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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2004, Seite 24

Mike Davis über die Tradition US-amerikanischer Kriegsverbrechen

Die Skalpjäger

Die barbarischen Foltermethoden der USA im Irak seien Einzelfälle und hätten kein System, so die für sie verantwortliche US-Regierung. Sie seien sogar gänzlich »unamerikanisch«, so US-Präsident Bush, eifrig dabei sekundiert von europäischen Politikern wie Blair, Schröder und Fischer. Dass die erste Behauptung nicht mehr aufrecht zu erhalten ist, ist mittlerweile offensichtlich. Dass auch die zweite haltlos ist, daran erinnert uns der bekannte US-amerikanische Autor Mike Davis. Sein Beitrag erschien in den USA bereits im letzten November und verdeutlicht nicht nur die Tradition US-amerikanischer Kriegsverbrechen, sondern auch die Vorgeschichte der jüngsten Enthüllungen bezüglich des Irakkriegs.

In seinem düsteren Meisterwerk Blood Meridian (1985) erzählt der Romancier Cormac McCarthy die erschütternde Geschichte einer Bande von Yankees, die als Skalpjäger in den frühen 1850er Jahren von Chihuaha bis Südkalifornien eine blutige Spur der Vernichtung hinter sich ließen. Von den mexikanischen Behörden beauftragt, marodierende Apatschen zu jagen, gelangte die Gesellschaft aus ehemaligen Freibeutern und Sträflingen unter dem Kommando des Psychopathen John Glanton rasch in einen Blutrausch. Sie fingen an, lokale Farmer ebenso zu liquidieren wie Indianer, und als es keine Unschuldigen mehr gab, die sie vergewaltigen oder abschlachten konnten, wandten sie sich mit einer an Haie erinnernden Raserei gegen ihresgleichen.
Vielen Lesern schauderte es vor den extrem grausamen Bildern McCarthys: die gerösteten Schädel gefolterter Gefangener, Halsketten aus Menschenohren, ein unbeschreiblicher Baum mit toten Kleinkindern. Andere sträubten sich gegen diese unpatriotische Betonung der völkermordähnlichen Ursprünge des amerikanischen Westens sowie gegen die offensichtliche Anspielung des Buches auf die »Search and destroy«-Aktionen in Vietnam.
Aber Blood Meridian beruht wie alle Romane McCarthys auf sorgfältiger Recherche. Glanton — der weiße Wilde, das satanische Gesicht offenbarter Vorsehung — hat wirklich gelebt. Er ist einfach der Ahnherr, den die meisten Amerikaner lieber vergessen würden. Er ist auch das Gespenst, dem wir nicht entgehen können.

