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Parteien sind für Pierre Bourdieu Kampforganisationen in der »sublimierten Form des Bürgerkriegs«,
die in parlamentarischen Demokratien um die Aufrechterhaltung oder den Umsturz der Verteilung von Macht über die öffentlichen Gewalten
kämpfen. Um die dazu erforderliche dauerhafte Mobilisierung sicherzustellen, müssen sie einerseits eine Vorstellung von der sozialen Welt
entwickeln und andererseits Machtpositionen erobern, deren Besitz es erlaubt, diejenigen zu halten, die sie innehalten.
Die Sozialdemokratie hat sich in der Tat in ihrer Geschichte stets als Organisation mit Doppelcharakter erwiesen: Kollektiv zur Verfolgung gemeinschaftlich
definierter politischer Zwecke und Promotionsagentur für den individuellen sozialen Aufstieg insbesondere. Wenn dazu die Parteien sozial als
Zusammenschlüsse der bewusstesten und aktivsten Menschen einer Klasse betrachtet werden, dann ist die SPD die Partei der sozialen Aufsteigermilieus,
die im keynesianistischen Wohlfahrtsstaat für Verhandlungs- und »Bargaining-Prozesse« mit den »alten« bürgerlichen
Eliten funktional sind, solange und soweit sie ein soziales und politisches Drohpotenzial repräsentieren. Insoweit ist sie ein Agent im politischen Feld, also
eine kleine, relativ autonome soziale Welt innerhalb der großen sozialen Welt, deren Potenzial einerseits einer »Vorstellung von der sozialen
Welt« bedarf, um andererseits das politische Kapital zu erzeugen, dass zur kollektiven und individuellen Einnahme von Machtpositionen erforderlich ist.
Noch vor gut zehn Jahren hieß es zum Erscheinungsbild der SPD, sie habe viele bunte,
sich zum Teil auch gegenseitig ausschließende Images: »Arbeiterpartei und Ökopartei, Friedensbewegung und Interessenvertretung der
kleinen Leute, Modernisierung und Traditionalismus.« Andere Autoren waren der Überzeugung, dass eine breit gefächerte Parteilinke ca. 40%
der Parteidelegierten erreichen würde und zählten zu dieser Linken u.a. Erhard Eppler, Otto Schily, Peter Glotz, Volker Hauff oder Dieter
Spöri. Auf die Idee, die SPD als sympathische »lose verkoppelte Anarchie« zu beschreiben und die Genannten auch nur der
»Parteilinken« zuzuordnen, käme heute ernsthaft wohl niemand mehr.
Die deutsche Sozialdemokratie hat als kleinbürgerliche prokapitalistische Partei mit der
Agenda 2010 programmatisch den Kurs eines auf Zusammenarbeit und Konsens orientierten Flügels der neoliberal organisierten Gesellschaft aufgegeben
und fungiert gegenwärtig nur noch als taktisch vorsichtig agierender Flügel der politischen Eliten, die einen aggressiven Angriffskrieg gegen den
kapitalistischen Wohlfahrtsstaat führen.
Für diese Differenz gibt es Gründe, die nicht allein aus den mentalen und
politischen Folgen der deutschen Einheit abgelesen werden können.
Wir sind der Ansicht, dass sich mit dem sozialen Milieu der Funktionsträger der Partei
auch die Vorstellung der sozialen Welt geändert hat, mit der sie meinen, im »sublimierten Bürgerkrieg« mobilisieren und
Machtpositionen erobern und Ressourcen verteilen zu können. Eine der wesentlichen Wurzeln für die ostentative Abwendung der Sozialdemokratie
von allem, was ernsthaft bis Anfang der 90er Jahre unter dem Stichwort »demokratischer Sozialismus« diskutiert worden ist und was im Berliner
Programm der SPD 1990 seinen Niederschlag fand, ist mit dem ideologischen Geburtsfehler der Sozialdemokratie verknüpft: ihrer Fixierung auf den Staat,
dem Glauben an die technische und bürokratische Lösbarkeit von sozialen Problemen, dem seit dem Revisionismusstreit Anfang des
20.Jahrhunderts währenden Kampf des Partei (und Gewerkschafts-)Apparats gegen soziale Bewegungen, die sich seiner Kontrolle entziehen
könnten.
Nicht die sich selbst organisierende, um Demokratie in allen Lebenssphären
kämpfende Klasse, sondern die konforme, disziplinierte und die »bewährten Taktiken« der Stimmzettelmaximierung nutzende
Organisation war das Leitbild dieser Partei. Und auch nur so konnte es politische Bargaining-Prozesse zwischen den herrschenden Klassen und diesen
Repräsentanten der Arbeiterbewegung geben, deren ideologischer Horizont den der bürgerlichen Gesellschaft im Wesentlichen nicht
überstieg: das Anstreben von Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft ist eine Aufstiegs-, aber keine radikale
Emanzipationsperspektive, wie sie bspw. von den russischen oder spanischen Arbeitern 1917 bzw. 1936 in ihren Revolutionen angestrebt wurde.
