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Während des Bundestagswahlkampfs 2002 fand in Bochum eine Veranstaltung mit NRW-Wirtschafts- und
Arbeitsminister Harald Schartau zum Thema »Wege aus der Arbeitslosigkeit« statt. Eine Rentnerin und ehemalige Betriebsrätin aus der
Bekleidungsindustrie forderte, die Lohn- und Sozialstandards in Osteuropa denen in der BRD anzugleichen. Dann würden die Betriebsverlagerungen von
Deutschland in osteuropäische Länder aufhören und der Arbeitsplatzabbau in der BRD zumindest gestoppt.
Ich sprach über diese Argumentation mit zwei jungen tschechischen Kolleginnen, die im Büro des EGC, des europäischen
Netzwerks des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) in Prag arbeiten. Ihre spontane Reaktion war: »Gönnen deutsche Gewerkschafter uns
in Tschechien keine Arbeitsplätze?« Ein polnischer Kollege aus Klodzko reagierte ganz anders: Er fand es gut, dass sich deutsche Gewerkschaften
für eine Anhebung der Lohn- und Sozialstandards in osteuropäischen Ländern stark machen. Ich musste ihm erst erklären, dass dies
nicht die eigentliche Absicht der Argumentation war, sondern ein Verlagerungsstopp von Arbeitsplätzen nach Osteuropa.
Die drei Momentaufnahmen machen deutlich, wie unterschiedlich die Perspektiven in Europa
sind. Und dass die Argumentation jener ehemaligen Betriebsrätin aus Bochum so sehr sie auch aus ihrer Situation heraus zu verstehen ist
viel zu kurz greift. Letztlich folgt sie nur dem Prinzip, den »Schwarzen Peter« in Gestalt von Arbeitslosigkeit und Armut möglichst weit von
sich wegzuschieben. Aber ein Wegschieben von Arbeitslosigkeit und Armut in andere europäische Regionen bedeutet eben nicht, sie zu überwinden
ganz abgesehen davon, dass es auch kaum den gewünschten Erfolg haben dürfte. Denn zum einen wehren sich die Menschen in anderen
Regionen Europas zu Recht gegen ein solches Verschiebespiel. Und zum anderen bedeutet die Verlagerung von Produktionsstätten keineswegs einen
großen Wohlstandszuwachs in den Ländern, in die sie verlagert werden. Denn die dort billiger als in Deutschland hergestellten Waren sind vor allem
für den Markt in Deutschland bestimmt.
Aus osteuropäischer Sicht bedeutet dies wie ein polnischer Bischof
erläuterte , dass die reiche BRD noch reicher wird, weil sie in Ländern mit niedrigeren Löhnen produzieren lässt. Einerseits
können deutsche Konsumenten damit billiger einkaufen und Geld sparen. Und andererseits sind es eben vielfach deutsche (und westeuropäische)
Firmen, die in Osteuropa produzieren lassen und die Wertschöpfungsgewinne einstreichen. Für die osteuropäischen Länder bleibt kaum
etwas übrig. Dass dies für einen erheblichen Teil der Menschen in Deutschland nämlich für diejenigen, die in diesem Prozess
ihren Arbeitsplatz verloren haben ebenfalls gilt, ist eine andere Seite dieser Geschichte. Es spiegeln sich darin Lebensgeschichten und
Erwerbsarbeitsbiographien vieler Männer und Frauen in unserem Land und in anderen europäischen Ländern wider.
Zu Beginn der 60er Jahre kamen viele portugiesische Arbeitsmigranten nach Hameln. Viele von ihnen fanden Arbeit im dortigen AEG-Werk. Als die
Arbeitslosigkeit zu Beginn der 80er Jahre in Deutschland immer größer wurde, zogen etliche von ihnen teils motiviert durch
Rückwanderungsprämien zurück in ihre alte Heimat. Portugals Beitritt zur EU Mitte der 80er Jahre bewog weitere von ihnen
zurückzukehren. Weil aber in Portugal seit den 60er Jahren viel passiert war (immerhin waren seitdem über zwanzig Jahre vergangen), war die
Rückkehr nach Portugal nicht viel einfacher als vorher die Auswanderung nach Deutschland.
Mittlerweile gibt es das AEG-Werk in Hameln nicht mehr. Anfang der 90er Jahre hat General
Electric es aufgekauft. Nach und nach begann der neue Eigentümer, die Produktion herunterzufahren und in mehreren Schritten zu verlagern. Dies
erzeugte unter den Beschäftigten und auch unter vielen anderen Bürgerinnen und Bürgern in Hameln heftige Proteste. Trotzdem hat General
Electric Ende der 90er Jahre das Hamelner Werk geschlossen und zusammen mit den Maschinen nach Klodzko in Südwest-Polen verlagert.
