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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2004, Seite 19

Deutsche Linke

Neuer politischer Frühling?

von CHRISTOPH JÜNKE

Einmal mehr hat Karl-Heinz Roth einen seiner gewichtigen Beiträge zu passender Zeit in die linke Strategiedebatte geworfen. Und einmal mehr bietet er uns eine treffende Darstellung und weltpolitische Einordnung jener nun rot-grün vor sich gehenden Schleifung des Sozialstaats, die sich in der »pausenlos zugreifende[n] und arbeitsteilig abgestimmte[n] Demontage der Arbeitsmärkte, des Gesundheitswesens, des Bildungssektors, der Altersrenten und der Migrationspolitik« ausdrückt.
Man mag darüber streiten, ob diese »neue Qualität des Zugriffs« wirklich »unwiderruflich« ist. Man sollte sogar streiten über Roths Diktum, dass sich Neoliberalismus und Neokonservatismus endgültig als ein und dasselbe erwiesen hätten. Der Neoliberalismus ist zwar zutiefst reaktionär, aber nicht unbedingt neokonservativ — das zeigt uns Rot-Grün doch gerade. Doch dies nur nebenbei.
Meines Erachtens treffend führt Roth aus, dass jede linke Alternative zuallererst internationalistisch ausgerichtet und unabhängig von politischen Block-Konzepten (der Feind meines Feindes ist nicht mein Freund) sein sollte. Und wenn sich die deutsche Linke darauf einigen könnte, dass aussichtsreich nur noch »ein breites soziales Bündnis« ist, »das von Subproletariern der neuen Massenarmut über die ungesichert Beschäftigten und die industrielle Arbeiterklasse bis zu den selbstständigen Arbeiterinnen und Arbeitern alle Verlierer des Umbruchs mit einbezieht, also zwei Drittel bis drei Viertel der Gesellschaft«, und dass dieses neue Klassenbündnis wesentlich auf Prinzipien einer inneren Basisdemokratie beruhen müsse, dann wären wir sicherlich einen gehörigen Schritt weiter. Wenn sich Roth allerdings »überzeugt« gibt, »dass die Eroberung der politischen Macht kein Weg mehr ist, der zum emanzipatorischen Ziel hinführt«, so ist dies ebenso problematisch wie seine Behauptung falsch, die Arbeiterbewegung hätte gesellschaftliche Befreiung immer schon »über den Staat in Gang bringen und vollenden« wollen. Weder noch!
Historisch meinte die Arbeiterbewegung — mindestens ihr revolutionärer Flügel — nicht am mächtigen bürgerlichen Staat vorbeikommen zu können. Die Emanzipation begann jedoch als sozialrevolutionäre Basisbewegung, ebenso wie sie sich als umfassende Selbstverwaltung, als Assoziation der Individuen, vollenden sollte.
Auch heute ist diese Einschätzung durchaus aktuell, vergegenwärtigt man sich die reale Rolle der Staaten und überstaatlichen Institutionen gerade bei der neoliberalen Zurichtung der Welt. Ohne den pausenlosen Zugriff des parlamentarisch verfassten Staates und die arbeitsteilige Abstimmung von Kapitalkreisen und Staatsapparat wäre die neoliberale Offensive undenkbar. Ist es deswegen nicht legitim und notwendig, auch (auch!) diesen politischen Staat auf seinem eigenen Terrain anzugreifen? Kann man eine solche Bastion des bewaffneten Zwangs einfach ignorieren?
Genau hier setzen dann auch die zur selben Zeit bekannt gewordenen Initiativen für eine neue wahlpolitische Alternative der Linken an. Oppositioneller, außerparlamentarischer Druck sei »richtig, aber unzureichend«, so bspw. die Gruppe »Wahlalternative«. Und Recht hat sie. Wer die Funktionsweise unserer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht vollends ignorieren kann und/oder will, der kommt nun einmal nicht darum herum, dass »die parlamentarisch-politische Ebene und institutionalisierte Machtpositionen zur Durchsetzung von Interessen, aber auch für die Entwicklung längerfristig