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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2004, Seite 15

›Nicht in meinem Namen!‹

Michèle Sibony über die Solidarität mit den Palästinensern und das Verhältnis von Juden und Arabern in Frankreich.

Michèle Sibony ist Vizepräsidentin der UJFP (Union Juive Française pour la Paix). Die UJFP ist der französische Zweig der EJJP (European Jews for a Just Peace). Seit Herbst 2003 gibt es auch eine deutsche Sektion. Mit Michèle Sibony sprach Sophia Deeg.

Was hat europäische Juden bewegt, diese Gruppen zu gründen?

Zunächst ging es, wie der Name sagt, um eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts, wobei immer klar war, dass ein echter Frieden nur auf der Grundlage von Recht und Gerechtigkeit zu verwirklichen ist. In der trügerischen Hoffnung, dass der Oslo-Prozess sich als ein Schritt in diese Richtung erweisen könnte, sind unsere Aktivitäten in den 90er Jahren etwas erlahmt.
Mit Beginn der zweiten Intifada hat sich das deutlich verändert. Seit 2000 steht für die EJJP und so auch für die UJFP die Parole im Vordergrund: »Nicht in meinem Namen!« Das heißt, es ist uns eminent wichtig geworden, uns gegen die Vereinnahmung durch die israelische Regierung zu verwahren. Damals begann die massive Kampagne des Dachverbands der jüdischen Organisationen Frankreichs CRIF, die versuchte, die jüdische Gemeinde auf eine bedingungslose Solidarität mit Israel, dem Israel Sharons einzuschwören, ja, jeden französischen Juden zu einer solchen absoluten Solidarität zu verpflichten. Diese Kampagne, die andauert, kommt gerade in Frankreich nicht von ungefähr; denn mit geschätzten 500000—700000 Mitgliedern (genaue Zahlen sind nicht bekannt) ist die hiesige jüdische Gemeinde nach derjenigen in New York die zweitgrößte außerhalb Israels. Israel ist diese Gemeinde als Sprachrohr für seine Propaganda in Europa besonders wichtig.
Dazu passt auch, dass Frankreich von der israelischen Regierung als Hort des Antisemitismus schlechthin gebrandmarkt wird. Dies geschieht völlig unabhängig von der nicht so einfach zu beantwortenden Frage, ob hier der Antisemitismus ausgeprägter ist als anderswo, ob es den behaupteten »neuen Antisemitismus« (der Maghrebiner) tatsächlich gibt, welche Ursachen Übergriffe auf jüdische Kultstätten oder Institutionen haben mögen etc.
Verhängisvoll in diesem Zusammenhang ist es, dass die französische Regierung die Feststellung und Anprangerung antisemitisch motivierter Vorfälle ausgerechnet in die Hände der engstens mit der israelischen Regierung verbundenen jüdischen Organisationen Frankreichs legt.
Die oberflächlich und unsachlich geführte Antisemitismusdebatte hat zur Folge, dass man nicht über Palästina spricht, dass man über den Rassismus, der sich gegen Araber bzw. Muslime richtet, schweigt, und dass man von den tiefen gesellschaftlichen Problemen Frankreichs — Armut, Sozialabbau, Wohnungsnot, Marginalisierung — absieht, Problemen, von denen gerade die französisch-maghrebinische Bevölkerung besonders hart betroffen ist. Durch einen solchen Diskurs und eine solche Politik werden die verschiedenen Gemeinschaften in Frankreich förmlich gegeneinander in Stellung gebracht.

…ähnlich weltweiten Tribalisierungs- und Kommunitarisierungsprozessen und entsprechenden Ideologien vom »Clash of Civilizations«, von der Diabolisierung ganzer Kulturen etc., um eine kriegerische Politik und Ausgrenzungsprozesse im Inneren zu rechtfertigen.

