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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2004, Seite 6

Memorandum 2004

Arbeitszeitverlängerung ist Unsinn

Bei dem Text handelt es sich um einen kleinen Auszug aus dem jüngsten Memorandum der AG Alternative Wirtschaftspolitik. Das Memorandum 2004. Alternativen zur Wirtschaftspolitik ist im Kölner Papyrossa-Verlag erschienen (16,50 Euro).

Tarifpolitik ist nicht nur Lohnpolitik. Auch die Arbeitszeit ist hier als immanenter Faktor zu sehen. Die jeweilige Produktivität kann dabei entweder für Lohn- und Gehaltssteigerungen und/oder für Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich verwendet werden. Die Erfahrungen der tarifvertraglichen Arbeitszeitverkürzungen in den 80er Jahren haben dabei gezeigt, dass ihre Umsetzung zusammen mit den realisierten Lohn- und Gehaltssteigerungen im Ergebnis verteilungsneutral waren, d.h. aus dem jeweiligen Produktivitätsfortschritt finanziert werden konnten. Die seit etwa Mitte der 90er Jahre sowohl in West- wie in Ostdeutschland vorläufig endende Serie tarifvertraglicher Arbeitszeitverkürzungen spiegelt sich auch darin wider, dass es, wie bereits aufgezeigt wurde, in den 90er Jahren nicht mehr zu einer Ausschöpfung des Verteilungsspielraums kam. Anders formuliert: Es hätte ein genügend großer Spielraum für weitere Arbeitszeitverkürzungen bestanden, ohne dass es überhaupt zu einer notwendigen Umverteilung von der Gewinn- zur Lohnquote hätte kommen müssen.

Aktualität der Arbeitszeitverkürzung

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat dabei immer betont, wie wichtig vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit und einer zunehmenden Schere zwischen realem Wirtschaftswachstum und Produktivitätsentwicklung eine Verkürzung der Arbeitszeiten (Wochen- und/oder Lebensarbeitszeiten), aber auch eine gleichmäßigere Verteilung der Arbeitszeiten unter den Beschäftigten — nicht zuletzt im Hinblick auf die Verteilung zwischen den Geschlechtern — ist. Dies gilt auch für Ostdeutschland. Im Juni letzten Jahres haben wir diesbezüglich den Tarifkonflikt in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie mit einem Sondermemorandum (»35-Stunde-Woche in Ostdeutschland — gerecht, wirksam und bezahlbar. Argumente gegen die ideologische Verteufelung der Gewerkschaften«) nachhaltig unterstützt.
