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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2004, Seite 8

Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer

Ein globales Problem

Die Verlagerung von Arbeitsplätze in Billiglohnländer, u.a. »Offshoring« genannt, ist in letzter Zeit in aller Munde. Die Pläne bei Siemens, Arbeitsplätze zu verlagern, könnte laut Gesamtbetriebsrat zum Verlust von 74000 Jobs in Deutschland führen. Hier beschäftigt der Konzern 41% der weltweit 417000 Beschäftigten, erzielt aber nur 23% des Umsatzes. Die Beschäftigung müsse an den Umsatz angepasst werden, so der Siemens-Konzern.

Nicht nur Deutschland ist von solchen Entwicklungen betroffen. Offshoring ist ein globales Phänomen. In Frankreich heißt es délocalisation; die Produktion wird bis nach Mauritius und Marokko verlagert. Spanische Firmen gehen nach Lateinamerika. In den USA wurde die Produktion zuerst nach Mexiko und anschließend nach China verlagert. Jetzt sind IT-Arbeitsplätze an der Reihe und die gehen, wie in Deutschland auch, vorzugsweise nach Indien.
Die Verlagerung von Arbeitsplätzen ist nichts Neues. Schon im 18. und 19. Jahrhundert machte britische imperialistische Politik absichtlich die indische Textilindustrie kaputt und baute dafür Arbeitsplätze in England auf.
Einen Welthandel gibt es seit über 500 Jahren. Anders als früher leben wir heute jedoch in einer global vernetzten Welt. Weltweit vernetztes Arbeiten erlaubt dem Kapital, Einzelaktivitäten wie Entwicklung, Produktion und Logistik arbeitsteilig über den ganzen Globus zu koordinieren.
Beschäftigung und Bezahlung ändern sich in einer globalen Welt. Wenn Arbeit fast nach Belieben hin und her verlagert werden kann, entsteht eine weltweite Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt einen »Wettlauf nach unten«. Regierungen versuchen ihre Länder wirtschaftlich attraktiv zu machen, indem sie soziale Infrastruktur abbauen und die Arbeitsmärkte »flexibilisieren«.
Diese Konkurrenz wird durch das weltweite Defizit an Jobs noch geschärft. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind mehr Menschen arbeitslos als je zuvor — 188 Millionen weltweit. Dazu kommen die »working poor«, 550 Millionen an der Zahl, die nicht mehr als 1 Dollar pro Tag für ihre Arbeit bekommen.

Standortdenken hilft nicht weiter

Die Diskussion bei Siemens um die 40-Stunden-Woche und Offshoring ist kein Zufall. Vor ein paar Jahren wurde händeringend nach IT- Fachkräften gesucht. Die Firmen grasten die ganze Welt ab auf der Suche nach geeigneten Mitarbeitern. »Green-Cardler« wurden geholt. Jetzt geht die Arbeit zu den Fachkräften.
In einer globalisierten Welt ist dies nicht schwer. Die dafür benötigte Infrastruktur ist nicht besonders umfangreich. Räume, Netzanschlüsse, Rechner u.ä. bilden die Hauptinvestition und sind heutzutage nicht besonders teuer. Die Verlagerung funktioniert in der Regel problemlos. In Bangalore, Indien, gibt es ein Software-Programmierzentrum, das u.a. für Microsoft, Digital, Fujitsu, Bull, Olivetti, Oracle, IBM und Motorola arbeitet — und dies für die Hälfte des üblichen Preises.
Es gibt in der Regel keine wirtschaftlichen Argumente gegen Offshoring. Der Preisunterschied ist zu groß. Insbesondere hat Offshoring für Firmen dann einen Vorteil, wenn dort entwickelt und produziert wird, wo der Absatzmarkt für die Produkte ist. Kulturelle Unterschiede, unterschiedliche Geschmäcker, z.B. im Design eines Produkts, fallen als Risikofaktoren für erfolgreichen Verkauf weg, wenn die Produkte von Landsleuten entworfen werden.
Es macht auch wenig Sinn, in der Argumentation gegen Offshoring auf die Vorteile einer »gut ausgebildeten« und »qualifizierten« westlichen Arbeitskraft zu setzen. Es gibt in den Ländern, in die verlagert wird, sehr viele und gute Leute. Wenn SAP in Bangalore eine Stelle ausschreibt, bekommt die Firma darauf 6000 Bewerbungen. Indien ist inzwischen weltweit zum Marktführer in Sache Softwaredesign und -entwicklung geworden.
Solche Diskussionen werfen die Frage nach »Solidarität« auf. Das Denken, Argumentieren und Handeln in Kategorien von Standort und Nation bedeutet, einen Teil der weltweiten Arbeitskraft gegen einen anderen, eine Ethnie gegen die andere auszuspielen, während das Kapital global denkt und handelt.