Gerd Köhler, Sozialsekretär beim KDA Hameln, wollte nun Menschen aus
Portugal, Hameln und Klodzko zu einem Erfahrungsaustausch zusammen bringen in Kooperation mit dem ECG und mit Unterstützung der EKD.
Dabei ging es vor allem um die Frage, wie die Menschen in den unterschiedlichen Kontexten mit diesen Erfahrungen von Europäisierung (und letztlich
Globalisierung) umgehen, um ein gemeinsames Verstehenlernen und die Suche nach Möglichkeiten für die Betroffenen, ihre Interessen und Rechte
zu wahren.
Auf polnischer Seite wird das Projekt vom Ökumenischen Rat der Kirchen in Polen und
von der polnischen Bischofskonferenz unterstützt, da die Kirchen erkennen, dass sie sich mit der Globalisierung auseinandersetzen müssen. Aus
ihrer Sicht lässt sich dieses Projekt in den deutsch-polnischen Versöhnungsprozess einordnen. Denn die sozialen Verwerfungen infolge neoliberaler
Wirtschaftsideologie lassen zum Teil alte Ressentiments zwischen Deutschen und Polen wieder aufleben.
Im Herbst letzten Jahres und Ende März dieses Jahres besuchten wir das Werk von
General Electric in Klodzko. Als wir dabei den stellvertretenden Bürgermeister um Unterstützung für unser Projekt baten, hat es ihn mehr als
verblüfft, als er von uns hörte, dass von der beschriebenen Werksverlagerung von Hameln nach Klodzko portugiesische Arbeitnehmer betroffen
waren. Die Wanderungsbewegungen von Arbeitsmigranten in Westeuropa waren ihm nicht im geringsten bewusst. Seinerseits erzählte er uns mit etwas
ungläubigem Unterton vom Vorhaben einer spanischen Firma, in Klodzko ein Werk aufzubauen, um dort Orangen zu Saft zu verarbeiten. So wenig
konkret sind die Vorstellungen von der EU in Osteuropa. Die mit dem EU-Beitritt verknüpften Erwartungen waren wohl von anderer Art.
Die ersten Projektkontakte von Gerd Köhler nach Portugal brachten Bemerkenswertes zu Tage. Ein zentrales Thema in Portugal sind die aus
Afrika kommenden Flüchtlinge, die in Portugal ein besseres Leben suchen. Doch es gibt nicht nur Flüchtlinge aus Afrika. Die Sicherung der
Ostgrenze der EU das ist vor allem die Ostgrenze Polens, die aus enormen Finanzmitteln der EU mit einer nahezu undurchdringlichen elektronischen
Mauer versehen wird hat ganz eigene Auswirkungen auf Portugal.
In den letzten Jahren sind viele Menschen aus Weißrussland und aus der Ukraine nach
Polen gegangen, um dort zu arbeiten und Geld zu verdienen. Dies ist ihnen nun verwehrt. Doch die Not treibt sie weiter. Viele Ukrainer wandern nun über
Rumänien und das Mittelmeer nach Portugal aus, ca. 50000 leben hier offiziell also mit Aufenthaltsgenehmigung. Geschätzt wird, dass
weitere 50000 sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in Portugal aufhalten. Sie belegen sozusagen post festum, dass das sozialistische Bildungssystem durchaus
seine Stärken hatte: Im Unterschied zu portugiesischen Arbeitnehmern sind die ukrainischen schulisch und beruflich weitaus besser ausgebildet.
Unternehmen in Portugal stellen gerne Migranten aus der Ukraine ein. Das Nachsehen haben portugiesischer Arbeitnehmer.
Im Sommer letzten Jahres absolvierte Gerd Köhler ein einwöchiges Praktikum bei
VW-Auto-Europa, dem portugiesischen VW-Werk in Palmela. In eben jener Woche lief der einmillionste Wagen vom Band. Das wurde entsprechend gefeiert
einschließlich vom VW-Vorstand in Wolfsburg. Mit großer Erleichterung nahm der ebenfalls anwesende portugiesische
Ministerpräsident Durăo Barroso die Botschaft des VW-Vorstandsvorsitzenden Bernd Pischetsrieder entgegen, VW werde bis 2008 500 Millionen Euro in
das portugiesische Werk investieren; der Standort Palmela scheint damit für die nächsten fünf Jahre gesichert. VW ist der größte
Arbeitgeber in Portugal. Das Land ist abhängig von den Wolfsburger Investitionsentscheidungen. Darüber hinaus engagiert sich VW beim Aufbau
eines dualen Ausbildungssystems nach deutschem Vorbild.
