übertragung dauerte
mehr als sechs Stunden und stand wie immer unter dem Motto »Das Programm aus unserer Nachbarschaft und unserer Perspektive«. Beim Rundgang
durch die Straßen der Nachbarschaft sah man, dass in vielen Häusern der Fernseher auf Kanal 5 eingestellt war, die Frequenz, auf der TV-Piquetera
sendet.
Neben der Aneignung der technischen Fähigkeiten kamen im Laufe der Woche viele
frauenspezifische Themen zur Sprache: Was bedeutet es, als Frau zu kämpfen, »piquetera« zu sein, wie unterscheidet sich ihr Kampf von dem der
Männer, welche Strukturen fehlen, um Frauen in ihrer doppelten Rolle als (oft allein erziehende) Mutter und Compaņera zu unterstützen? »Hinter
jeder von uns steht ja auch eine Familie, Kinder, die nicht immer einverstanden sind mit der Entscheidung, die wir getroffen haben. Sie haben Angst, dass uns etwas
auf der Straße passiert, sie leben in einer anderen Welt, werden sehr beeinflusst von den negativen Bildern, die das Fernsehen über uns, über die
Piqueteros verbreitet. Das macht die Situation für uns natürlich kompliziert. Aber das passiert wohl allen Compaņeras, die im Kampf auf die Straße
gehen, und wir versuchen unsere Familien zu informieren und sie vorzubereiten, damit sie uns auch begleiten«. erzählt Marisa, 34, Mitbegründerin
des Mup-20.
Die Organisation Mup-20 besteht zu mehr als der Hälfte aus Frauen. Die Wahrnehmung der
Frauen bezüglich ihrer Rollen ist sehr unterschiedlich: »Einige Themen sind für uns als Frauen komplizierter, aber alles in allem ist der Kampf auf
der Straße für die Männer und uns der gleiche, auch wenn es die Männer sind, die uns beschützen, den starken Mann machen, wenn
etwas zu passieren droht. Aber insgesamt ist der Kampf heutzutage ziemlich gleichberechtigt«, fügt Marisa hinzu. Vor allem die jüngeren Frauen
kritisieren, dass es gerade im Fall der Seguridad, den Gruppen, die die Blockaden bewachen, die Straßenzufahrten mit brennenden Reifen blockieren, sehr wohl
fast nur Männer sind, die vermummt und mit dem Stock in der Hand dastehen. »Wenn wir sagen, dass wir diesen Teil übernehmen wollen, werden
wir auf den Versammlungen belächelt«, sagt Florencia, 24 Jahre alt und seit einem Jahr in der Mup-20 aktiv. »Dabei können wir das genauso
gut wie sie.«
Im Rahmen des Workshops wurde zusammengetragen, was den Frauen ihren Kampf innerhalb der
Bewegung erschwert. Oftmals fehlt es an Kinderbetreuung, ein Selbstverteidigungskurs wird für die nächsten Wochen geplant. Und tatsächlich gab
es schon bei der nächsten Aktion, nur wenige Tage nach Ende des Workshops, bei der Blockade der italienischen Botschaft eine Gruppe von zehn Frauen, die
einen Teil der Seguridad stellen.
Auf einer Versammlung zur Nachbereitung einer Übertragung erzählt María,
Delegierte der Mup-20, dass sie von Nachbarn gefragt wurde: »Wie kann es sein, dass ihr arbeitslos seid und einen Fernsehsender habt? Wir sagen, wer sollte
denn keinen Zugang zu den eigenen Medien haben? Wir haben das Recht, uns zu organisieren und Zugang zu Werkzeugen zu haben, die uns befreien. Unsere
Nachbarn lernen unseren Kampf kennen, und zwar nicht so, wie uns die Fernsehkanäle darstellen, als faul und gewalttätig, sondern als einfache Nachbarn
mit den gleichen Problemen der Arbeitslosigkeit und Arbeit. Und vielleicht bewegt es einen der Nachbarn, der unser Programm sieht, und er wird auch aktiv.«
Die nächste Übertragung von TV-Piquetera ist bereits für die nächsten
Wochen in Planung. »Die Kamera ist ein Werkzeug, eine weitere Waffe« (Grupo Alavío).
Alexandra Wix, Buenos Aires (März 2004)
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