Wie wichtig dabei weitere Arbeitszeitverkürzungen sind, zeigt bereits die Tatsache, dass selbst reale Wachstumsraten von (nur) einem Prozent Produktionsrekorde bei einem mittlerweile erreichten Bruttoinlandsprodukt von über 2,1 Billionen Euro implizieren. Zusätzliche Arbeitsplätze entstehen aber erst aufgrund eines fortwährenden Produktivitätsanstiegs ab einer Beschäftigungsschwelle, die etwa bei 2% realem Wirtschaftswachstum liegt. Um demnach die ökonomisch erdrückende und gesellschaftlich zerstörerisch wirkende Massenarbeitslosigkeit abzubauen, müsste die Wirtschaft über Jahre hinweg um rund 5—6% real wachsen. Dies ist ökonomisch unrealistisch und auch ökologisch nicht wünschenswert.
Will man sich, wie die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, dennoch nicht vom Ziel eines »hohen Beschäftigungsstands« verabschieden, so gibt es zu massiven Arbeitszeitverkürzungen keine Alternative. Es sei denn, man setzt wie Bundesregierung und Opposition mit der Agenda 2010 in einer quasi großen politischen Koalition auf eine Zerstörung des Sozialstaats, auf gesellschaftliche Segmentierung und Ausgrenzung in Form einer Bekämpfung der sozial Schwachen und Arbeitslosen und nicht auf eine Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Dies halten wir für einen ökonomisch kontraproduktiven und sozialpolitisch gefährlichen Weg.
Ökonomisch völlig unverständlich sind vor diesem Hintergrund politische Forderungen, die lahmende Wirtschaft durch Arbeitszeitverlängerungen zu beleben. Als Beleg dafür wird das bundesdeutsche Wachstum angeführt, das in diesem Jahr allein deshalb um 0,6 Prozentpunkte ansteige, weil viele Feiertage auf einen Sonntag fielen und deshalb mehr gearbeitet werde. Außerdem seien die Deutschen »Freizeitweltmeister« und die Lohnkosten pro Stunde ohnehin viel zu hoch. Man suggeriert der Öffentlichkeit, dass durch Arbeitszeitverlängerungen die Lohnkosten sinken würden und dadurch automatisch auch die Nachfrage nach Arbeitskräften steigen würde. So einfach funktioniert für Stoiber, Merkel, Westerwelle, Clement und Co., unterstützt durch Arbeitgeberfunktionäre, die Wirtschaft. Alle vereint sie der Glaube, dass durch Mehrarbeit die deutsche Volkswirtschaft wieder »gesunden« könne.
Die Notwendigkeit von Arbeitszeitverlängerungen — die nichts anderes sind als die Ausweitung eines potenziellen Arbeitsangebots — mit einer Wachstumsschwäche zu begründen, bedeutet im Umkehrschluss, dass Mehrarbeit automatisch auch mehr Wachstum bringt. Diese Aussage ist dann — und nur dann — richtig, wenn Arbeit knapp ist bzw. die Arbeitsnachfrage weit über dem Arbeitsangebot liegt und es dadurch zu Wachstumsbegrenzungen kommt. So wurde in der Bundesrepublik gegen Ende der 50er und in den 60er Jahren unter der Bedingung von Vollbeschäftigung mit einer Arbeitsangebotsausweitung durch die Anwerbung von Gastarbeitern auf den Engpassfaktor Arbeit reagiert.

