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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2004, Seite 17

Was ist neu an der neuen deutschen Sozialdemokratie?

Parteien sind für Pierre Bourdieu Kampforganisationen in der »sublimierten Form des Bürgerkriegs«, die in parlamentarischen Demokratien um die Aufrechterhaltung oder den Umsturz der Verteilung von Macht über die öffentlichen Gewalten kämpfen. Um die dazu erforderliche dauerhafte Mobilisierung sicherzustellen, müssen sie einerseits eine Vorstellung von der sozialen Welt entwickeln und andererseits Machtpositionen erobern, deren Besitz es erlaubt, diejenigen zu halten, die sie innehalten.

Doppelcharakter in der Krise

Die Sozialdemokratie hat sich in der Tat in ihrer Geschichte stets als Organisation mit Doppelcharakter erwiesen: Kollektiv zur Verfolgung gemeinschaftlich definierter politischer Zwecke und Promotionsagentur für den individuellen sozialen Aufstieg insbesondere. Wenn dazu die Parteien sozial als Zusammenschlüsse der bewusstesten und aktivsten Menschen einer Klasse betrachtet werden, dann ist die SPD die Partei der sozialen Aufsteigermilieus, die im keynesianistischen Wohlfahrtsstaat für Verhandlungs- und »Bargaining-Prozesse« mit den »alten« bürgerlichen Eliten funktional sind, solange und soweit sie ein soziales und politisches Drohpotenzial repräsentieren. Insoweit ist sie ein Agent im politischen Feld, also eine kleine, relativ autonome soziale Welt innerhalb der großen sozialen Welt, deren Potenzial einerseits einer »Vorstellung von der sozialen Welt« bedarf, um andererseits das politische Kapital zu erzeugen, dass zur kollektiven und individuellen Einnahme von Machtpositionen erforderlich ist.
Noch vor gut zehn Jahren hieß es zum Erscheinungsbild der SPD, sie habe viele bunte, sich zum Teil auch gegenseitig ausschließende Images: »Arbeiterpartei und Ökopartei, Friedensbewegung und Interessenvertretung der kleinen Leute, Modernisierung und Traditionalismus.« Andere Autoren waren der Überzeugung, dass eine breit gefächerte Parteilinke ca. 40% der Parteidelegierten erreichen würde und zählten zu dieser Linken u.a. Erhard Eppler, Otto Schily, Peter Glotz, Volker Hauff oder Dieter Spöri. Auf die Idee, die SPD als sympathische »lose verkoppelte Anarchie« zu beschreiben und die Genannten auch nur der »Parteilinken« zuzuordnen, käme heute ernsthaft wohl niemand mehr.
Die deutsche Sozialdemokratie hat als kleinbürgerliche prokapitalistische Partei mit der Agenda 2010 programmatisch den Kurs eines auf Zusammenarbeit und Konsens orientierten Flügels der neoliberal organisierten Gesellschaft aufgegeben und fungiert gegenwärtig nur noch als taktisch vorsichtig agierender Flügel der politischen Eliten, die einen aggressiven Angriffskrieg gegen den kapitalistischen Wohlfahrtsstaat führen.
Für diese Differenz gibt es Gründe, die nicht allein aus den mentalen und politischen Folgen der deutschen Einheit abgelesen werden können.
Wir sind der Ansicht, dass sich mit dem sozialen Milieu der Funktionsträger der Partei auch die Vorstellung der sozialen Welt geändert hat, mit der sie meinen, im »sublimierten Bürgerkrieg« mobilisieren und Machtpositionen erobern und Ressourcen verteilen zu können. Eine der wesentlichen Wurzeln für die ostentative Abwendung der Sozialdemokratie von allem, was ernsthaft bis Anfang der 90er Jahre unter dem Stichwort »demokratischer Sozialismus« diskutiert worden ist und was im Berliner Programm der SPD 1990 seinen Niederschlag fand, ist mit dem ideologischen Geburtsfehler der Sozialdemokratie verknüpft: ihrer Fixierung auf den Staat, dem Glauben an die technische und bürokratische Lösbarkeit von sozialen Problemen, dem seit dem Revisionismusstreit Anfang des 20.Jahrhunderts währenden Kampf des Partei (und Gewerkschafts-)Apparats gegen soziale Bewegungen, die sich seiner Kontrolle entziehen könnten.
Nicht die sich selbst organisierende, um Demokratie in allen Lebenssphären kämpfende Klasse, sondern die konforme, disziplinierte und die »bewährten Taktiken« der Stimmzettelmaximierung nutzende Organisation war das Leitbild dieser Partei. Und auch nur so konnte es politische Bargaining-Prozesse zwischen den herrschenden Klassen und diesen Repräsentanten der Arbeiterbewegung geben, deren ideologischer Horizont den der bürgerlichen Gesellschaft im Wesentlichen nicht überstieg: das Anstreben von Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft ist eine Aufstiegs-, aber keine radikale Emanzipationsperspektive, wie sie bspw. von den russischen oder spanischen Arbeitern 1917 bzw. 1936 in ihren Revolutionen angestrebt wurde.

