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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2004, Seite 10

Altersvorsorge in der Schweiz

Frauendiskriminierung oder uneingeschränkte Solidarität

Seit Jahren ist in allen westlichen Industrieländern ein intensiver Propagandafeldzug gegen Altersvorsorgesysteme im Gange, die auf dem Solidarprinzip zwischen den Generationen beruhen. Eine genauere Analyse lässt sehr schnell erkennen, dass die Altersvorsorge der Frauen aufgrund ihrer gesellschaftlichen und sozialen Stellung und ihrer unterschiedlichen Erwerbslaufbahn von dieser Politik ganz besonders betroffen ist. Diskussionen und Vorschläge rund um die aktuelle AHV-Revision (»Reform« der Alters- und Hinterlassenenversicherung) zeigen dies ganz deutlich.
Werfen wir vorerst einen Blick auf die Entstehung unseres Altersvorsorgesystems und insbesondere auf die Situation der Frauen in diesem System. Wie in den meisten westeuropäischen Ländern bildete auch in der Schweiz die fortschreitende Industrialisierung zu Beginn des 20.Jahrhunderts den Hintergrund für die Notwendigkeit, gesellschaftliche und staatliche Sozialversicherungen einzurichten. Folgenschwer waren die Auswirkungen der industrialisierten Arbeits- und Produktionsweise auf die sozialen Gemeinschaften (»Generationenfamilie«): Sie brachen weitgehend auseinander. Breite Bevölkerungsschichten waren in der Folge von tiefer und sich ausbreitender Armut betroffen.

