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Samba prägt die Musik Brasiliens im 20.Jahrhundert; im Schatten des Karnevals und der Favelas bedeutet Samba schon
in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine antirassistische Musik der Befreiung immerhin herrschte in Brasilien Sklaverei noch bis zum
Ende des 19.Jahrhunderts. In der Tradition des Samba, der nicht nur Musik, sondern auch und vor allem Lebensgefühl ist, formierte sich dann in den
frühen 60er Jahren die brasilianische Moderne, die neue Welle, Bossa Nova: die Harmonik des Jazz, die allerdings wesentlich zurückhaltender
gespielte Rhythmik des Samba und die Verbindung von E- und U-Musik prägten die weltberühmten Songs von Astrud Gilberto, João Gilberto,
Jorge Ben, Sergio Mendes und vielen anderen. »Garota de Ipanema« wurde als »Girl from Ipanema« zum meistgecoverten Song der
Welt.
Die kommunistischen Befreiungsbewegungen, die außerparlamentarische Opposition,
der antirassistische Kampf, die Rebellion der Jugend, die Revolten des Proletariats der spätkapitalistischen Industriegesellschaft, Aufbruch der Kunst und
Aufstand gegen die überkommene Kultur erreichten auch Südamerika, stießen in Brasilien allerdings auf ein merkwürdiges Klima der
Erneuerung einerseits, Restauration andererseits: Eine Militärregierung trat mit Gewalt an die Macht, um einen Feind zu bekämpfen, den es nur in
Form einer kulturellen politischen Bewegung gab: Eine merkwürdige Variante der Neuen Linken, die im Namen des Tropikalismus zum
revolutionären Programm erhob, was Brasilien dem Klischee nach ist: Sonne und gute Laune.
Die weiße Mittelklasse folterte ihre politischen Gegner oder verwies sie des Landes.
Zugleich kamen so aber die Einflüsse aus Jazz, Soul, Funk, mit den Schallplatten der Verbannten aus den Ghettos der USA nach Brasilien zurück,
jetzt in einer gefährlich tanzbaren Mischung aus Samba und Bossa Nova.
Unter dem Titel »Black Rio« geben zwei von DJ Cliffy zusammengestellte Vinyls
einen musikalisch-historischen Einblick in die 70er, das Jahrzehnt brasilianischer Soulmusik: Tanzbar, hörbar und vor allem kulturpolitisch höchst
interessant. »Was ursprünglich einfach als Ausdruck der universellen Kraft schwarzer Musik gemeint war, wurde zum Symbol des Kampfes der
zumeist armen schwarzen Brasilianer, die aus dem Ghetto heraustraten, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen«, wie DJ Cliffy in den
ausführlichen Linernotes resümiert.
Sechzehn Tracks sind zu hören, darunter Jorge Ben und Trio Mocoto (die letztes Jahr
durch Europa tourten), Gerson King Combo, Copa 7 und Toni Tornado. Eröffnet wird die Platte mit Gang Do Tagarelas Coverversion von
»Rappers Delight«.
Indessen braucht der Kapitalismus für ein rassistisches System keine Diktatur. Die
demokratische Variante des Rassismus, gerade im Verbund mit dem Aufstieg der Popkultur und dem ökonomischen Erfolg der dazugehörigen
Industrie, war der Hintergrund für die politische Bewegung der Schwarzen in den 60ern, organisiert in der Black Panther Party. Ihren Einfluss auf die
Popmusik dokumentieren zwei Platten, die Jonathan Fischer zusammenstellte. Dass die BPP-Hausband The Lumpen, Tower Of Power oder MC5 fehlen,
schmälert mitnichten das CD-Doppelpack in dem, was es ist: Ein guter Einstieg in die Soulmusik der 60er, vermittelt auch durch einige Remixe mit
politisch richtigen Absichten. 37 Tracks, darunter Syl Johnson, The Last Poets, Marvin Gaye und Curtis Mayfield. Und freilich Gil Scott-Herons »The
Revolution will not be Televised«.
Scott-Herons revolutionstheoretische Medienkritik gilt allerdings auch so: Zwar wird die
Revolution tanzbar sein, aber sie wird gewiss nicht auf den Tanzflächen der Bars und Clubs stattfinden, die mit ihrer Champagnerfröhlichkeit im
Krisentaumel der neuen und alten Ökonomie vorgeben, die kulturelle Avantgarde zu sein, wenn Bossa Nova seine zweite Mode erlebt: Die Revolution
findet nunmehr als Abendveranstaltung statt; der größte revolutionäre Akt ist die Ästhetisierung eines eigentlich nichtssagenden,
trostlosen Lebens, in deren Schein alle Politik und Geschichte verblasst: Das ist Mode.
Es soll der verstärkte Leistungszwang unter den Konkurrenzindividuen wenigstens
musikalisch im Sonnenlicht stehen, während im Spätkapitalismus schon lange nicht mehr die Sonne scheint; die Copacabana als
Glücksversprechen. Nicht mehr diszipliniert stumpfer Techno für die Angestellten, sondern sog. Loungemusik, Club-Tunes, brasilianisch
gefärbter NuJazz sollen über die verlorene Illusion hinwegtäuschen, dass am neuen Markt noch irgendwas zu holen ist: Für eine Nacht
lang beseitigt die Musik die Konkurrenz, die sich sowieso nicht lohnt. Die Krise des Individuums selbst wird zum Leitbild des neuen Subjekts.
Das Label Audiopharm reüssiert in diesem Klima mit zahlreichen Kompilationen.