Für einen nicht unbedeutenden Teil der »sozialdemokratischen« Milieus ist der Aufstieg im Zuge der 60er und 70er Jahre gelungen.
Michael Vester u.a. sprechen hier von den modernisierten Arbeitnehmermilieus, die zu ihrem Habitus ein hohes Interesse an Mitbestimmung und Teilhabe
zählen. Die Spitzengruppen dieser Milieus sind in die Milieus des gehobenen Staatsapparats, der politischen und ökonomischen Funktionseliten
sowie der geisteswissenschaftlichen Ideologieproduzenten aufgestiegen. Es hat insoweit nicht nur eine Transformation der Intellektuellen
gegeben.
Es wird aber immer schwieriger, eine Mitte der Gesellschaft zu stabilisieren. Und gerade weil
das so ist, nimmt das Interesse dieser Milieus an Demokratie, an generalisierbaren Werten wie Selbstbestimmung und Emanzipation ab und wird ersetzt durch
einen Abgrenzungskampf nach unten, gegen die alten und neuen Arbeiterklassenmilieus. Es ist deshalb unsere These, dass innerhalb der von Vester
beschriebenen Milieukonstellation eine Verschiebung von einem von Teilhabe und kritischem Engagement geprägten Habitus zu einem
autoritätsorientierten und neoliberalen Habitus stattgefunden hat.
Eine mögliche Ursache dafür: Weil sie soziale Aufsteigermilieus
repräsentieren, müssen sie aus »Angst vor dem Abstieg« (Ehrenreich) »nach unten« politische und soziale
Ausschlusskriterien formulieren und durchsetzen gegenüber den »proletarischen Milieus«. Soziale Schließung ist für diese
Milieus konstitutiv, insbesondere, wenn der kapitalistische Surplus bzw. die Verteilungsmasse kleiner wird. Und genau dies ist mit der Sozialdemokratie im
Verlaufe der letzten Jahre geschehen. Ihrer zunehmenden Orientierung auf die neuen Dienstleistungsschichten mit ihren postmaterialistischen Werten entsprach
die Abwertung der traditionellen Arbeiter- und Unterschichten, denen in pietistischer Manier eine Schmarotzermentalität gegenüber dem Sozialstaat
unterstellt wurde.
Allerdings übersieht die Orientierung an der »Mitte«, dass sie ein Konstrukt
ist und eher die schmale Schnittmenge eines sozialen Raums beschreibt, innerhalb dessen v.a. die Rolle der Sozialdemokratie nunmehr entschieden ist: Die in der
FR vom 3.Februar abgedruckten Austrittsbegründungen zum großen Teil langjähriger SPD-Mitglieder lassen erkennen, dass hier der harte
reformistische, sozialstaatlich orientierte Kern der Sozialdemokraten das Handtuch wirft.
Damit aber macht sich die SPD politisch überflüssig, weil sie ihre Verhandlungs-
und Vermittlungsrolle im Hinblick auf politische und soziale Partizipation objektiv (Schwinden der Notwendigkeit für Umverteilung seitens der
herrschenden Eliten) und subjektiv (Orientierung zu den herrschenden Eliten durch die Aufsteigermilieus) verliert.
Damit wiederum wird die politische Vertretung der alten bürgerlichen Eliten
hegemonial, die CDU als bürgerliche Einheitspartei mehrheitsfähig und die SPD objektiv und subjektiv überflüssig. Als Sammelbecken
für bestimmte Milieus des Ausgleichs und der sanfteren Adaption der herrschenden Hegemonialansprüche wird sie aber doch ein gewisses Leben
haben. Sie wird ihre Funktion als eine alternative politische Elitenaustauschplattform behalten.
Mit dem Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts (Dahrendorf) ist nun auch das Ende der
SPD in ihrer traditionellen Form gekommen. Die historische Aufgabe, den von ihr selbst maßgeblich mitgestalteten Sozialstaat abzureißen, hat die
SPD nicht zuletzt mit der Agenda 2010 weitgehend erfüllt. Der Begriff der Reform, traditionell auf die Ziele soziale Gleichheit und demokratische
Partizipation bezogen, lässt sich nicht beliebig ins Gegenteil verkehren. Damit ist die Organisationsfrage in aller Schärfe wieder auf die
Tagesordnung gesetzt.
Gregor Kritidis/Stefan Janson
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