Ja. Die Gemeinden tendieren mehr und mehr dazu, sich abzugrenzen, sich zurückzuziehen, und die Debatten über die Integration der Gesellschaft verändern sich: Ist sie überhaupt noch wünschenswert, ist sie möglich? Statt in den Vordergrund zu stellen, dass bestimmte republikanische oder universelle Werte uns als Franzosen verbinden, führen CRIF, Regierung und namhafte Journalisten und Intellektuelle bspw. die Debatte über das Kopftuch in einer Weise, die — in diesem Fall muslimische junge Frauen — ausschließt, förmlich in ihre Gemeinschaft zurückdrängt.
Es ist keineswegs ausgemacht, dass eine Frau, die das Kopftuch trägt, dazu genötigt wird oder Islamistin, antirepublikanisch oder unemanzipiert ist. Ich selber habe als junges Mädchen eine Phase durchlebt, die mir das Kopftuchtragen der jungen Musliminnen sehr nachvollziehbar macht. Ich bin das Kind marokkanischer Juden, die in den 50er Jahren nach Frankreich eingewandert sind. Meine Eltern gaben uns Kindern eine sehr verwirrende, ambivalente Botschaft auf den Weg; sie wollten natürlich, dass wir in der französischen Gesellschaft gut klarkommen. Sie sagten: »Ihr braucht euch nicht zu schämen, weil ihr Juden und aus Marokko seid. Aber ihr braucht es auch nicht groß herauszuposaunen.« In der Pubertät wollte ich es dann wissen: Nimmt mich die französische Gesellschaft auch an, wenn ich deutlich zeige, woher ich komme? Ich trug dann eine Zeit lang ostentativ einen Davidstern am Kettchen.

Du sagst, die aufgeheizte Antisemitismusdebatte diene auch dazu, von der palästinensischen Katastrophe abzulenken…

Richtig. Und es gibt weitere skandalöse Diskurse, die darauf abzielen, die legitimen Forderungen der Palästinenser vergessen zu machen bzw. zu diskreditieren. So ist es ein Skandal, wenn manche französische Intellektuelle und Vertreter der jüdischen Gemeinde jede Form des Widerstands gegen die Besatzung mit Terrorismus gleichsetzen. Sie bezeichnen einen Anschlag auf Soldaten der Besatzungsmacht in Palästina oder auf Siedler, die bewaffnet sind, auf palästinensischem Land siedeln und seine Bewohner vertreiben, ebenso als Terror wie einen Angriff auf israelische Zivilisten in Tel Aviv. Was würde man dazu sagen, wenn jemand einen Kämpfer der Résistance als Terroristen bezeichnen würde?

Wie begegnet ihr diesen Debatten, dieser Tendenz zur Tribalisierung oder Ethnisierung, bei der ja der israelisch-palästinensische Konflikt häufig instrumentalisiert wird?

Vor allem durch unsere Zusammenarbeit mit der ATMF, dem maghrebinischen Arbeiterverein Frankreichs. Wir geben gemeinsame Stellungnahmen heraus, so z.B. kürzlich zur Ermordung von Scheich Yassin. Wir treten gemeinsam öffentlich auf und unterstützen zusammen Projekte in Palästina. Was uns aber besonders verbindet, sind unsere gemeinsamen »Missions civiles«, d.h. Aufenthalte in Palästina, bei denen wir unsere Solidarität mit der Bevölkerung unter der Besatzung zeigen. Anschließend berichten wir gemeinsam von unseren Erfahrungen.
Wir, ATMF und UJFP, französische Araber und Juden, sind der Auffassung, dass die Grenzen nicht zwischen Ethnien, religiösen oder kulturellen Gemeinschaften verlaufen. Sie verlaufen zwischen Unterdrückten und Unterdrückern, zwischen Besetzten und Besatzern, zwischen denen, die für das Recht einstehen, und denen, die es missachten. In diesem Sinne geht es für uns hier (in Frankreich) und dort (in Israel/Palästina) grundsätzlich um die gleichen Auseinandersetzungen.
Die Palästinenser sind der elementarsten Rechte beraubt. Für ihre Rechte einzustehen, ist derselbe Kampf wie der für die Rechte hier in Frankreich. Auch hier gibt es Zonen der Rechtlosigkeit durch Marginalisierung und Armut. Wenige Kilometer von hier, in den Vorstädten leben Menschen, die Paris nicht kennen, weil sie nicht das Geld für eine Fahrt in die Stadt haben. Wir, ATMF und UJFP, sind überzeugt, dass sich das tribale Denken von alleine gibt, sobald solche Zonen der Armut und Rechtlosigkeit verschwinden. Das gilt überall.
Indem wir, Araber und Juden gemeinsam kämpfen, befinden wir uns bereits jenseits des tribalen Denkens und laden Menschen verschiedener Herkunft ein, sich uns anzuschließen. Auf diese Weise gelingt es uns auch, Demos zu organisieren, die weder Aufmärsche »der Araber« noch »der (weißen) Franzosen« sind, sondern Ausdruck eines gemeinsamen Engagements, einer breiten Bewegung. »Kein Frieden ohne Gerechtigkeit«, ursprünglich ein Slogan von MIB (Bewegung für die Rechte der Immigranten und Vorstadtbewohner), wurde auch einer für die Rechte der Palästinenser.