Vor sechs Wochen zerriss ein couragiertes Lokalblatt in Ohio — der Toledo Blade — den Schleier über eine offiziell unterdrückte Geschichte der Vernichtung aus dem Vietnamkrieg, welche die in Blood Meridian erzählten Vorkommnisse bis in die grässlichsten und unerträglichsten Details wiederholt. Die Reinkarnation von Glantons Skalpjägertruppe war eine 45 Mann starke Eliteeinheit der 101.Luftlandedivision, genannt »Tiger Force«. Die vom Toledo Blade durchgeführte verwickelte Rekonstruktion ihres mörderischen Marsches durch das zentrale Hochland von Vietnam im Sommer und Herbst 1967 muss man in all ihren entsetzlichen Einzelheiten lesen. Die Reporter des Blade hatten über hundert amerikanische Veteranen und vietnamesische Überlebende interviewt.
Die Gräueltaten der Tiger Force begannen mit der Folter und Exekution von Gefangenen und eskalierten zur routinemäßigen Abschlachtung unbewaffneter Bauern, älterer Menschen, sogar kleiner Kinder. Ein früherer Feldwebel äußerte gegenüber dem Blade: »Es spielte keine Rolle, ob sie Zivilisten waren. Wenn sie in einem Gebiet eigentlich nicht sein sollten, erschossen wir sie. Wenn sie keine Furcht kannten, so habe ich sie ihnen beigebracht.«
Früh schon begann die Tiger Force ihre Opfer zu skalpieren (die Skalpe baumelten dann an den Läufen ihrer Sturmgewehre) und ihnen die Ohren als Souvenir abzuschneiden. Ein Angehöriger der Einheit — der später ein Kind enthaupten sollte — trug die Ohren als makabre Halskette (wie die Gestalt des Toadvine in Blood Meridian), während ein anderer sie seiner Frau nach Hause schickte. Manche schlugen toten Dorfbewohnern die Zähne aus — wegen der Goldfüllungen.
Ein früherer Feldwebel der Tiger Force berichtete Reportern, dass er »so viele Zivilisten getötet hatte, dass er sie nicht mehr zählen konnte«. Der Blade schätzte die Zahl der unschuldigen Opfer »in Hunderten«. Ein anderer Veteran, ein Sanitäter der Einheit, sprach von 150 innerhalb eines Monats ermordeten unbewaffneten Zivilisten.
Offiziere wie der an Glanton erinnernde Bataillonskommandeur Gerald Morse (der sich selbst gern »Ghost Rider« nannte) förderten die Metzeleien. Befehle wurden erteilt, »auf alles zu schießen, was sich bewegt«, und Morse stellte eine Abschussquote von 327 (die Nummer des Bataillons) auf, die die Tiger Force mit toten Bauern oder jungen Mädchen begeistert erfüllte.
Soldaten anderer Einheiten, die sich über die Vernichtungsaktionen beschwerten, wurden ignoriert oder bedroht, während aus der Tiger Force jene, die nicht bereitwillig mitmachten, schnell aussortiert wurden. Wie bei Glantons Bande oder den »Einsatzgruppen« der Nazis in der Ukraine 1941 schufen die Gräueltaten ihre eigene unersättliche Dynamik. Schließlich war nichts mehr undenkbar im Tal von Song Ve.
»Einem 13-jährigen Mädchen wurde die Kehle durchgeschnitten, nachdem sie vergewaltigt worden war. Eine junge Mutter wurde erschossen, nachdem die Soldaten ihre Hütte abgefackelt hatten. Ein unbewaffneter Teenager wurde in den Rücken geschossen, nachdem ihm ein Feldwebel befohlen hatte, das Dorf zu verlassen. Ein Baby wurde enthauptet, damit ihm ein Soldat die Halskette abnehmen konnte.«
Berichte über die Enthauptung des Babys verbreiteten sich dermaßen, dass die Armee schließlich, 1971, gezwungen war, eine heimliche Untersuchung durchzuführen. Diese dauerte fast fünf Jahre und bewies 30 der der Tiger Force zugeschriebenen Kriegsverbrechen. Es gab Beweise für die Anklage gegen mindestens 18 Angehörige der Einheit. Einem halben Dutzend der am meisten kompromittierten Veteranen wurde jedoch erlaubt, die Armee zu verlassen, um dem Militärgericht zu entgehen, und 1975 begrub das Pentagon die ganze Untersuchung.
Laut Toledo Blade »ist nicht bekannt, inwieweit die Regierung Ford an dieser Entscheidung beteiligt war«, aber man sollte daran erinnern, wer die damals führenden Akteure waren: der Verteidigungsminister hieß damals, wie heute, Donald Rumsfeld; der Stabschef des Weißen Hauses hieß Dick Cheney — heute Vizepräsident.

