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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2004, Seite 24

Lob des Konservatismus

Heutzutage besteht eine der größten Illusionen unter aktiven Linken in der Auffassung, das von ihnen bekämpfte kapitalistische System sei im Wesentlichen eine konservative, autoritäre und patriarchalische Ordnung. Die Zeiten, in denen Kirche und Kaiser, zusammen mit dem Kapital, die wichtigsten Pfeiler des Systems bildeten, sind lange vorbei. Der Kapitalist mit dem Zylinderhut ist zu Grabe getragen. Will man sehen, wie wenig konservativ, autoritär und patriarchalisch der Kapitalismus ist, braucht man nur fünf Minuten lang seine tägliche Propaganda zu betrachten (Werbung, Mode, Jugendkultur, Big Brother, die Presse…). Man wird dann feststellen, dass das System des »Laissez faire, laissez passer« zu dem Zeitpunkt, wo es seine vollendete historische Form erreicht, mit maximaler Effizienz nur funktionieren kann, wenn es die permanente Überschreitung aller überkommenen Werte zum Grundprinzip und Motor seiner ungezügelten Expansion erhebt. Die ständige Heiligsprechung der Begierde, der »rebellischen« oder provokatorischen Pose und der unaufhaltsamen Innovation (»Kreativität, die ökonomische Erfolgsstory des 21.Jahrhunderts«) ist freilich nicht nur entwickelten Formen kapitalistischer Mentalität eigen, sie war als Idee bereits in den ersten Anfängen der liberalen Philosophie vorhanden. Von Anbeginn des kapitalistischen Systems zeigte die Bourgeoisie, dass sie eine revolutionäre Kraft war, wie Marx und Engels 1848 im Kommunistischen Manifest feststellten: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft…«

Die Notwendigkeit der Erneuerung um jeden Preis und der permanenten Infragestellung der Lebensweise — letztlich, um den neuen Anforderungen der heiliggesprochenen Ökonomie zu entsprechen — hat ihren Höhepunkt im »flexiblen Kapitalismus« erreicht. Der Begriff »flexibler Kapitalismus« beschreibt ein System, das sich gegen starre bürokratische Formen und gegen gedankenlose Routine. Die Arbeitenden müssen sich stets anpassen, für kurzfristige Veränderungen offen sein, ständig Risiken auf sich nehmen und immer weniger von Regelungen und formellen Verfahren abhängig sein. In »Der flexible Mensch« beschreibt der amerikanische Soziologe Richard Sennett die Widersprüche und Sackgassen, in die die Logik des Kapitals unvermeidlich führt: »Wie kann man in einer Gesellschaft der kurzen Fristen langfristige Ziele anstreben? Wie kann man dauerhafte soziale Beziehungen aufrecht erhalten? Wie kann ein menschliches Wesen seine Lebensgeschichte als eine kontinuierliche wahrnehmen in einer Gesellschaft, die nur Episoden und Fragmente kennt? Die neue Ökonomie führt zu stets wechselnden Erfahrungen: Man ist einmal hier, dann wieder dort, macht heute dies und morgen jenes.« Richard Sennett vertritt deshalb die Auffassung, dass ein auf kurze Fristen orientierter Kapitalismus den Charakter der Menschen zu verderben droht, vor allem jene Charaktereigenschaften, welche Menschen miteinander verbinden und den Individuen ihre Identität verleihen.

Die moderne Gesellschaft ist die erste, die mit der sonderbaren Vorstellung experimentiert, die Bestimmung des Individuums bestehe nicht darin, erwachsen zu werden, sondern jung zu bleiben, und zwar für immer. Im Reich der entfesselten Ökonomie gleicht das Leben der Menschen einem absurden Wettlauf gegen die Zeit, einem Wettlauf, nicht alt zu werden und nicht zu sterben, mit anderen Worten, sich als Menschen zu verleugnen. Abgesehen von der Tatsache, dass jede progressive Gesellschaft — die per definitionem im Schatten der Zukunft lebt — gezwungen ist, aus der Jugend einen Mythos zu machen (weil sie objektiv die Zukunft darstellt), gibt es unter der Herrschaft des Kapitals verschiedene Gründe, das absurde Verlangen nach ewiger Jugend zum Grundprinzip zu erheben. Die Existenz des Menschen als Nomade — der unaufhörlich auf dem Schachbrett der Welt gemäß den Erfordernissen der Ökonomie und der Eventkultur hin und her geschoben werden kann — verlangt nicht nur eine stabile physische Gesundheit, sondern vor allem die Eigenschaft, leben zu können, ohne tiefere und dauerhafte Beziehungen einzugehen. Will Jugend sich selber finden, muss sie mit denen brechen, die ihr erlaubt haben, so zu werden, wie sie ist; dieser Moment korrespondiert vielleicht am stärksten mit den metaphysischen Vorstellungen des Kapitals, d.h. mit der Notwendigkeit, die eigene Vergangenheit permanent zu verleugnen und mit anderen nur vorübergehende Beziehungen einzugehen.
Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit unser Körper und unsere Psyche diesen kapitalistischen Zwang ewiger Jugend vertragen, also eine Existenz, die in bisher nicht gekannter Weise atomisiert ist und permanent mobil sein muss. Um es mit den Worten von Guy Debord zu sagen: Wie weit können wir »in der Nacht umherirren«, ohne »vom Feuer verzehrt zu werden«? Die Bedeutung der Drogen unter der jungen Generation warnt uns, dass die Devise, jung zu bleiben, für die Jugend selbst zu einem Problem geworden ist. Die Angst vor dem Alter und dem Sterben nimmt in der heutigen Gesellschaft einen Raum ein, der früher unbekannt war. Und das einzige Heilmittel, das sich die liberale Ökonomie vorstellen kann, um die Krankheit, die sie hervorbringt, zu heilen, ist die angebliche Möglichkeit, den Menschen mittels der Biotechnologie neu zu erschaffen: mit anderen Worten die Schaffung dessen, was Fukuyama »Posthumanität« nennt.