Die Angst um den Arbeitsplatz

Durch die globalen Möglichkeiten schwindet in Deutschland immer mehr die Arbeitsplatzsicherheit. Galten noch vor zwei, drei Jahren Arbeitsplätze bei Siemens und anderen großen Firmen als sicher, ist heute jeder Arbeitsplatz potenziell gefährdet. Dies beunruhigt die Beschäftigten sehr.
Die Reaktionen auf diese Unsicherheit schlägt sich nieder in »Arbeit unter der Angst, morgen vielleicht arbeitslos zu sein«. Dies hat zur Folge, dass Kreativität und Motivation drastisch sinkt. Die Beschäftigten arbeiten zwar länger, freiwillig unbezahlt am Abend oder am Wochenende zu Hause, aber sie arbeiten unter dem selbstauferlegten Zwang, es tun zu müssen, damit sie »in der Firma mithalten können«. Mithalten bedeutet in der Praxis, bis 9, 10 Uhr abends oder auch länger in der Firma zu sein, um die Projekte zu stemmen. »Heute war ich bis drei Uhr morgens in der Firma, es ging nicht anders. Wir müssen den Auftrag bekommen. Wenn wir ihn nicht bekommen, sind unsere Arbeitsplätze gefährdet«, war bisher die krasseste Aussage, die das Mitarbeiternetz NCI bei Siemens erreichte. Arbeiten bis spät in die Nacht ist für viele normal geworden.
Damit lässt sich auch die hohe Bereitschaft der Belegschaft erklären, statt der tariflichen 35 Stunden wöchentlich 40 Stunden arbeiten zu wollen: »Ich schaffe die Arbeit eh nicht in 35 Stunden, so bekomme ich wenigstens 40 Stunden bezahlt.« Noch bezahlt, wenn man die Diskussion über die 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich betrachtet. Angesprochen auf die Bereitschaft, 40 Stunden ohne Lohnausgleich zu arbeiten, bekommt man meist als Antwort: »Wenn es meinen Arbeitsplatz rettet, mache ich das.« Erst, wenn man diesen Kollegen vorrechnet, dass ihr Stundensatz immer noch zu hoch ist gegenüber einem chinesischen zum Beispiel, und ihnen aufzeigt, dass sie überhaupt keine Chance haben, das Rennen mit diesen niedrigen Stundensätzen zu gewinnen, beginnen manche nachzudenken.
Firmen wie Siemens bürden dem einzelnen Arbeitnehmer immer mehr Arbeit innerhalb immer enger werdender Termine auf. Wenn Beschäftigte Fehler bemerken, teilen sie dies höchstens einmal dem Chef mit, um nicht als notorische Meckerer zu gelten, die den Arbeitsablauf stören. Konzepte werden termingerecht abgegeben, wissend um die vielen Lücken daran, hoffend, dass sie nicht auffallen.
Die Angst als Minderleister zu gelten, wenn man mehr Zeit für fundierte Arbeit fordert, ist sehr groß. Zu schnell heißt es, man sei »detailverliebt, könne Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden«. Die Beschäftigten lernen schnell, wichtig ist der Termin, sonst nichts, denn nur die Einhaltung von Terminen befreit den eigenen Chef vom Druck, selbst ein Minderleister zu sein, weil er nicht in der Lage ist, mehr aus seiner Mannschaft herauszuholen. Die Folge ist Unzufriedenheit, Angst, Fehler zu machen, Angst, dass Fehler aufgedeckt werden, Angst den Satz zu hören: »Suchen Sie sich bitte einen neuen Arbeitsplatz.« Angst, das Angebot eines Aufhebungsvertrags zu erhalten in Verbindung mit einem Outplacement-Vertrag. Die Beschäftigten begreifen immer mehr, dass Outplacement in der Regel heißt, arbeitslos zu werden und es für immer zu bleiben, vor allem wenn sie über 40 Jahre sind — von Ausnahmen abgesehen, die meist durch Beziehungen zustande kommen.