Man liest und hört in Deutschland viel über den »neuen Antisemitismus« der französischen Araber/Muslime. Andererseits wird hier (anders als in Deutschland) auch eine zunehmende »Islamophobie« kritisch thematisiert…

Es gibt Formen von Rassismus, rassistisch motivierte Übergriffe kommen vor, auch antisemitisch motivierte neben den zahlreichen, die sich gegen Araber, Muslime, Schwarzafrikaner und andere richten. Das Augenmerk von Regierung, Institutionen und Medien gilt allerdings fast nur den als antisemitisch klassifizierten Vorfällen. Manchmal stellt sich dann auch noch heraus, dass sie gar nicht antisemitisch motiviert waren wie im Fall der Pariser jüdischen Schule, auf die ein Brandanschlag verübt wurde, angeblich durch Maghrebiner. Das ging groß durch die Presse. Wenig später konnte man einer kleinen Randnotiz entnehmen, dass es sich um einen versuchten Versicherungsbetrug gehandelt hatte.
Das Simon-Wiesenthal-Zentrum versteigt sich bei einer Aufzählung angeblicher Fälle von Antisemitismus in Frankreich dazu, etwa die Einladung des Bürgermeisters von Hebron durch eine französische Gemeinde oder eine Städtepartnerschaft mit einem palästinensischen Flüchtlingslager anzuführen. Eine perverse Art, den Antisemitismus zu bekämpfen bzw. tatsächlichen Antisemitismus zu bagatellisieren.

Wie bist du persönlich zu deinem Engagement in Palästina gekommen? Du warst immerhin schon viermal im Rahmen von »Missions civiles«* dort.

Als zu Beginn der zweiten Intifada in Israel dreizehn palästinensische Demonstranten, israelische Staatsbürger, erschossen wurden, weil sie sich mit dem Aufstand ihrer Schwestern und Brüder in den besetzten Gebieten solidarisierten — da konnte ich das absolut nicht hinnehmen, und ich muss in diesem Fall sagen: Ich als Jüdin.
Ich bin aufgewachsen mit der Erinnerung an den Holocaust, mit dem Entsetzen und den Konsequenzen, die zu ziehen sind. Das war zentral in meiner Erziehung, und ich kann aus all dem nur universelle Schlussfolgerungen ziehen. Das ist vielleicht auch dem französischen Erbe geschuldet, dem Erbe der Revolution. Ich kann die unglaubliche Ungleichheit »des Wertes des Menschen« in Israel/Palästina nicht akzeptieren, genauso wenig wie die Lüge von der Symmetrie, als ginge es um zwei irgendwie vergleichbare Parteien mit gleicher Verantwortung, gleichen Möglichkeiten in diesem Konflikt — es geht um Besatzer und Besetzte!
Als ich letztes Jahr um Ostern in Jenin war und dann nach Israel ausgereist bin, um wieder nach Hause zu fliegen, da ließ ich meine Freunde in Palästina zurück in einer Situation, die unbeschreiblich ist… Es wurde wieder einmal eine absolute Ausgangssperre verhängt, die Gebiete waren total abgeriegelt, die gesamte Bevölkerung eingesperrt — weil man in Israel Pesach feierte, das Fest der Befreiung! Ich konnte nicht mitfeiern, unmöglich.

*Durchschnittlich jede Woche fährt eine Gruppe französischer Bürgerinnen und Bürger aus den sozialen Bewegungen und den verschiedenen Schichten der Gesellschaft im Rahmen der »Missions civiles pour la protection du peuple palestinien« nach Palästina, um sich an die Seite der Bevölkerung in den besetzten Gebieten zu stellen und sie in ihrem Widerstand gegen die Besatzung zu unterstützen.



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