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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2004, Seite 16

Sharons »Rückzugsplan«

Nicht ernst gemeint

Vielleicht hatte Abraham Lincoln Recht mit seiner Auffassung, dass man nicht alle Menschen die ganze Zeit zum Narren halten kann, aber eine Menge Leute lässt sich sicher eine sehr lange Zeit an der Nase herumführen. Das zeigt uns Ariel Sharon.
Von Beginn an war der »Rückzugsplan« ein betrügerisches Unternehmen. Aber die Welt lässt sich gerne täuschen. Die Staatsmänner nehmen ihn ernst, er führt zu gewaltigen Turbulenzen in Israel, die Medien sind am Ball. Und das alles wegen eines Plans, der weder Hand noch Fuß hat.
Was ist der Zweck von diesem ganzen Chaos? Zyniker sagen: das Chaos selbst. Das Hauptziel der Übung besteht darin, George Bush zufrieden zu stellen. Der US-Präsident verlangte einen Plan, der ihn als jemanden hinstellt, der etwas für den Frieden tut. Je mehr er in den irakischen Morast gezogen wird, desto mehr muss er beweisen, dass er etwas in Israel erreicht. Besonders seitdem sein letztes Kind — die »Roadmap« — schon in der Wiege gestorben ist.
Bush verlangte, dass Sharon einen Plan vorlegt. Kein Problem. Simsalabim, da ist ein Plan, und er trägt einen vielversprechenden Namen: »Rückzug«. Reden, Versammlungen, ein Besuch im Weißen Haus, der Austausch von Dokumenten, Staatsbesuche, Botschaften, Mubarrak, Abdallah, Diskussionen, Kompromisse und schließlich eine ausgewachsene Kabinettskrise. Und das alles wegen einer Blase heißer Luft.
Der Plan gibt vor, drei Ziele zu haben: die Siedler aus dem Gazastreifen rauszubekommen, den Streifen unter palästinensische Verwaltung zu bringen und die dortige »terroristische Infrastruktur« zu zerstören.
Jüngst definierte Sharon selbst das erste Ziel in unzweideutiger Weise: »Ende 2005 wird kein einziger Jude mehr im Gazastreifen sein!«
Eine entschlossene, kühne und von Willensstärke zeugende Erklärung, wie sie einem großen Führer angemessen ist!
(Tatsächlich hat diese Stellungnahme eine leichte antisemitische Note. Warum sollte die palästinensische Regierung nicht friedliche Juden einladen, dort zu leben? Wäre es nicht angemessener gewesen zu sagen: »Kein Siedler wird im Gazastreifen bleiben«?)
Aber die entscheidenden Worte in der Erklärung lauten: »Ende 2005«. Sie erinnern an den klassischen jüdischen Witz über den polnischen Adligen, der seinen Juden mit dem Tode bedroht, wenn der seinem geliebten Pferd nicht das Lesen und Schreiben beibringt. Der Jude bittet um drei Jahre Zeit für die Erfüllung der Aufgabe. Als seine Frau davon erfährt, sagt sie: »Aber du weißt doch, dass du das einem Pferd nicht beibringen kannst.« Der Jude beruhigt sie: »Drei Jahre sind eine lange Zeit. Bis dahin ist das Pferd vielleicht schon gestorben — oder sein Herr.«
In unserem Land sind 18 Monate eine halbe Ewigkeit. Die Lage ändert sich binnen einer Woche. Vor dem Ablauf des Jahres 2005 kann viel passieren: eine Wahlniederlage für Bush, eine Katastrophe im Irak, und in Israel können blutige Ereignisse ein derartiges Ausmaß erreichen, dass jede Erinnerung an die Existenz eines »Plans« ausgelöscht wird.
Es ist klar, welche zentrale Rolle die Zeit für diesen »Plan« spielt. Tzipi Livni, die Ministerin für Immigration, bemühte sich um einen Kompromiss zwischen Sharon und seinen Gegnern. Sie erfand das Ei des Kolumbus neu: Die Regierung wird den Plan offiziell verabschieden, aber nicht seine Durchführung. Etwa neun Monate lang werden nur »Vorbereitungsmaßnahmen« getroffen. Nicht eine einzige Siedlung wird geräumt werden. Danach wird die Regierung entscheiden, ob überhaupt Siedlungen aufgelöst werden, und wenn, welche. (Die Gegner des Plans forderten daraufhin, dass die Regierung weiter Geld in die Siedlungen pumpen sollte, die zur Räumung vorgesehen waren.)
Die Tatsache, dass alle diese Vorschläge ernst nehmen, spricht für sich. Ein Plan, der angeblich im nächsten Jahr durchgeführt werden soll, kann genauso gut auch auf das nächste Jahrhundert verschoben werden.