Keine betrieblichen Lösungen

Die Angst vor Offshoring höhlt eine Firma von innen aus. Arbeitsüberlastung führt zu sinkender Arbeitsqualität, sinkender Kreativität und Motivation. »Angst essen Seele auf«, ist ein immer häufiger zitierter Satz. Hinzu kommt, dass das Krankheits- und Unfallrisiko steigt. Den Beschäftigten ist meist gar nicht bewusst, dass sie durch die Nichtbeachtung gesetzlicher Arbeitsbestimmungen und Firmenrichtlinien, durch das Mitnehmen von Arbeit (und damit Firmendaten) nach Hause, sich permanent dem Risiko aussetzen, fristlos gekündigt zu werden, ohne in einem Arbeitsgerichtsprozess eine reale Chance zu haben. Das ist eine elegante Methode, Mitarbeiter los zu werden, wenn man sie nicht mehr in der Firma möchte.
Man erzeugt durch Arbeitsdruck erhöhte Einsatzbereitschaft; der Mitarbeiter kann wählen, zum Minderleister zu werden oder gegen Bestimmungen zu verstoßen. Und hat er verstoßen, oder ist er im Vergleich ein Minderleister und Querulant, weil er sich an Bestimmungen hält, dann schafft man Potenzial für Abmahnungen und fristlose Kündigungen.
Die mittelfristig durch Arbeitsüberlastung und Arbeiten unter Angst zwangsläufig sinkende Produktivität liefert den Firmen ein weiteres Argument für Offshoring. Wenn in Deutschland die Produktivität sinkt, dann besteht noch weniger wirtschaftliche Notwendigkeit, Arbeitsplätze in Deutschland zu halten. Auf diese Weise wird die Einsatzbereitschaft der Beschäftigten dazu benutzt, Offshoring zu forcieren.
Offshoring ist für viele zur realen Bedrohung geworden, die sie im Alltag begleitet. Wohnungen und Häuser werden nicht mehr so selbstverständlich gekauft wie früher, wo man sich seines Arbeitsplatzes sicher war. »Man weiß ja nie, was kommt«, sagen viele, »vielleicht werde ich arbeitslos, oder muss in eine andere Stadt ziehen.«
Und wo geht die Reise hin? Sicherlich werden wir das Offshoring nicht stoppen, aber es gilt, im In- und Ausland menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu schaffen, die Globalisierung nicht den Firmen zu überlassen. Hier sind die Gewerkschaften gefordert, mehr denn je. Angesichts der komplexen Fragestellung müssen sie ebenfalls ein globales Denken entwickeln und sich nicht auf die Ebene des Betriebs und betrieblicher Sonderregelungen drängen lassen.
Es kann nicht sein, dass Unternehmer Gewerkschaften auf die lokale Ebene zurückdrängen, ihnen dort Lösungen anbieten, selber aber global handeln. Betriebe existieren in einer globalen Welt nicht wirklich. Der Arbeitgeber kann sie jederzeit verlagern, aufspalten, zusammenschließen, verkaufen, und damit jegliche betriebliche Regelung unterlaufen. Es bleiben noch viele Fragen offen.

David Hollis/Inken Wanzek

David Hollis ist Mitarbeiter bei Labournet, Inken Wanzek koordiniert das Netzwerk NCI der Siemens-Beschäftigten in München.


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