Der Beveridge-Plan

In den meisten westeuropäischen Industrieländern war der englische »Beveridge-Plan« von 1942 mehr oder weniger Vorbild für den Aufbau der Sozialversicherungen: Er sah eine Versicherung für alle Arten von Arbeit in der ganzen Gesellschaft vor. Fürsorgeleistungen wurden als unvereinbar mit der Menschenwürde aufgefasst und sollten durch Versicherungsleistungen ersetzt werden. Mit einem solchen Versicherungssystem war die Hoffnung verbunden, die Armut vor allem im Alter endgültig zu beseitigen.
Die Finanzierung der gesellschaftlich organisierten sozialen Sicherungssysteme nach dem Umlageverfahren basieren auf dem Solidarausgleich für Kosten, die mit der Erwerbsarbeit verbunden sind und durch die Allgemeinheit getragen werden. Es sind dies primär Kosten der Erwerbslosigkeit, Einkommenslosigkeit im Alter und der Krankheit. Daraus leitet sich die Notwendigkeit eines Solidarausgleichs ab. Diejenigen, die auf Erwerbsarbeit als Einkommensquelle angewiesen sind, bedürfen des gesellschaftlich organisierten Schutzes für den Fall, dass sie nicht oder nicht mehr gegen Lohn arbeiten können. Erwerbstätige verpflichten sich deshalb, ihren Beitrag zu den notwendigen Kosten für gesellschaftlich organisierte soziale Sicherung zu leisten.
Der Solidarausgleich wird fast ausschließlich durch Lohnanteile von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden finanziert. Jeder Lohnanteil, ob er nun der Arbeitnehmer- oder der Arbeitgeberseite zugerechnet wird, wird im Arbeitsprozess erwirtschaftet. Demzufolge ist real auch der Arbeitgeberanteil ein Lohnbestandteil. Jede Senkung dieses Anteils führt in der Konsequenz zu einer Lohnkürzung, das wird vom Begriff der paritätischen Finanzierung nicht selten verdeckt.
Obschon soziale Sicherungssysteme im Wohlfahrtsstaat das Ziel haben, zwischen unterschiedlich starken wirtschaftlichen Gruppen einen Ausgleich herzustellen, hängt bis dahin die Höhe der aus der Altersvorsorge verfügbaren Rente vom Umfang der geleisteten Erwerbsarbeit und von ihrem gesellschaftlichen und monetären Wert ab, wobei die Erwerbsarbeit der Einzelperson oder des Ehepartners die Bemessungsgrundlage abgibt.
Für Leistungen an verheiratete Frauen ging der »Beveridge-Plan« davon aus, dass die überwiegende Mehrheit dieser Frauen »mit einer Arbeit beschäftigt sei, die, wenngleich unbezahlt, lebenswichtig sei, ohne welche die Ehemänner ihre bezahlte Arbeit nicht verrichten könnten und ohne die die Nation nicht weiterbestehen könnte«. Hausfrauen sollten im Gegensatz zu allen Versicherten keine Beiträge bezahlen müssen. Dafür sollten die Männerbeiträge höher sein als die Frauenbeiträge, damit auch die Leistungen an die Hausfrauen abgedeckt wären. Die Beiträge der Ehemänner sollten den Hausfrauen einen Anspruch auf Mutterschaftsbeihilfen, auf Witwen- und Altersrenten sowie auf eine Ehetrennungsversicherung zusichern. Die Ehetrennungsversicherung ging von einer hälftigen Teilung der Ansprüche aus. Der »Beveridge-Plan« anerkannte die Hausfrauentätigkeit und sah deshalb für verheiratete Frauen bei Trennung oder Scheidung dieselben Ansprüche wie für Witwen vor, das heißt eine vorübergehende Trennungsentschädigung, eine Umschulungsunterstützung sowie Beiträge für Kinder in der Obhut der Frau.
Der »Beveridge-Plan« verhalf in der Schweiz der AHV zum Durchbruch; sie ist die größte schweizerische Sozialversicherung und beruht auf dem Umlageverfahren. Doch sie behandelt Frauen und Männer ungleich. Faktoren wie unzureichendes und/oder niederes Einkommen, Teilzeitarbeit und/oder Unterbrechungen in der Erwerbsarbeit wurden bei der Einführung der AHV im Jahre 1948 nicht angemessen berücksichtigt, folglich wurden auch keine Instrumente für einen Ausgleich geschaffen, was eigentlich der Grundidee der AHV entsprochen hätte. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Höhe der Altersrente. Davon sind überwiegend Frauen betroffen, die Kinder betreuen, Angehörige pflegen oder in der Hauptsache Arbeiten in der eigenen Familie verrichten.
Die Ausgestaltung der AHV spiegelte die herrschenden Geschlechterverhältnisse in der patriarchalischen Gesellschaft wider: Alleinstehende Frauen wurden als »zu vernachlässigende Größe« angesehen. Ohne die Kosten für ihre Lebensbedürfnisse zu berücksichtigen, wurden sie mit minimalen Renten ausgestattet. Ehefrauen wurden dem Mann zugeordnet, was sie in Abhängigkeit brachte. Den Männern wurde die Ernährerrolle übertragen, die durch den Staat ersetzt wurde, falls sie starben. Von Anfang an waren die Rentenauszahlungen stark vom Zivilstand abhängig. Man(n) war weit entfernt von Diskussionen und Forderungen, die verlangten, dass der unbezahlten Arbeitsleistung von Frauen Rechnung zu tragen sei, noch wurde eine andere Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern in Betracht gezogen. Ungleichheiten im Erwerbsleben wurden im wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystem reproduziert.