Vor kurzem beklagte Seymour Hersh, der an der Aufdeckung des My-Lai-Massakers entscheidenden Anteil hatte [und nun auch an der Aufdeckung der Folter im Irak], im New Yorker das Versagen der großen Medien, v.a. der vier großen TV-Anstalten, über die Entdeckungen des Toledo Blade zu berichten oder eigene Recherchen über die Vertuschungen von offizieller Seite durchzuführen. (Seitdem haben die ABC News und Ted Koppels Nightline das Thema behandelt.) Er erinnert uns auch daran, dass die Armee die Details eines weiteren großen Massakers an Zivilisten verheimlichte, das im Dorf My Khe verübt wurde, in der Nähe von My Lai, und zwar am selben Tag im Jahr 1968, als dort das berühmte Massaker stattfand.
Darüber hinaus ist die Geschichte der Tiger Force die dritte große Enthüllung von Kriegsverbrechen in den letzten Jahren, die auf Apathie in den Medien und/oder Gleichgültigkeit und Missachtung in Washington stieß. 1999 enthüllte ein Reporterteam von Associated Press (AP) die Geschichte eines schrecklichen Massakers in Korea an Hunderten unbewaffneter Zivilisten durch US- Soldaten im Juli 1950. Es geschah an einer steinernen Brücke nahe dem Dorf No Gun Ri.
Einer der Veteranen sagte gegenüber AP: »Da gab es einen Leutnant, der schrie wie ein Wahnsinniger: ›Feuert auf alles, tötet sie alle!‹ … Da waren Kinder da draußen, und es spielte überhaupt keine Rolle, was da war, ob acht oder achtzig, blind, verkrüppelt oder verrückt, sie haben sie alle erschossen.« Einen anderen ehemaligen Soldaten verfolgte die Erinnerung an ein verängstigtes Kind: »Sie kam auf uns zugelaufen. Da gab‘s wirklich Typen, die versuchten das kleine Mädchen zu töten. Mit Maschinengewehren.«
Eine widerwillige Untersuchung des Pentagon über diese koreanische Version des Massakers am Wounded Knee gab zu, dass es zivile Opfer gegeben hatte, gab aber sehr niedrige Zahlen für die Toten an und tat dann die ganze Angelegenheit als bedauerliche Tragödie, wie sie Kriegen eigen ist«, ab — trotz einer überwältigenden Beweislage für eine bewusste US-Politik der Bombardierung und Beschießung von Flüchtlingskolonnen. Das Buch The Bridge at No Gun Ri (2001) von drei AP-Journalisten, die den Pulitzer- Preis erhielten, dümpelt derzeit auf etwa Platz 600000 der Amazon-Verkaufsliste dahin.

Ebensowenig gab es eine länger anhaltende Empörung darüber, dass ein geständiger Kriegsverbrecher, Bob Kerrey, als Präsident der einst liberalen New Yorker New School University fungiert. Im Jahr 2001 sah sich der frühere Marineoffizier und Ex-Senator von Nebraska gezwungen, nach jahrelangem Lügen zuzugeben, dass zu seinen heroischen Taten, für die er 1969 einen Orden erhalten hatte, das Massaker an zwei Dutzend unbewaffneten Zivilisten, hauptsächlich Frauen und Kinder, gehörte. »Die Sache als Gräueltat zu beschreiben«, gab er zu, »kommt der Wahrheit recht nahe.«
Ein früherer Rekrut, der die Wahrheit über das Massaker von Than Phong unter Kerreys Kommando enthüllt hatte, wurde öffentlich als Trinker und Verräter angeprangert, während mächtige Politiker der Demokratischen Partei — an der Spitze die Senatoren und Vietnam-Veteranen Max Cleland und John Kerry [mittlerweile Präsidentschaftskandidat] — eine Wagenburg errichteten, die Bob Kerrey vor weiteren Untersuchungen und möglicher Strafverfolgung schützen sollte. Sie argumentierten, dass es falsch sei, »den Krieger und nicht den Krieg« verantwortlich zu machen, und plädierten für einen »Prozess der Versöhnung«.
Tatsächlich hat sich gezeigt, dass das unter den Tisch Kehren amerikanischer Gräueltaten ganz und gar die Sache beider großer Parteien ist. Die Demokraten zogen immerhin in Erwägung, General Wesley Clark — verantwortlich für die Bombardierung von Belgrad — als ihren Präsidentschaftskandidaten ins Rennen zu schicken. Währenddessen bedroht die Bush-Administration überall Regierungen mit Kürzungen von Hilfen und mit Handelssanktionen, damit sie US-Soldaten von der Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof ausnehmen.

Die USA haben natürlich gute Gründe, Immunität gegenüber den Nürnberger Prinzipien einzufordern, die sie selbst 1946/47 zu errichten halfen. Amerikanische Spezialeinheiten z.B. waren vor einigen Jahren wahrscheinlich Komplizen der von den Warlords der Nordallianz verübten Massaker an Hunderten von Taliban-Gefangenen. Darüber hinaus sind »Kollateralschäden« an Zivilpersonen ein wesentlicher Bestandteil der neuen »Bürde des weißen Mannes«, den Nahen und Mittleren Osten zu »demokratisieren« und die Welt für Bechtel und Haliburton sicher zu machen.
Die Glantons haben somit noch immer ihren Platz im Programm der Vorsehung, und die Skalpjägertrupps, die einst in der Wildnis der Gila-Wüste umgingen, drohen nun bis zu den Ufern des Euphrat und im Schatten des Hindukusch ihr Unwesen zu treiben.

Mike Davis, November 2003

Übersetzung: Hans-Günter Mull



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