Aber schauen wir uns den Plan selber an, als ob Sharon wirklich beabsichtigte, ihn in die Praxis umzusetzen. Er löst die Siedlungen auf und zerstört sie, die Armee verlässt den Gazastreifen, und irgendeine Art palästinensischer Verwaltung tritt in Kraft.
Wird dies Frieden bringen? Wird dies die Angriffe stoppen?
Es gibt keine Chance dafür, dass dies tatsächlich eintritt.
Das von allen palästinensischen Fraktionen vertretene Grundprinzip ist, dass das Westjordanland und der Gazastreifen eine integrale territoriale Einheit bilden. Dies wurde in der Osloer Erklärung explizit festgehalten sowie in allen darauf folgenden Abkommen. Entsprechend diesem Prinzip hat Yasser Arafat alle Vorschläge, die auf ein »Gaza zuerst« hinauslaufen, abgelehnt, solange nicht zumindest ein bedeutender Teil des Westjordanlands (z.B. Jericho) mit einbezogen ist.
Sharon weiß das und deshalb fügte er seinem Plan einen Anhang hinzu: Ein kleines Gebiet am Nordrand des Westjordanlands wird auch von den Siedlungen geräumt. Dort gibt es vier kleine Siedlungen, deren Bewohner bereit sind zu gehen (gegen großzügige Entschädigung, versteht sich). Kein Palästinenser wird eine solche Räumung ernst nehmen.
Es gibt nicht die geringste Chance, dass die Kämpfer gleich welcher palästinensischen Fraktion im »befreiten« Gazastreifen ruhig zusehen werden, wenn Sharon seine Pläne im Westjordanland verwirklicht: 55% des Westjordanlands werden durch Israel annektiert (»Siedlungsblöcke«, »wichtige Sicherheitszonen«, »Gebiete von besonderem Interesse für Israel«, wie es die Planer der Armee nennen), und die Palästinenser werden in kleinen Enklaven eingesperrt. Durch den Bau der monströsen »Trennungsmauer« wird dieser Prozess bereits rasch vorangetrieben.
Der »befreite« Gazastreifen wird unvermeidlich zu einer Basis für die Schlacht zur Befreiung des Westjordanlands. Die israelische Armee wird wie gewöhnlich darauf mit aller Macht reagieren, mit Invasion, Tötungen, Zerstörung und Vernichtung. Falls dies wie bisher nicht ausreicht, könnte Sharon die Versorgung mit Elektrizität, Wasser und Nahrung kappen. Da der Gazastreifen dann von der Welt isoliert sein wird, ist dies möglich. Ab es wird nicht gelingen, denn die Welt wird es sehen und die Amerikaner können sich das nicht leisten.
Die Militärplaner wissen das alles ganz genau und ihnen ist eine neue Patentidee gekommen: Man muss die Ägypter einbeziehen.
Brillant — so scheint es zumindest. Das ägyptische Regime lebt von großzügigen Geschenken der USA — der Lohn für die Unterzeichnung eines Friedensabkommens mit Israel. Der US-Kongress in seinem Bestreben, die Regierung Sharon zufrieden zu stellen, drohte kürzlich, die Zahlung von 200 Millionen Dollar an Ägypten auszusetzen. Es ist deshalb für Hosni Mubarrak wichtig, den Amerikanern zu zeigen, dass er Sharons Verbündeter ist.
Aber Mubarrak weiß, dass das für ihn ein Drahtseilakt ist. Ägyptens Verbindung mit dem Gazastreifen reicht mehr als 4000 Jahre zurück und kannte viele Aufs und Abs. Die Ägypter regierten im Gazastreifen nach dem Krieg von 1948 und werden daran nicht gerne erinnert. Mehr als einmal versuchten sie die Sache der Palästinenser zu kontrollieren und jedesmal endete dies mit ihrer Demütigung.
Wenn die Ägypter nun den Gazastreifen übernähmen und versuchten, den Kampf der Palästinenser für die Befreiung des Westjordanlands zu sabotieren, würden sie als Kollaborateure betrachtet und könnten Zielscheibe von Angriffen werden, die auf Ägypten übergriffen. Hamas hat dort mächtige Verbündete, die vor Gewaltakten nicht zurückschrecken.
Mubarrak wird sich hüten, im Gazastreifen Verantwortung zu übernehmen, besonders wenn Arafat nicht beteiligt ist. Deshalb hat Sharons Plan keine reale Grundlage. Alles in allem ist er nur ein Rezept für die Fortsetzung des Krieges in anderer Form.
Aber dies ist kein Grund zur Sorge. Sharon ist es nicht wirklich ernst damit. Er ist sich sicher: Ehe die Zeit für die Räumung auch nur einer einzigen Siedlung kommt, wird entweder das Pferd gestorben sein oder der polnische Edelmann hat das Ganze vergessen.

Uri Avnery

Der Autor ist Aktivist der israelischen Friedensbewegung Gush Shalom. (Übersetzung: Hans-Günter Mull.)



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