Rentenreformen

Die Ungleichheiten zwischen Mann und Frau waren in den Nachkriegsjahren bis in die 90er Jahre immer wieder Anlass zur Diskussion. Die AHV- Revisionen (Rentenreformen) konnten keine namhaften Verbesserungen durchsetzen. Die 10.AHV-Revision (1997) erschien jedoch bahnbrechend für die Besserstellung der Frauen in der Altersvorsorge. Als wichtigste Änderung gilt die gesplittete Ehepaarrente und die Einführung einer zivilstandsunabhängigen Gutschrift für Erziehungs- und Betreuungsarbeit. Im Sinne einer individuellen Rente erhält die Ehefrau nun ihre eigene Altersrente ausbezahlt.
Dennoch fällt für viele Ehefrauen die Rente kleiner aus als die des Ehepartners, weil die Frauenerwerbseinkommen in der Regel nach wie vor niedriger sind. Die 10.AHV-Revision setzte aber gleichzeitig das Frauenrentenalter auf 64 Jahre herauf — um kostenneutral zu sein. Für einen Teil der Frauenbewegung war dies inakzeptabl, denn es verlangte einmal mehr von den Frauen, dass sie für die Kosten der Gleichstellung aufkommen.
Mit der darauf folgenden AHV-Revision schlug das Pendel wieder in die andere Richtung aus. Nun sollen Einsparungen von beinahe einer Milliarde Franken realisiert werden, angeblich um den finanziellen Fortbestand der AHV zu sichern. Bei genauerem Hinsehen geschieht dies zum überwiegenden Teil auf Kosten der Frauen: Das Frauenrentenalter soll nochmals auf 65 Jahre erhöht und an das Rentenalter der Männer angeglichen werden. Dazu muss das Gleichstellungsargument herhalten, was nichts anderes darstellt, als eine Anpassung an den schlechteren Standard.
Ein weiterer Punkt ist die Kürzung der Ansprüche auf Witwenrente. Prinzipiell könnte man die Witwenrente abschaffen, wenn Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich gleichgestellt wären und jeweils eigenständig ihre Existenz sichern könnten. Vor allem wäre nach zivilstandsunabhängigen Lösungen zu suchen, etwa in Richtung einer Rente für all jene Personen, die — ob unverheiratet, verwitwet oder geschieden — allein für eine Familie aufkommen müssen. Diese Bedingungen sind aktuell jedoch nicht gegeben, weshalb die teilweise oder völlige Abschaffung der Witwenrente abgelehnt werden muss.
Das Solidarprinzip zwischen den Generationen ist bislang noch unbestritten. Das Prinzip der Universalität aber, des Ausgleichs zwischen wirtschaftlich stärkeren und wirtschaftlich schwächeren Gruppen, wird stark in Frage gestellt. Seit nunmehr zehn Jahren arbeitet der Bundesrat daran, dass der Existenzbedarf der Rentnerinnen und Rentner fortan nicht mehr allein durch die AHV, sondern durch ein »Drei-Säulen-System« sowie Ergänzungsleistungen gedeckt werden müsse. Frauen und Männer wären im Alter unterschiedlich betroffen: Aktuellen Statistiken zufolge ist nur jede zweite Frau in der »Zweiten Säule« (berufliche Vorsorge) versichert. Gemäß Bundesverfassung soll aber die berufliche Vorsorge zusammen mit der AHV die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglichen. Auf eine dritte Säule (private Vorsorge) können noch weniger Frauen zurückgreifen. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass die Hälfte der Frauen im Ruhestand eine ungenügende Altersvorsorge haben.
Der Einbezug von Ergänzungsleistungen (EL) in den Existenzdeckungsanspruch nach dem Bedarfsprinzip stellt eine artfremde »vierte Säule« in der ansonsten nach dem allgemeinen Versicherungsprinzip funktionierenden AHV dar. Anders als Versicherungsleistungen, bei denen sich der Anspruch direkt aus Recht und Beitragszahlungen einerseits und dem Eintritt ins Rentenalter andererseits ableitet, sind Ergänzungsleistungen vergleichbar mit der Sozialhilfe, die aus allgemeinen öffentlichen Mitteln finanziert werden. Zwar besteht klarer Rechtsanspruch auf Ergänzungsleistungen, sie sind aber einer Bedarfsklausel unterstellt. Die Grundidee der AHV wird auf diese Weise unterlaufen, und zwar abermals zuungunsten der Frauen. Gemäß Statistik sind von allen EL-Bezügern im Rentenalter drei Viertel Frauen. Weit mehr Frauen sind also auf diese bedarfsabhängigen Leistungen angewiesen und kommen nicht in den Genuss von einer existenzsichernden Altersvorsorge, wie sie die AHV gemäß Verfassungsauftrag zu leisten hätte.