Glanz und Elend der Mitte

Für einen nicht unbedeutenden Teil der »sozialdemokratischen« Milieus ist der Aufstieg im Zuge der 60er und 70er Jahre gelungen. Michael Vester u.a. sprechen hier von den modernisierten Arbeitnehmermilieus, die zu ihrem Habitus ein hohes Interesse an Mitbestimmung und Teilhabe zählen. Die Spitzengruppen dieser Milieus sind in die Milieus des gehobenen Staatsapparats, der politischen und ökonomischen Funktionseliten sowie der geisteswissenschaftlichen Ideologieproduzenten aufgestiegen. Es hat insoweit — nicht nur — eine Transformation der Intellektuellen gegeben.
Es wird aber immer schwieriger, eine Mitte der Gesellschaft zu stabilisieren. Und gerade weil das so ist, nimmt das Interesse dieser Milieus an Demokratie, an generalisierbaren Werten wie Selbstbestimmung und Emanzipation ab und wird ersetzt durch einen Abgrenzungskampf nach unten, gegen die alten und neuen Arbeiterklassenmilieus. Es ist deshalb unsere These, dass innerhalb der von Vester beschriebenen Milieukonstellation eine Verschiebung von einem von Teilhabe und kritischem Engagement geprägten Habitus zu einem autoritätsorientierten und neoliberalen Habitus stattgefunden hat.
Eine mögliche Ursache dafür: Weil sie soziale Aufsteigermilieus repräsentieren, müssen sie aus »Angst vor dem Abstieg« (Ehrenreich) »nach unten« politische und soziale Ausschlusskriterien formulieren und durchsetzen gegenüber den »proletarischen Milieus«. Soziale Schließung ist für diese Milieus konstitutiv, insbesondere, wenn der kapitalistische Surplus bzw. die Verteilungsmasse kleiner wird. Und genau dies ist mit der Sozialdemokratie im Verlaufe der letzten Jahre geschehen. Ihrer zunehmenden Orientierung auf die neuen Dienstleistungsschichten mit ihren postmaterialistischen Werten entsprach die Abwertung der traditionellen Arbeiter- und Unterschichten, denen in pietistischer Manier eine Schmarotzermentalität gegenüber dem Sozialstaat unterstellt wurde.
Allerdings übersieht die Orientierung an der »Mitte«, dass sie ein Konstrukt ist und eher die schmale Schnittmenge eines sozialen Raums beschreibt, innerhalb dessen v.a. die Rolle der Sozialdemokratie nunmehr entschieden ist: Die in der FR vom 3.Februar abgedruckten Austrittsbegründungen zum großen Teil langjähriger SPD-Mitglieder lassen erkennen, dass hier der harte reformistische, sozialstaatlich orientierte Kern der Sozialdemokraten das Handtuch wirft.
Damit aber macht sich die SPD politisch überflüssig, weil sie ihre Verhandlungs- und Vermittlungsrolle im Hinblick auf politische und soziale Partizipation objektiv (Schwinden der Notwendigkeit für Umverteilung seitens der herrschenden Eliten) und subjektiv (Orientierung zu den herrschenden Eliten durch die Aufsteigermilieus) verliert.
Damit wiederum wird die politische Vertretung der alten bürgerlichen Eliten hegemonial, die CDU als bürgerliche Einheitspartei mehrheitsfähig und die SPD objektiv und subjektiv überflüssig. Als Sammelbecken für bestimmte Milieus des Ausgleichs und der sanfteren Adaption der herrschenden Hegemonialansprüche wird sie aber doch ein gewisses Leben haben. Sie wird ihre Funktion als eine alternative politische Elitenaustauschplattform behalten.
Mit dem Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts (Dahrendorf) ist nun auch das Ende der SPD in ihrer traditionellen Form gekommen. Die historische Aufgabe, den von ihr selbst maßgeblich mitgestalteten Sozialstaat abzureißen, hat die SPD nicht zuletzt mit der Agenda 2010 weitgehend erfüllt. Der Begriff der Reform, traditionell auf die Ziele soziale Gleichheit und demokratische Partizipation bezogen, lässt sich nicht beliebig ins Gegenteil verkehren. Damit ist die Organisationsfrage in aller Schärfe wieder auf die Tagesordnung gesetzt.

Gregor Kritidis/Stefan Janson

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