Besonderen Erfolg hat die Reihe »Brazilectro«, von der es mittlerweile vier Ausgaben gibt. Auch hier gilt: die Verhältnisse zum Tanzen
bringen, indem ihnen ihre eigene Melodie vorgespielt wird. Koop, Fantastic Plastic Machine, Us 3, Azymuth und viele andere, darunter Mondo Grosso mit einer
sechzehnminütigen »Star Suite«.
Auch in dieser Mode steckt die Möglichkeit der Rettung: Sie besteht darin, den Mythos
Brasilien zu entzaubern. So macht es Arto Lindsay auf Invoke. Der in Brasilien aufgewachsene Musiker und Produzent hat zusammen mit Melvin Gibbs (Bassist
der Rollins Band) ein Album produziert, das Samba, Bossa Nova und zeitgenössische brasilianische Musik verbindet, eine Mischung, die mal an Tom
Zé, mal an Caetano Veloso erinnert, dann plötzlich in die für Lindsay typischen Geräuschattacken umschlägt; rhythmisch
komplex und fragmentarisch, aber nicht zerbrechlich, eben kein Rückzug in die Behaglichkeit der »Club Culture«.
Die Entzauberung dieses musikalischen Mythos heißt aber nicht nur Aktualisierung, also
historische Vergegenwärtigung, sondern bedeutet überhaupt, die Musik der Mode zu entreißen, sie zu historisieren. Das machen Beto Bianchi,
Letícia Coura und Vítor da Trindade unter dem bezeichnenden Titel »Revista do samba«. Dazu gehören Kompositionen von
Noël Rosa, Assis Valente, Ataulfo Alves; dazu gehört schließlich auch »Pelo Telefone« von Donga und Mauro de Almeida: Der Song
von 1916 gilt als »erster jemals aufgenommene Samba« und ist damit stilprägend.
Kaum ein Etikett ist so unpräzise wie »Brazil« oder »Latin«;
die vermeintlich auf bestimmter Rhythmik basierenden Musikformen und Genres sind selbst Resultat von Verschmelzungen, Überkreuzungen und
Querverbindungen. Sepultura, eine der bekanntesten Metal-Bands, kommt aus Belo Horizonte. Mitte der 70er arbeiteten Herbie Hancock oder George Duke auch
mit brasilianischen Musikern wie zum Beispiel Milton Nascimento, Gilberto Gil und anderen zusammen. Und es scheint, dass die lateinamerikanische Popmusik
hauptsächlich im Exil, in den Londoner Plattenstudios, oder wie etwa Salsa in den Ghettos New Yorks entstanden ist. Auch gibt es in Lateinamerika eine
lange und große Ska- und Punktradition, in die ein Sampler mit aktuellen Bands Einblick bietet, der zugleich Erstveröffentlichung eines neuen, auf
solche Musik sich spezialisierenden Labels ist: »Echt Übersee«.
Mit der Musik, die unter den Etiketten »Brazil« oder »Latin« firmiert,
wird nicht nur die soziale Krise kulturell behaglich gemacht; sie ist selbst Ausdruck der Krise, bleibt Illusion der Dekadenz als Ideologie des verleugneten
Widerspruchs. In den Linernotes und den Reviews wird die Produktion gefeiert, das Sampling, die kreative künstlerische Idee, der Mix, ohne Einblick in
die ökonomischen Strukturen und Bedingungen zu geben, unter denen ein DJ arbeiten muss. Als Garantie für die künstlerische Qualität
der Produktionen preisen die Plattenlabel die Illusion des ökonomischen Erfolgs gleich mit an, auch wenn er fast schon zwangsläufig
ausbleibt.
Eine fast paradoxe Situation, weil die Krise der New Economy, die solche Musik zum
Soundtrack ihres kruden Lifestyles erklärte, eben auch eine Krise der Kulturindustrie ist, die als Hauptsegment der New Economy fungierte. Bossa Nova
und dem verwandte Musik wurde übrigens schon in den 60er Jahren von der Firma Muzak ins Programm aufgenommen, um als Fahrstuhl- und
Kaufhausmusik für entsprechende Gemütlichkeit für die Konsumenten zu sorgen. Dass die Musik schon damals in Brasilien einen ganz
anderen Stellenwert hatte, spielte damals sowenig eine Rolle wie heute.
Die Musik ist gut (oder wenigstens gute Geschmackssache); die Orte, an denen diese Musik
und ein vermeintlich mit ihr verbundener Lebensstil gepflegt werden, grauenvoll. Das macht es einmal mehr nötig, die Musik gegen diejenigen zu
verteidigen, die sie für sich reklamieren. Solche Verteidigung ist jedoch wesentlich eine Angelegenheit der politischen Praxis, der Konfrontation, und
keine Entscheidung, die über die Plattensammlung gefällt wird.
Brazil, Latin, Soul, NuJazz und wie die Moden auch immer heißen mögen,
verlieren ihren affirmativen Charakter dadurch, dass dialektisch beides zum Gegenstand praktischer Kritik wird. Die Verhältnisse, die solche Musik
affirmiert, und der affirmative Charakter selbst, die spätkapitalistische Ideologie. Gleichwohl lässt sich das Recht auf Unterhaltung nicht
abschlagen; das wurde etwa in Brasilien zu Beginn der 70er Jahre mit dem schönen Begriff des »Tropikalismus« beschrieben. Solcher
Tropikalismus ist fällig, um den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorzustellen, als Weckruf des realen Humanismus.
Roger Behrens
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