mächtiger Diskurse und der öffentlichen Meinung« (ebd.) von eminenter Wichtigkeit ist. Die überaus schlechten Erfahrungen, die wir gemacht haben mit einer auf Parlamente und Wahlen fixierten und sich mal mehr, mal weniger umstandslos in die Institutionen der bürgerlichen Demokratie integrierenden linken Opposition, entheben uns nicht der Notwendigkeit, auch das öffentlichkeitswirksame Terrain der Wahlkämpfe und der parlamentarischen Öffentlichkeit und Ressourcen immer wieder aufs Neue für gesellschaftliche Gegenmacht und politische Veränderungen zu nutzen.
Das gilt im Übrigen auch für Organisationsformen als solche. Sicherlich können Bewegungen auch ohne Organisationen mächtig und geschichtswirksam sein und sicherlich ist ohne breite Bewegung »von unten« alles andere nur wenig wert. Aber Bewegung, auch dies lehrt uns die Geschichte, kann verpuffen, wenn sie nicht Organisationsformen entwickelt, die elastisch genug sind, sich von Bewegungen positiv verändern zu lassen, und die fest genug sind, Bewegungen zu befördern und eine Richtung zu geben. Nicht das Ob von Organisationsformen sollte zur Debatte stehen, sondern das Wie und zu welchem Zweck.
Will man eine Organisierung außerparlamentarischen Drucks auf das Parlament, auf die Wahlen hin, so haben wir es mit einem Wahlverein zu tun, der seine eigene, sehr begrenzte Logik entfalten dürfte. Eine solche Organisation, stellte das ursprüngliche Selbstverständnispapier der Gruppe Wahlalternative treffend fest, bedarf einer »hauptamtliche[n] und sächliche[n] Infrastruktur« und »etliche[r] Millionen Euro«. Doch wie kann man garantieren, dass ein solcher organisatorischer Apparat nicht wie zuletzt bei den Grün-Alternativen und der PDS seine mit selbsttätiger Bewegung nicht gerade harmonisch einhergehende Eigenlogik entfaltet? Man muss nicht die »antipolitischen« Konsequenzen eines Karl Heinz Roth teilen, um sein diesbezügliches Problembewusstsein angemessen zu finden.
Die Frage einer basisdemokratischen Struktur politischer Organisationsformen ist nicht nur zu zentral, um sie so weitgehend zu ignorieren, wie bisher die »Parteigründer«-Initiativen. Sie ist auch wesentlich vermittelt zu der Frage, welchem Zweck Organisation dienen kann und muss. Wollen wir nur ein paar Gesetze rückgängig und andere an deren Stelle setzen, so dürfte die Eroberung des Parlaments ausreichend sein. Wollen wir jedoch ein grundsätzlich anderes Leben und Arbeiten durchsetzen, eine andere Gesellschaftsform, die den emanzipativen Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung zum auch institutionellen Durchbruch verhilft, so wird dies sicherlich nicht ohne breiteste, basisdemokratische Selbsttätigkeit denkbar sein. Wie muss eine politische Organisationsform strukturiert sein, die solche Selbsttätigkeit befördern kann? Keine neue, aber noch immer eine aktuelle Frage.
Wir sollten uns also nicht aus linksradikaler Ohnmacht oder Abgrenzungswahn aus einem Diskussions- und Organisierungsprozess zurückziehen oder ihn gar denunzieren, der Antworten sucht auf berechtigte individuelle und kollektive Bedürfnisse einer neoliberal in die Enge getriebenen Gesellschaft. Wir sollten uns aber auch nicht bange machen lassen, ernsthafte Fragen zu formulieren an jene, die aus linksreformerischer Ohnmacht denken, sie bräuchten nur einmal mehr einen neuen, reichlich unbestimmten Organisationsrahmen vorgeben, um alle Heimatlosen und zu Recht Erbosten harmonisch und parlamentarisch erfolgreich zu sammeln. Nicht an der Frage des Ob, sondern an den Fragen des Wie und Wozu wird sich das Schicksal dieser Initiativen entscheiden.

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