Aus Sicht der Beschäftigten ist es ein Segen, bei VW arbeiten zu können: VW
zahlt auf der unteren Lohnstufe etwas mehr das Doppelte des in Portugal geltenden Mindestlohns. Darüber hinaus bietet VW den Beschäftigten und
ihren Familien gute medizinische und soziale Dienstleistungen. Größere Klagen über VW als Arbeitgeber, so Gerd Köhler, gibt es
daher kaum auch nicht seitens des Betriebsrats. Zu beklagen ist vielmehr, dass die Kollegen in den deutschen Werken kaum eine zweite Sprache
sprechen und daher die Kommunikation mit ihnen sehr schwierig ist.
Ähnliches lässt sich auch mit Blick auf osteuropäische Länder sagen. Die großen Konzerne zahlen ihren
Beschäftigten auch dort deutlich überdurchschnittliche Löhne. Allerdings reichen diese gut bezahlten und meist auch akzeptabel
ausgestatteten Arbeitsplätze nur für einen verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung. Gerne verweisen die Global Players darauf, dass
Löhne und Arbeitsbedingungen bei ihnen meist sehr viel besser sind als bei lokalen und regionalen Arbeitgebern. Als Grund nennen sie meist die
Mitbestimmung sowie die hohe öffentliche Aufmerksamkeit für die Global Player genannt.
Dass lokale und regionale Arbeitgeber aber nicht selten in die Zulieferketten eingebunden sind,
die für die Global Player arbeiten, verschweigen letztere gerne. Sie spielen eine erhebliche Rolle in der Wertschöpfung. Die Zulieferer sind zwar
rechtlich eigenständig, doch ökonomisch völlig abhängig. Ihre positive Selbsteinschätzung stimmt daher nur begrenzt
nämlich im Blick auf die Kernbelegschaft. Wegen ihrer ökonomischen Dominanz sind die Global Players in hohem Maße für die oft
sehr schlechten Arbeitsbedingungen in den Zulieferfirmen mitverantwortlich. Von ihnen geht ein enormer Preisdruck auf die Zulieferer aus, die ihn in Form
niedriger Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen an die Beschäftigten weitergeben. Am unteren Ende der Zuliefererketten gewinnt prekäre
Heimarbeit in zentral- und osteuropäischen Ländern zunehmend an Bedeutung.
Zwischen den Kernbelegschaften und den Global Players spielt der klassische Konflikt
zwischen Kapital und Arbeit nur noch eine hintergründige Rolle. Das sieht auch der Betriebsratsvorsitzende des VW-Werks in Portugal so. Die
Konfliktlinie verläuft heute eher zwischen den Global Players (die sich als Familie sehen) und den nicht dazugehörenden Teilen der Gesellschaft,
die jedoch in hohem Maße ökonomisch von ihnen abhängig sind, ihnen zuarbeiten, aber nur in minimalem Umfang am ökonomischen
Erfolg beteiligt werden.
Kehren wir noch einmal zurück zur Angst vor der Verlagerung von Arbeitsplätzen
in die Beitrittsländer. Nach Einschätzung von Fachleuten der IG Metall wird es nicht zu einer generellen Verlagerung kommen, sondern nur in
wenigen speziellen Branchen. Im ganzen gesehen teilen diese Kollegen auch die Einschätzung osteuropäischer Gesprächspartner, dass die
BRD zu den ökonomischen Gewinnern der EU-Erweiterung gehören wird. Die generelle Begründung von Arbeitsplatzverlusten in der BRD
mit Verlagerungen nach Osteuropa entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine rassistische Interpretation bzw. Umdeutung des eigentlichen Problems.
Die eigentliche Ursache des Arbeitsplatzverlustes ist der enorme technische Fortschritt der
letzten Jahrzehnte vor allem im IT-Bereich, der zu gewaltigen Rationalisierungen in Produktion, Distribution und Verwaltung geführt hat. Seit
1989 trifft diese technische Entwicklung die Gesellschaften Osteuropas aber noch viel härter als die Westeuropas. Der Verlust an Arbeitsplätzen in
Osteuropa im genannten Zeitraum belegt dies eindrücklich. Es sind also keineswegs die zentral- und osteuropäischen Gesellschaften, die den
westeuropäischen die Arbeitsplätze streitig machen. Um sich vor dieser Rassismusfalle zu schützen, hilft nur die Entwicklung der Vision
eines sozialen Europa. Ihre programmatische Forderung muss heißen: Den technischen Fortschritt in sozialen Fortschritt umsetzen europaweit und
weltweit!
Jürgen Klute
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