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Tarifpolitik ist nicht nur Lohnpolitik. Auch die Arbeitszeit ist hier als immanenter Faktor zu sehen. Die jeweilige
Produktivität kann dabei entweder für Lohn- und Gehaltssteigerungen und/oder für Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich
verwendet werden. Die Erfahrungen der tarifvertraglichen Arbeitszeitverkürzungen in den 80er Jahren haben dabei gezeigt, dass ihre Umsetzung
zusammen mit den realisierten Lohn- und Gehaltssteigerungen im Ergebnis verteilungsneutral waren, d.h. aus dem jeweiligen Produktivitätsfortschritt
finanziert werden konnten. Die seit etwa Mitte der 90er Jahre sowohl in West- wie in Ostdeutschland vorläufig endende Serie tarifvertraglicher
Arbeitszeitverkürzungen spiegelt sich auch darin wider, dass es, wie bereits aufgezeigt wurde, in den 90er Jahren nicht mehr zu einer Ausschöpfung
des Verteilungsspielraums kam. Anders formuliert: Es hätte ein genügend großer Spielraum für weitere Arbeitszeitverkürzungen
bestanden, ohne dass es überhaupt zu einer notwendigen Umverteilung von der Gewinn- zur Lohnquote hätte kommen müssen.
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat dabei immer betont, wie wichtig vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit und einer
zunehmenden Schere zwischen realem Wirtschaftswachstum und Produktivitätsentwicklung eine Verkürzung der Arbeitszeiten (Wochen- und/oder
Lebensarbeitszeiten), aber auch eine gleichmäßigere Verteilung der Arbeitszeiten unter den Beschäftigten nicht zuletzt im Hinblick
auf die Verteilung zwischen den Geschlechtern ist. Dies gilt auch für Ostdeutschland. Im Juni letzten Jahres haben wir diesbezüglich den
Tarifkonflikt in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie mit einem Sondermemorandum (»35-Stunde-Woche in Ostdeutschland gerecht,
wirksam und bezahlbar. Argumente gegen die ideologische Verteufelung der Gewerkschaften«) nachhaltig unterstützt.
Wie wichtig dabei weitere Arbeitszeitverkürzungen sind, zeigt bereits die Tatsache, dass
selbst reale Wachstumsraten von (nur) einem Prozent Produktionsrekorde bei einem mittlerweile erreichten Bruttoinlandsprodukt von über 2,1 Billionen
Euro implizieren. Zusätzliche Arbeitsplätze entstehen aber erst aufgrund eines fortwährenden Produktivitätsanstiegs ab einer
Beschäftigungsschwelle, die etwa bei 2% realem Wirtschaftswachstum liegt. Um demnach die ökonomisch erdrückende und gesellschaftlich
zerstörerisch wirkende Massenarbeitslosigkeit abzubauen, müsste die Wirtschaft über Jahre hinweg um rund 56% real wachsen. Dies
ist ökonomisch unrealistisch und auch ökologisch nicht wünschenswert.
Will man sich, wie die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, dennoch nicht vom Ziel
eines »hohen Beschäftigungsstands« verabschieden, so gibt es zu massiven Arbeitszeitverkürzungen keine Alternative. Es sei denn,
man setzt wie Bundesregierung und Opposition mit der Agenda 2010 in einer quasi großen politischen Koalition auf eine Zerstörung des
Sozialstaats, auf gesellschaftliche Segmentierung und Ausgrenzung in Form einer Bekämpfung der sozial Schwachen und Arbeitslosen und nicht auf eine
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Dies halten wir für einen ökonomisch kontraproduktiven und sozialpolitisch gefährlichen Weg.
Ökonomisch völlig unverständlich sind vor diesem Hintergrund politische
Forderungen, die lahmende Wirtschaft durch Arbeitszeitverlängerungen zu beleben. Als Beleg dafür wird das bundesdeutsche Wachstum
angeführt, das in diesem Jahr allein deshalb um 0,6 Prozentpunkte ansteige, weil viele Feiertage auf einen Sonntag fielen und deshalb mehr gearbeitet
werde. Außerdem seien die Deutschen »Freizeitweltmeister« und die Lohnkosten pro Stunde ohnehin viel zu hoch. Man suggeriert der
Öffentlichkeit, dass durch Arbeitszeitverlängerungen die Lohnkosten sinken würden und dadurch automatisch auch die Nachfrage nach
Arbeitskräften steigen würde. So einfach funktioniert für Stoiber, Merkel, Westerwelle, Clement und Co., unterstützt durch
Arbeitgeberfunktionäre, die Wirtschaft. Alle vereint sie der Glaube, dass durch Mehrarbeit die deutsche Volkswirtschaft wieder »gesunden«
könne.
Die Notwendigkeit von Arbeitszeitverlängerungen die nichts anderes sind als die
Ausweitung eines potenziellen Arbeitsangebots mit einer Wachstumsschwäche zu begründen, bedeutet im Umkehrschluss, dass Mehrarbeit
automatisch auch mehr Wachstum bringt. Diese Aussage ist dann und nur dann richtig, wenn Arbeit knapp ist bzw. die Arbeitsnachfrage weit
über dem Arbeitsangebot liegt und es dadurch zu Wachstumsbegrenzungen kommt. So wurde in der Bundesrepublik gegen Ende der 50er und in den 60er
Jahren unter der Bedingung von Vollbeschäftigung mit einer Arbeitsangebotsausweitung durch die Anwerbung von Gastarbeitern auf den Engpassfaktor
Arbeit reagiert.