Gibt es bessere Gründe für eine Sehnsucht nach der Vergangenheit? Mache ich mich mit diesen Äußerungen reaktionärer Gedanken schuldig? Jedenfalls fühle ich mich in guter Gesellschaft, wenn ich lese, was Friedrich Engels angesichts der großen Städte zu Beginn der Industrialisierung schreibt: »…hier sind die Sitten und Verhältnisse der guten alten Zeit am gründlichsten vernichtet; hier ist man weit genug gekommen, um sich bei dem Namen Old merry England gar nichts mehr denken zu können, weil man das Old England selbst nicht einmal aus der Erinnerung und den Erzählungen der Großeltern mehr kennt« (Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 1845).
Ich bin davon überzeugt, dass der Sozialismus aus der Kritik an der Modernität und vor allem am destruktiven Individualismus sowie am daraus entstandenen industriellen Katechismus hervorgegangen ist. Aus diesem Grund formulierte Friedrich Engels die erste Theoretisierung der Arbeiterproteste gegen die Modernisierung als radikale Kritik am kapitalistisch verursachten Individualismus: »…wenn wir auch wissen, dass diese Isolierung des einzelnen, diese bornierte Selbstsucht überall das Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist, so tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewusst auf als gerade hier in dem Gewühl der großen Stadt. Die Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat, die Welt der Atome ist hier auf ihre höchste Spitze getrieben.«
Wir sehen hier, dass das sozialistische Projekt von Beginn an vom Verlangen der ersten modernen Arbeiter getragen wurde, gegen die unmenschlichen Auswirkungen des industriellen Liberalismus bestimmte Formen urbaner wie ländlicher Gemeinschaft zu bewahren, da sie intuitiv fühlten, dass diese Gemeinschaftsformen den unerlässlichen kulturellen Horizont für jegliches menschliche Leben bildeten, das diesen Namen verdient. Selbstverständlich darf dieses Verlangen nach einer gemeinschaftlichen Welt nicht mit Nostalgie nach der gesellschaftlichen Hierarchie des ancien régime verwechselt werden. Aber in den Anfängen der Arbeiterbewegung bedeutete der Sozialismus nicht nur die erstrebte Gemeinschaft von Arbeitern, die endlich frei und gleich sein würden, er bedeutete auch eine wirkliche Gemeinschaft, die ein autonomes Leben aufwies und nicht durch einen Staat, wie »rational« auch immer, von außen oder von oben organisiert werden konnte. In den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« von 1844 stellt Marx fest: »Wenn die kommunistischen Handwerker sich vereinen, so gilt ihnen zunächst die Lehre, Propaganda etc. als Zweck. Aber zugleich eignen sie sich dadurch ein neues Bedürfnis, das Bedürfnis der Gesellschaft an, und was als Mittel erscheint, ist zum Zweck geworden.«
Wir sollten also diesen »konservativen« Reflex nach Gemeinschaft in Ehren halten. Ein antikapitalistischer Kampf, der nicht in der Lage ist, seine konservative Dimension zu integrieren, kann strenggenommen nicht in kohärenter Weise entwickelt werden und folglich seinen Widerpart nicht wirksam treffen. Es geht ganz und gar nicht darum, das Prinzip der Veränderung selbst abzulehnen, sehr wohl aber darum, dass der Rhythmus der Veränderung allein durch die Gesetze des Kapitals und dessen Akkumulation bestimmt wird. Und wenn die unteren Klassen im Allgemeinen wenig Eile an den Tag legen, »ihre Mentalität an die notwendigen Veränderungen anzupassen«, worüber sich die Propagandisten der »Modernisierung« beklagen, dann liegt dies natürlich nicht daran, dass sie sich immanent jeder Veränderung widersetzen, sondern weil sie unter Peitschenhieben dazu neigen, langsamer zu rennen.

Johny Lenaerts

Aus: Rood (Brüssel), April 2004 (Übersetzung aus dem Niederländischen: Hans-Günter Mull)



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