Solidarische Altersversicherung

Was in der Diskussion um AHV-Revision und Kosten der Altersvorsorge fast immer außer Acht gelassen wird, ist die »private« Haus- und Familienarbeit, die das Funktionieren des so genannten »öffentlichen« Bereichs überhaupt erst ermöglicht. Gemäß Bundesamt für Statistik widmeten die Frauen 1995 durchschnittlich 23,4 Stunden pro Woche der Haus- und Betreuungsarbeit, die Männer 10,1 Stunden. Der Wert der in der Schweiz insgesamt unbezahlt geleisteten Arbeit wird für jenes Jahr auf 214,235 Milliarden Franken berechnet, mithin auf 57,9% des Bruttoinlandprodukts. Der Anteil der Frauen daran beträgt 141,26 Milliarden Franken, also zwei Drittel.
Am meisten fällt dabei die unbezahlte Haus- und Betreuungsarbeit ins Gewicht, sie beläuft sich wertmäßig auf 43,6% des BIP. Solche Berechnungen belegen die ungeheure Leistung der Frauen zugunsten der Gesellschaft — und die enormen Einsparungen, die die Volkswirtschaft auf dem Rücken der Frauen realisieren kann. Diese unerlässliche gesellschaftliche Leistung bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen ist das Gebot der Stunde!
Die Einrichtung der AHV basiert auf dem Grundgedanken, dass Fürsorgeleistungen mit der Menschenwürde unvereinbar und daher durch Versicherungsleistungen zu ersetzen sind, und dass Armut im Alter, selbstverständlich auch bei den Frauen, endgültig zu beseitigen ist. Dies ist aktueller denn je. Die Forderung nach Altersrenten, die ein menschenwürdiges Leben und die Existenz der Frauen im Alter sichern, muss leitendes Prinzip sein. Frauen, die ein Leben lang gearbeitet haben und in unserer Gesellschaft in der Regel schlecht, unter- oder überhaupt nicht bezahlt werden, und die mit ihren immensen Leistungen, oft unsichtbar, zum Wohle der Gemeinschaft im engeren wie im weiteren Sinne beitragen, haben ein Recht auf Teilhabe am Wohlstand einer reichen Gesellschaft. Wohlstand ist nicht einer bestimmten Bevölkerungsgruppe vorbehalten. Wohlstand wird in erster Linie im gesellschaftlichen Arbeitsprozess erarbeitet. Von daher muss die private, äußerst ungleiche Aneignung der Produktivitätsgewinne radikal in Frage gestellt werden. Der geschaffene Mehrwert, namentlich Produktivitätsgewinne sind in die Lohnsumme einzurechnen.
Am Prinzip einer universellen Sozialversicherung muss festgehalten werden, sie muss uneingeschränkt auf gegenseitiger Solidarität beruhen und die existenziellen Bedürfnisse auch derjenigen decken, die den wirtschaftlich schwächeren Gruppen angehören. Keinesfalls dürfen Altersrenten einer Bedarfsklausel unterstellt werden. Ein Versicherungssystem mit Rechtsanspruch auf Leistungen, von denen vor allem Männer in komfortablen finanziellen Verhältnissen profitieren, wogegen Frauen von einem Fürsorgesystem abhängen, dessen Leistungen beliebig wieder abgebaut werden könnten, ist klar abzulehnen. Dies würde den Graben zwischen den Geschlechtern weiter vertiefen.

Therese Wüthrich

Nachtrag: In der Volksabstimmung vom 16.Mai 2004 wurden eine weitere Erhöhung des Frauenrentenalters und Kürzungen bei den Witwenrenten deutlich abgelehnt. Den Sozialabbauern in der Schweiz wurde ein klarer Denkzettel verpasst. Dreimal wurde Nein gesagt zu Sozialabbau und Umverteilung an die Reichen: Abgestimmt wurde über die Rentenreform, über ein Steuerpaket zugunsten der reichsten Haushalte und über die Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Therese Wüthrich ist zentrale Frauensekretärin der Gewerkschaft comedia. Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in Widerspruch, Nr.44/2003.



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