Konsum statt Lohnkürzung

Seit Mitte der 70er Jahre, und insbesondere seit der Wiedervereinigung, haben wir aber den Fall von Massenarbeitslosigkeit und damit ungenutzte Arbeitskraft bzw. Arbeitszeit in Relation zur Nachfrage im Überfluss. Dies mit Arbeitszeitverlängerung zu bekämpfen, ist absurd. Mehr Arbeitszeit allein bringt kein größeres Wachstum, da schließlich die in der längeren individuellen Arbeitszeit zusätzlich erzeugten Güter auch abgesetzt werden müssen. Liegt aber, wie in Deutschland, seit Jahren eine tief greifende binnenwirtschaftliche Nachfrageschwäche vor, so werden die mehr produzierten Güter wegen der Nachfrageschwäche im Inland kaum Abnehmer finden, und die marktkonforme Reaktion auf Arbeitszeitverlängerungen wäre nichts als eine weitere Zunahme der sowieso schon bestehenden Massenarbeitslosigkeit. Das größte ökonomische Problem in Deutschland ist derzeit der zu schwache Konsum, die aufgrund einer falsch verteilten Kaufkraft zu große gesamtwirtschaftliche Sparquote und das infolge einer weitgehend prozyklischen Finanzpolitik insgesamt zu gering ausgeprägte Wachstum.
Wenn es außerdem so einfach wäre, über mehr Arbeitszeit mehr Wachstum zu generieren, so müssten die Volkswirtschaften Frankreichs und Italiens, die in Europa mit den kürzesten tatsächlichen Arbeitszeiten aufwarten, eigentlich das geringste Wirtschaftswachstum und die höchsten Arbeitslosenzahlen haben. Dies ist bekanntlich aber nicht der Fall. Und auch zwischen Produktivität und Arbeitszeit gibt es eher den Zusammenhang, dass kurze Arbeitszeiten wie eine »Produktivitätspeitsche« wirken, während lange Arbeitszeiten Anlass zu Zeitverschwendung geben. Dies belegen Forschungsergebnisse des Instituts Arbeit und Technik (IAT).
So ist z.B. die Arbeitsproduktivität pro Stunde in Großbritannien, dem Land mit den längsten tatsächlichen Arbeitszeiten in der EU, deutlich niedriger als in den Ländern mit kurzen Arbeitszeiten. Außerdem liegen die für das Arbeitsangebot entscheidenden tatsächlichen Arbeitszeiten der Vollzeitarbeitnehmer in Deutschland im Schnitt rund zweieinhalb Stunden über der tariflich festgelegten Arbeitszeit. Die faktische Normalarbeitszeit abhängig beschäftigter Vollzeitkräfte in beiden Teilen Deutschlands ist im Durchschnitt die 40-Stunden-Woche.
Nach den tarifvertraglichen Arbeitszeitverkürzungen der 80er Jahre sind die Arbeitszeiten ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre eindeutig wieder länger geworden. Demnach hätte es auch in Deutschland zu mehr Wachstum und Beschäftigung kommen müssen. Das Institut stellte zudem fest, dass die Arbeitszeiten in Deutschland mit 39,9 Stunden je Woche dem EU-Durchschnitt entsprechen (vgl. Tabelle) und dass Arbeitszeitverlängerungen notwendige Reformen der betrieblichen und gesellschaftlichen Arbeitszeitorganisation kontraproduktiv behindern würden.
In Wirklichkeit geht es der arbeitgeberorientierten Interessenpolitik, aber auch neoliberalen Ökonomen wie z.B. dem Präsidenten des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, nicht um eine plumpe Anhebung der Arbeitszeiten, sondern um weitere Umverteilungen durch Lohnkürzungen zugunsten der Gewinn- und Vermögenseinkommen. Sie sollen jedoch, so ist es intendiert, nicht bemerkt werden. Das Ziel dabei ist, die Arbeitszeit ohne Bezahlung zu verlängern, was für Beamten übrigens schon vollzogen ist. Werden zwei oder drei Stunden in der Woche ohne Lohnausgleich zusätzlich gearbeitet, so sinkt zwar das Einkommen je Arbeitsstunde. Bleibt aber das ausgezahlte Geld am Monatsende das gleiche, wird es so mancher gar nicht merken, lautet das Motto. Ein derartiges Abzocken fällt entgegen einer Infratest-dimap-Umfrage, nach der 69% der befragten bundesdeutschen Berufstätigen auch längere Arbeitszeiten ohne Bezahlung in Kauf nehmen würden, natürlich auf. Aber die Arbeitnehmer sind — offensichtlich aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren — mittlerweile selbst dazu bereit.
Obwohl seit rund zwanzig Jahren in Deutschland die Einkommen der abhängig Beschäftigen weit hinter den Produktivitäten zurückbleiben und die verteilungsneutralen Spielräume nicht ausgenutzt wurden sowie alle bisher vollzogenen Arbeitszeitverkürzungen mit einem zusätzlichen Verzicht auf sonst mögliche Lohnerhöhungen bezahlt worden sind, scheut man sich nicht einmal mehr, unter dem Deckmantel der Arbeitszeitverlängerung weitere Umverteilungsprozesse zu forcieren. Dass aber die nicht ausgeschöpften Produktivitäten für Löhne und Arbeitszeitverkürzung (und damit die Überlastung zugunsten der Unternehmen) nicht zu mehr Wachstum und Beschäftigung geführt haben — wie dies von den Neoliberalen gebetsmühlenhaft immer wieder behauptet wird —, wird nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen. Dies zeigt in erschreckender Form, auf welch niedrigem Niveau die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland angekommen ist.
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

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