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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2004, Seite 4

Volksabstimmung zur EU-Verfassung

»Wir könnten nicht, selbst wenn wir wollten«

von CHRISTIAN POSSELT

Tschechien tut es, obwohl sie erst seit kurzem dabei sind. Spanien, Portugal, die Niederlande und Luxemburg tun es auch. Dänemark und Irland haben es schon oft getan und machen es diesmal wieder. Sogar Großbritannien wird es tun, obwohl es erst nicht durfte. In mindestens acht Staaten werden die Bürgerinnen und Bürger selbst über die geplante Europäische Verfassung abstimmen. Viele Länder haben sich noch nicht endgültig festgelegt.
»Geleitet vom Willen der Bürgerinnen und Bürger…« Mit diesen Worten beginnt Artikel 1 des Entwurfs der gemeinsamen Europäischen Verfassung. Nicht vom Willen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, möchte man ergänzen. Meinungsumfragen belegen zwar, dass knapp vier Fünftel der Bundesbürger ein EU-Referendum in Deutschland wollen. Die Politik verweigert sich jedoch beharrlich diesem Wunsch. Das Schauspiel, das sie dem Betrachter bieten wirft, kein gutes Licht auf die politischen Eliten und ihr Vertrauen zu den Menschen, die sie gewählt haben und deren Vertrauen sie beanspruchen.
Nur zwei Parteien setzen sich mit Nachdruck für einen Volksentscheid in Deutschland ein — ausgerechnet die beiden kleinsten. FDP und PDS stehen in dieser Frage ausnahmsweise Seite an Seite — und allein gegen die überwältigende Mehrheit im Bundestag. Am ehrlichsten ist noch die CDU. Sie war schon immer gegen direkte Demokratie, also auch in dieser Frage. Die bayrische Schwester CSU hingegen schwankt und überrascht fast wöchentlich mit neuen Vorschlägen. Ein wirkliches Problem hat Rot-Grün. 1998 und erneut 2002 waren Schröder, Fischer und Co. mit dem Versprechen angetreten, bundesweite Volksbegehren und Volksentscheide einzuführen. Jetzt steht sie vor dem Problem, den Menschen im Land erklären zu müssen, warum eine Abstimmung ausgerechnet im Fall der EU-Verfassung, deren historische Bedeutung sonst bei jeder Gelegenheit hervorgehoben wird, nicht angebracht sei.
Die Argumente, mit denen sich die politisch Verantwortlichen aus der Affäre ziehen wollen, sind allzu durchsichtig. Grüne und CSU fordern neuerdings ein europaweites Referendum. Das hat Charme, weil es den europäischen Geist beschwört und nationale Misstöne vermeidet. Und es ist unredlich. Die Annahme der Verfassung muss, so wollen es die bisherigen EU- Verträge, in den Mitgliedstaaten erfolgen. Eine europaweite Abstimmung, die auch verbindlichen Charakter hat, wäre deshalb gar nicht möglich — es sei denn, man änderte vorher die geltenden Verträge, wozu aber bisher niemand ernsthaft Anstalten macht.
Die peinlichsten Äußerungen kommen vom Bundeskanzler selbst: »Das Grundgesetz verbietet Volksabstimmungen«, hat er wiederholt gesagt. Das ist schlichtweg falsch. Richtig ist: Die Verfassung stellt Abstimmungen gleichberechtigt neben Wahlen. Was fehlt, sind konkrete Regelungen dafür. Sie fehlen nicht zuletzt deswegen, weil SPD, Grüne und Union im vergangenen Herbst dafür gesorgt haben, dass ein Gesetzentwurf der Liberalen scheiterte, mit dem die Grundlage für ein EU-Referendum geschaffen werden sollte. Es war denn wohl auch eine freudsche Fehlleistung, als der Kanzler kürzlich in einem Nebensatz hinzufügte: »Wir könnten keinen Volksentscheid machen, selbst wenn wir es wollten!«
Die Hoffnung stirbt jedoch bekanntlich zuletzt. Und es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass die Hoffnung in diesem Fall berechtigt ist. Tony Blairs Ankündigung eines britischen Referendums hat die Politik auch hierzulande gehörig durcheinander gewirbelt. Wenn weitere Staaten, vor allem Frankreich, sich entscheiden, das Volk zu befragen, wird es auch für die deutsche Politik eng. Zudem sind die Reihen der Parteien in dieser Frage nicht so fest geschlossen. Stimmen, die einen Volksentscheid fordern, gibt es in jeder Partei. Sie können sich aber nur dann durchsetzen, wenn in den Parteizentralen das Bewusstsein wächst, dass den Wählerinnen und Wählern das Thema wirklich am Herzen liegt. Deshalb zählt jeder Leserbrief, jedes Schreiben an einen Bundestagsabgeordneten und jede Unterschrift für ein Referendum.

Christian Posselt ist Pressesprecher von Mehr Demokratie e.V.


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