Seit Mitte der 70er Jahre, und insbesondere seit der Wiedervereinigung, haben wir aber den Fall von Massenarbeitslosigkeit und damit ungenutzte
Arbeitskraft bzw. Arbeitszeit in Relation zur Nachfrage im Überfluss. Dies mit Arbeitszeitverlängerung zu bekämpfen, ist absurd. Mehr
Arbeitszeit allein bringt kein größeres Wachstum, da schließlich die in der längeren individuellen Arbeitszeit zusätzlich
erzeugten Güter auch abgesetzt werden müssen. Liegt aber, wie in Deutschland, seit Jahren eine tief greifende binnenwirtschaftliche
Nachfrageschwäche vor, so werden die mehr produzierten Güter wegen der Nachfrageschwäche im Inland kaum Abnehmer finden, und die
marktkonforme Reaktion auf Arbeitszeitverlängerungen wäre nichts als eine weitere Zunahme der sowieso schon bestehenden
Massenarbeitslosigkeit. Das größte ökonomische Problem in Deutschland ist derzeit der zu schwache Konsum, die aufgrund einer falsch
verteilten Kaufkraft zu große gesamtwirtschaftliche Sparquote und das infolge einer weitgehend prozyklischen Finanzpolitik insgesamt zu gering
ausgeprägte Wachstum.
Wenn es außerdem so einfach wäre, über mehr Arbeitszeit mehr Wachstum
zu generieren, so müssten die Volkswirtschaften Frankreichs und Italiens, die in Europa mit den kürzesten tatsächlichen Arbeitszeiten
aufwarten, eigentlich das geringste Wirtschaftswachstum und die höchsten Arbeitslosenzahlen haben. Dies ist bekanntlich aber nicht der Fall. Und auch
zwischen Produktivität und Arbeitszeit gibt es eher den Zusammenhang, dass kurze Arbeitszeiten wie eine »Produktivitätspeitsche«
wirken, während lange Arbeitszeiten Anlass zu Zeitverschwendung geben. Dies belegen Forschungsergebnisse des Instituts Arbeit und Technik (IAT).
So ist z.B. die Arbeitsproduktivität pro Stunde in Großbritannien, dem Land mit
den längsten tatsächlichen Arbeitszeiten in der EU, deutlich niedriger als in den Ländern mit kurzen Arbeitszeiten. Außerdem liegen
die für das Arbeitsangebot entscheidenden tatsächlichen Arbeitszeiten der Vollzeitarbeitnehmer in Deutschland im Schnitt rund zweieinhalb
Stunden über der tariflich festgelegten Arbeitszeit. Die faktische Normalarbeitszeit abhängig beschäftigter Vollzeitkräfte in beiden
Teilen Deutschlands ist im Durchschnitt die 40-Stunden-Woche.
Nach den tarifvertraglichen Arbeitszeitverkürzungen der 80er Jahre sind die
Arbeitszeiten ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre eindeutig wieder länger geworden. Demnach hätte es auch in Deutschland zu mehr
Wachstum und Beschäftigung kommen müssen. Das Institut stellte zudem fest, dass die Arbeitszeiten in Deutschland mit 39,9 Stunden je Woche
dem EU-Durchschnitt entsprechen (vgl. Tabelle) und dass Arbeitszeitverlängerungen notwendige Reformen der betrieblichen und gesellschaftlichen
Arbeitszeitorganisation kontraproduktiv behindern würden.
In Wirklichkeit geht es der arbeitgeberorientierten Interessenpolitik, aber auch neoliberalen
Ökonomen wie z.B. dem Präsidenten des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, nicht um eine plumpe Anhebung der Arbeitszeiten, sondern um weitere
Umverteilungen durch Lohnkürzungen zugunsten der Gewinn- und Vermögenseinkommen. Sie sollen jedoch, so ist es intendiert, nicht bemerkt
werden. Das Ziel dabei ist, die Arbeitszeit ohne Bezahlung zu verlängern, was für Beamten übrigens schon vollzogen ist. Werden zwei oder
drei Stunden in der Woche ohne Lohnausgleich zusätzlich gearbeitet, so sinkt zwar das Einkommen je Arbeitsstunde. Bleibt aber das ausgezahlte Geld am
Monatsende das gleiche, wird es so mancher gar nicht merken, lautet das Motto. Ein derartiges Abzocken fällt entgegen einer Infratest-dimap-Umfrage,
nach der 69% der befragten bundesdeutschen Berufstätigen auch längere Arbeitszeiten ohne Bezahlung in Kauf nehmen würden,
natürlich auf. Aber die Arbeitnehmer sind offensichtlich aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren mittlerweile selbst dazu bereit.
Obwohl seit rund zwanzig Jahren in Deutschland die Einkommen der abhängig
Beschäftigen weit hinter den Produktivitäten zurückbleiben und die verteilungsneutralen Spielräume nicht ausgenutzt wurden sowie
alle bisher vollzogenen Arbeitszeitverkürzungen mit einem zusätzlichen Verzicht auf sonst mögliche Lohnerhöhungen bezahlt worden
sind, scheut man sich nicht einmal mehr, unter dem Deckmantel der Arbeitszeitverlängerung weitere Umverteilungsprozesse zu forcieren. Dass aber die
nicht ausgeschöpften Produktivitäten für Löhne und Arbeitszeitverkürzung (und damit die Überlastung zugunsten der
Unternehmen) nicht zu mehr Wachstum und Beschäftigung geführt haben wie dies von den Neoliberalen gebetsmühlenhaft immer
wieder behauptet wird , wird nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen. Dies zeigt in erschreckender Form, auf welch niedrigem Niveau die
wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland angekommen ist.
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
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